Die geostrategische Rolle Deutschlands hat sich durch
                  den Kosovo-Krieg verändert. Aber wie? 
                  Im März 1999 demonstrierte Deutschland seine wieder- gewonnene nationale
                  Souveränität. Politik, Militär und Bevölkerung erwiesen sich als
                  kriegstauglich. 
                  Ob man den Weg zu diesem Ziel als rasend schnell zurückgelegt, oder als
                  besonnen und umsichtig beschreibt, hängt wohl vom apologetischen oder
                  kritischen Standpunkt des Betrachters ab. Planerische Zielstrebigkeit ist an
                  drei Komponenten, die diese historische Zäsur so reibungslos ermöglichten,
                  zu bebildern. 
                  Erstens wäre da das - manchmal nur symbolische - Mitmachen, wie es
                  etwa in der Entsendung deutscher Kriegsschiffe ins östliche Mittelmeer
                  während des Iran-Irak-Kriegs zelebriert wurde, oder in der Verlegung einer
                  Jagdbomberstaffel in die Türkei, um dort einen - nie geplanten - irakischen
                  Angriff auf den NATO-Partner abwehren zu helfen. Auch
                  Bundeswehrangehörige auf Rücksitzen von AWACS-Aufklärern hatten
                  militärisch kein großes Gewicht. Selbst bei den Einsätzen in Kambodscha
                  (91-93), in Somalia (93-94) und Ruanda (94) war der von General Bernhard
                  betonte Aspekt, »wieder zur Familie« zu gehören, gewichtiger als jede
                  reale Effizienz. Für Verteidigungsminister Rühes Maxime, »Normalität Schritt
                  für Schritt durchzusetzen«, wurde manchmal berufsfremd geschaufelt und
                  gehämmert, statt gebombt und geschossen. Von anderer Dimension war
                  der 1995 gefasste Beschluss der Beteiligung an der schwer bewaffneten
                  IFOR-Truppe und 1997 an der Nachfolgemission SFOR. Hier wurde die letzte
                  aus deutscher Historie abgeleitete Restriktion, »dass wir aus Gründen
                  geschichtlicher Erfahrung keine deutschen Soldaten, also Bodentruppen, in
                  das frühere Jugoslawien« schicken (Kohl, 19. Dezember 94) beseitigt. Im
                  Rahmen dieses Einsatzes wurde endlich auch geschossen, auf dem
                  Flughafen von Tirana, eine Evakuierung sichernd; großartig, tapfer, präzise
                  - wie alle Medien berichteten. 
                  Im gleichen Zeitraum wurden materielle, militärdoktrinäre und rechtliche
                  Veränderungen vollzogen, an denen abzulesen war, dass die Ambitionen
                  das schon Praktizierte weit überschritten. Beispielhaft zu nennen wären
                  hier die von Verteidigungs- minister Stoltenberg eingeführten »modifizierten
                  Doktrin« (92), die die Bundeswehr als »politisches Instrument zur
                  Sicherheitsvorsorge« beschrieb und, weil Vorsorge ein weltweites Projekt
                  ist, logisch zur Aufteilung der Armee in »Hauptverteidigungskräfte und
                  Krisenreaktionskräfte« führte. Die Debatte mündete in den neuen
                  »Verteidigungspolitischen Richtlinien«, die das alte Wort vom
                  Bündnisinteresse durch das »nationale Interesse« ersetze, welches durch
                  die »Aufrechterhaltung des freien Welthandels und den ungehinderten
                  Zugang zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt« gekennzeichnet sei, also
                  demonstrativ unrealistisch, utopisch (»ungehindert«) ist. 
                  Das Bundesverfassungsgericht goss dann, im Sommer 1994, die imperialen
                  Notwendigkeiten in ein Urteil und erklärte weltweite
                  Bundeswehrkampfeinsätze im Rahmen der UNO, auch unter Federführung
                  von NATO und WEU, für verfassungskonform. 
                  Zweitens avancierte Jugoslawien zum bevorzugten Objekt dämonisierender
                  Propaganda und Experimentierfeld deutscher Übungen, auch im Alleingang
                  außenpolitische Vorstöße zu wagen. Die Transformation von einem eher
                  sympathischen Staat, der sich so bewundernswert tapfer unabhängig von
                  Moskau hält, seinen Untertanen Reisefreiheit gewährt und eine nette
                  Olympiade zu veranstalten vermag, in ein Völkergefängnis mit serbischen
                  Aufsichtspersonal, war eine Demonstration der Wirkungsmacht
                  ideologischer Apparate und des Funktionierens manipulativer Techniken.
                  Genschers »mit jedem Schuss rückt die Unabhängigkeit näher« und die
                  Anerkennung Sloweniens und Kroatiens ohne Abstimmung mit den
                  europäischen Partnern waren schon die Verwirklichung dessen, was einige
                  Jahre zuvor, als noch die Unverletzlichkeit der Grenzen beschworen wurde,
                  als Spleen eines rückwärtsgewandten »FAZ«-Herausgebers gegolten hatte.
