29.11.2004

AKW Neckarwestheim
"Blankes Entsetzen"

Die Stuttgarter Zeitung gelangte an brisante geheime Gesprächs-Protokolle
AKW-Chefingenieur wurde wegen Sicherheitsbedenken entlassen
"Schwarz-Gelb" und "Rot-Grün" schwiegen sich die Lunge aus dem Leib

Am 30. Juni 2004 besuchte der Vorstands-Chef der EnBW Utz Claassen das AKW Neckarwestheim und führte Gespräche mit technischer Leitung und Management. Eberhard Grauf, Leiter eines der beiden Reaktorblöcke im AKW Neckarwestheim, wurde zwei Tage nach dem Besuch Claassen unvermittelt gefeuert. Lange wurde über die Hintergründe gerätselt.

Im Juli versuchten sowohl der zuständige baden-württembergische "Umwelt"-Minister Stefan Mappus als auch der Strom-Konzern und AKW-Betreiber EnBW die Fragen zunächst mit Schweigen auszusitzen. Dann, als Chef-Ingenieur Grauf gegen die Entlassung klagte, nannte die EnBW Gründe: Es habe ein "gravierendes Zerwürfnis" mit dem AKW-Management gegeben, der Reaktor-Chef sei ein "querula- torischer" Typ, seine "verbalen Ausfälle" gegen Vorgesetzte könne man nicht dulden. Die Arbeitsrichterin hielt die Begründung für reichlich dünn; doch sie konnte die Vorgänge nicht mehr klären: Grauf und die EnBW einigten sich außergerichtlich.

Daraufhin aktivierte auch Mappus alle Nebelwerfer professioneller Desinformation: Öffentlich forderte er von EnBW "detaillierte Auskunft", um dann per Pressemitteilung zu bestätigen, daß es über das Problem der Reaktorsicherheit "zu keiner Zeit unterschiedliche Auffassungen gegeben" habe. Dann vernahm die Atomaufsicht Chef-Ingenieur Grauf und weitere Teilnehmer der Besprechung. Das offizielle Ergebnis: Es gebe "keinerlei Anhaltspunkte" dafür, daß ein Streit über Sicherheitsfragen zur Trennung führte. Anfang November mußte die Befragung auf Wunsch des Bundes-"Umwelt"-Ministers Jürgen Trittin wiederholt werden. Eine weitere Bestätigung: "Fragen des sicheren Betriebs", wurde den Medien mitgeteilt, hätten bei dem Rauswurf keine Rolle gespielt. Damit sollte der leidige Fall endgültig zu den Akten gelegt werden.

Gras schien über die Sache zu wachsen. Mappus hatte gute Arbeit geleistet und lobte sich selbst. Bei der Atomaufsicht, erklärte Mappus kürzlich bei einem Festvortrag, habe er in wenigen Monaten "einige neue Akzente gesetzt". Besonders wichtig sei ihm, daß die Aufsichtsbehörde - also sein Haus - "transparent arbeitet" und eine "aktive Öffentlichkeitsarbeit" betreibe. Man habe es schließlich mit kritischen Medien zu tun.

Doch dann flogen der 'Stuttgarter Zeitung' brisante geheime Protokolle der Befragung zu. Und die besondere Pointe: Von diese Protokolle hatten sowohl das baden-württembergischen als auch dem Trittinschen "Umwelt"-Ministerium Kenntnis. Sie zeichnen ein völlig anderes Bild der Vorgänge: Entgegen allen Dementis ging es bei Graufs Vortrag vor Claassen und der Managerrunde in erster Linie um Fragen der Reaktorsicherheit. Und da äußerte sich der langjährige Chef-Ingenieur äußerst kritisch über den Kurs des Strom-Konzerns.

Thema seiner Ausführungen waren die Konsequenzen aus den schweren Sicherheitsverstößen 2001 im AKW Philippsburg. Dort war ein Reaktor nach der Revision wieder angefahren worden, obwohl das Notkühlsystem nicht ordnungsgemäß zur Verfügung stand - ein "Blindflug" mit Folgen. Bei der EnBW mußten zwei Vorstände gehen, der damalige "Umwelt"-Minister Ulrich Müller geriet an den Rand des Rücktritts, wochenlang stand der Atommeiler still. Erst als der damalige Konzern-Chef Gerhard Goll ein neues Sicherheitsmanagement versprach, durfte der Betrieb weitergehen.