                  Man wusste sich in Kroatien gefeiert, hatte erstklassige Kenntnis der
                  »Volksdruckverhältnisse« bewiesen, musste aber im weiteren Verlauf
                  schlucken, dass die USA der bosnischen und kroatischen Armee die
                  materiellen Mittel zur Verfügung stellte, mit denen Jugoslawien Territorien
                  entrissen oder die Serben aus der Krajina vertrieben wurden. 
                  So diktierte die militärische Hauptmacht den Vertrag von Dayton, der
                  manchem deutschen Politiker zu viel Arrangement mit den Serben zu
                  enthalten schien, was in der Aufforderung mündete - damit nicht Schluss
                  sei mit Zerstückelung - nun endlich den »Scheinwerfer auf das Kosovo zu
                  richten« (Kinkel). Hier hatte sein Geheimdienst eine UCK (mit-)aufgebaut,
                  die in Deutschland schon Befreiungs- bewegung hieß, als man sie in anderen
                  Zentren noch Terroristen nannte. Im Sommer 1998 beklagte die deutsche
                  Außenpolitik, manch NATO-Partner ließe es an Ernsthaftigkeit für ein
                  »militärisches Vorgehen im Kosovo« missen und stellte sich stramm gegen
                  Überlegungen, die Waffenzufuhr Richtung UCK durch eine Kontrolle der
                  albanischen Grenze zu minimieren. 
                  Drittens war, der konkreten Einstimmung auf einen Krieg meines Erachtens
                  gleichgewichtig, ein allgemeines Klima inszeniert, das Gerede der
                  erwachsenen, der selbst- bewussten, der ihre gewachsenen Verantwortung
                  in der Welt gerecht werdenden Nation. Dem Partner in Leadership. 
                  So wurde zum Gemeinplatz, dass die zurückliegenden, berechenbaren
                  Zeiten zwar Wirtschaftskraft und Wirtschaftsmacht gemehrt hätten, aber
                  irgendwie doch auch fad gewesen seien. Selbst über Helmut Kohl, dessen
                  Außenpolitik doch von Schröder und Fischer Kontinuität versprochen
                  wurde, bekam manch ungerechtes Urteil über sich verhängt. Er sei,
                  schreibt 1999 der »Spiegel« im Rückblick auf Deutschlands Geschichte
                  nach 45, nie mehr gewesen als »der Biedermann in einer idyllischen
                  Republik«, ein echter Langweiler, »verlässlich und unbedrohlich nach
                  außen, beweglich und banal nach innen«, der »Repräsentant für die
                  drückebergerische Maskerade als prosperierende Provinz«. Das ist, wie
                  gesagt, ungerecht, verrät aber die Lust in bestimmten Kreisen, es möge
                  richtig »loooos«gehen. 
                  Das ging's dann auch. 
                  Die Werte von Schröder, Scharping, Fischer stiegen auf der
                  Beliebtheitsskala, die Propaganda erklomm höchste Gipfel. Sie führte
                  allerdings nicht zu einem fanatisierten Mob. Die Grundstimmung in der
                  breiten Bevölkerung, wie man sie als Anti-Kriegs-Demonstrant in
                  Fußgängerzonen trifft, war erstaunlich ignorant und gelassen. Kein Gepöbel
                  wie bei anderen Anlässen, zum Beispiel antirassistischen Manifestationen,
                  üblich. Das Phänomen hat sicher damit zu tun, dass alle Parteien integere
                  Bedenkenträger abstellten: Wimmer, Voscherau, Schmidt, Dregger.
                  Zweitens hatten die Grünen sich verständigt, einander höchstmoralische
                  Gründe für jede Position zu bescheinigen, und selbst Generäle hatten den
                  grünen Debatten gesellschaftliche Bedeutung attestiert, freilich
                  hinzufügend, dass diese ohne Einfluss auf die reale Kriegsführung seien.
                  Trotz einiger harscher Worte Richtung Gysi, hatten weder die einen noch
                  die anderen Sozial- demokraten ein Interesse, das Maß
                  demokratisch-pluraler Meinungsverschiedenheiten zu gefährden. Man stritt
                  wie die Völkerrechtsexperten stritten, den kollegialen Respekt nie
                  verlierend. 
                  Außerdem - kein unwichtiger Faktor für Stimmungen in Fußgängerzonen -
                  waren die Nazis mehrheitlich gegen den Krieg, der ihnen kein authentisch
                  deutscher war. So spürte der autoritäre Charakter die geschlossene
                  Unbedingtheit, die ihm Sicherheit und Ansporn bietet, nicht. 
                  Die ignorante Gelassenheit hat einen zweiten Grund. Was vor dem Golfkrieg
                  noch unbekannt war, wurde durch ihn offenbar. Kriege dieser
                  Größenordnung werden ohne relevante Auswirkungen auf das Heimatland
                  des Aggressors geführt. 