Aus dem Debakel, mußte Golls Nachfolger Claassen nun von Grauf hören, habe man nichts gelernt. Das zeige ein Vorfall vom Frühjahr 2004, als in Philippsburg leicht radioaktives Wasser ausgetreten war. Wieder hätten mehrere Barrieren nicht gegriffen, wieder seien - angeblich beseitigte - Organisationsdefizite die Ursache gewesen. Wenn Claassen den Vorfall mit dem Hinweis relativiere, das Wasser wäre sogar trinkbar gewesen, verkenne er die Tragweite. Mühsam aufgebautes Vertrauen werde auf diese Weise wieder zerstört - nach dem Motto: "Ein Schritt vor, zwei Schritte zurück". Der technische Leiter des AKW Philippsburg, Hans-Josef Zimmer, wies die Vorwürfe entrüstet zurück. "Es mußte der Eindruck entstehen, als sei Dr. Zimmer unfähig", berichtete ein Zeuge.

Aber auch mit dem neuen Sicherheitsmanagement ging Grauf hart ins Gericht. Die verschärfte Aufsicht habe dazu geführt, daß die Ingenieure vorrangig "paperwork" - Papierkram - verrichteten. Dafür fehlten sie im operativen Geschäft, wo man sie eigentlich dringender benötige. Unterm Strich werde die Situation "eher schlechter als besser". Was die EnBW auf Druck der Politik eingeführt habe, fuhr Grauf fort, seien "Alibi- und Beruhigungsinstrumentarien". Damit wecke man Erwartungen, die zu "immer größeren Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit" führten. "Im Anschluß an diese Darlegungen herrschte blankes Entsetzen", gab der kaufmännische GKN-Geschäftsführer Wolfgang Heni zu Protokoll.

Doch Grauf war noch nicht am Ende. Erst äußerte er sich zum Problem von "Innentätern", also Saboteuren in den eigenen Reihen: Allein mit einem Schraubenzieher könne ein Schichtleiter einiges Unheil anrichten. Kollegen hätten widersprochen, hieß es später, aber "Professor Claassen war hiervon völlig verschreckt". Dann schilderte er die Stimmungslage in der Belegschaft: Auf allen Ebenen herrsche Frust wegen unzumutbarer Arbeitsbelastungen. Der "Götz-von-Berlichingen- Standpunkt" habe inzwischen "in einem für den sicheren Betrieb eines Kernkraftwerks bedenklichen Maß um sich gegriffen".

Die Runde war konsterniert. Eine solche Generalabrechnung, noch dazu in Anwesenheit des Konzern-Chefs, hatte niemand erwartet. Claassen verabschiedete sich mit dem süffisanten Hinweis, die Neckarwestheimer müßten "in Managementfragen noch etwas nachlegen". Dann entschieden die Zurückgebliebenen, nun führe an einer Trennung von Grauf aber nichts mehr vorbei. Seine Kritik sei "destruktiv" und grob illoyal.

Gleich, wie berechtigt die Kritik des Chef-Ingenieurs war, ist doch verblüffend, wie sowohl das Stuttgarter als auch das Berliner "Umwelt"-Ministerium in Kenntnis dieser Vorgänge monatelang behaupteten, der Rauswurf Graufs habe mit dem Thema Sicherheit nichts zu tun gehabt. Von der 'Stuttgarter Zeitung' mit den wider Erwarten publik gewordenen Fakten konfrontiert, reagierte Mappus recht einsilbig: Man bleibe bei der bisherigen Darstellung, ließ er seinen Sprecher ausrichten. "Richtig ist aber auch", räumte er erstmals ein, "daß Dr. Grauf in dem Gespräch am 30. Juni in GKN Sicherheitsfragen kritisch angesprochen hat. Dies hat aber nicht zur Kündigung geführt." GKN, also Gemeinschaftskraftwerk, wird das AKW Neckarwestheim im Bürokraten-Jargon zur Vermeidung des Kürzels "AKW" gerne genannt.

EnBW vermied eine klare Stellungnahme und ließ verlauten: Die bisher genannten Gründe gälten unverändert. Und Trittin meinte, sich hinterher besonders schlau hervortun zu können, indem er erklärte: "Die Befragung war aufschlußreich."

 

Klaus Schramm

 

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