                  Im Golfkrieg wurden 190.000 irakische Soldaten getötet, die USA verloren
                  126 GIs. Weder im Krieg gegen Jugoslawien noch während der
                  Besatzungszeit starb auch nur ein deutscher Soldat durch Feindeinwirkung.
                  Die unvermeidlichen Soldatenmütter haben grundlos demonstriert. Die
                  Frage nach Gesundheitsschäden deutscher Soldaten durch Uranmunition
                  bebildert nur die Gleichgültigkeit gegenüber realen Opfern, auch den
                  albanischen übrigens, die ihren vorübergehenden Wert als Ware leidender
                  Mensch längst eingebüßt haben. 
                  Die Gelassenheit gegenüber einem Angriffskrieg, der das Betätigungsfeld
                  einer Berufsgruppe - der Soldaten - ist, findet ihre Entsprechung in der
                  Resistenz gegen alle Enthüllungen von Propagandalügen, die den Krieg
                  legitimierten. 
                  Oft wird der Bürger bei solchen Vorgängen nicht betrogen. Er nimmt nur ein
                  aus anderen Zusammenhängen bekanntes Gewohnheitsrecht in Anspruch,
                  dass der Staat seine inhumansten Maßnahmen als Wohltaten kostümiert,
                  auch um den zustimmenden Untertanen die Ausreden zu servieren. Man
                  hilft den armen Ländern beim Wirtschaftsaufschwung, indem man keine
                  Flüchtlinge in Deutschland duldet; zu viel Entwicklungshilfe entmündigt;
                  durch Arbeitsdienst erlangt der Sozialschmarotzer seine Würde zurück; ein
                  Massaker in Racak war uns unerträglich, ein Hufeisenplan zwang uns zum
                  Einschreiten. Man zwinkert einander komplizenhaft zu. Das gilt auch für das
                  anspruchsvollere Segment, welches von Habermas und Diedrichsen,
                  Goldhagen, Kraushaar und Heer Bedienung verlangte. 
                  Verlässt man den dort angebotenen Himmel der Ideologien, können einige
                  elementare Schlüsse gezogen werden: Die schon beschriebene
                  »Unverwundbarkeit des Aggressors« - stets ist sie auch Dementi der vor
                  dem Krieg behaupteten militärischen Macht des Feindes - hat heute noch
                  eine Bedingung. Voraussetzung ist, dass die USA einen Teil ihrer
                  Militärmaschinen einbringt, materiell die Führungsposition im Krieg besetzt.
                  Diese Tatsache produziert jede Menge Handlungsbedarf der subalternen
                  Partner. Dazu später. Für Kriege dieser Art bedarf es also gegenwärtig
                  einer Interessenidentität, oder zumindest weitreichender Überschneidungen
                  der Interessen. 
                  Die allgemeine Botschaft des Kriegs, dass es die NATO gibt, die im
                  Bedarfsfall Staatsschutzgarantien zu nehmen und zu geben vermag, dass
                  also zum Beispiel von Russland als Bündnispartner oder Patron weniger zu
                  erwarten ist, wurde ergänzt durch die ebenso demonstrative wie
                  absichtsvolle Bombardierung der chinesischen Botschaft. Den gleichen
                  Zweck verfolgt die Missachtung der UNO, des Völkerrechts, ein Sitz im
                  Sicherheitsrat war im Konkreten wertlos. 
                  Wo nicht moralisiert wurde, wo sogar die Sorge bestand, zu viel Moral
                  könne sich als zukünftiges Hemmnis bei der Wahrnehmung materieller
                  Interessen erweisen, wurden die Zwecke keineswegs geheim gehalten.
                  Zum Beispiel in der »FAZ«: »Wer im Namen der internationalen Stabilität die
                  Hegemonie in der Welt beansprucht, muss irgendwann damit beginnen, sie
                  zu demonstrieren - mit oder ohne Rücksicht auf das Völkerrecht.« Es gehe
                  immerhin um die geoökonomische Verknüpfung der westlichen
                  Schwarzmeerküste (...) für den Transport russischer, kaukasischer oder
                  auch zentral- asiatischer Energieträger.« 
                  Auch Clinton erläuterte den wichtigsten Chefredakteuren seines Landes
                  den weit über Jugoslawien hinausweisenden Anspruch, eine Region
                  gewaltigen Ausmaßes zu ordnen. Jugoslawien sei »kein Einzelfall« sondern
                  Mosaikstein. »Ein Großteil der früheren SU steht vor ähnlichen
                  Heraus- forderungen, darunter Südrussland, die Kaukasusnationen (...) sowie
                  die neuen Nationen Zentralasiens.« Nicht zu übersehen war bereits
                  während des Kriegs, dass Deutschland eine weniger scharfe Frontstellung
                  gegen Russland anstrebt. Einige mit den USA geteilte Interessen, zu denen
                  zum Beispiel die Osterweiterung der NATO gehört, werden konterkariert von
                  deutscher Ambition, Russland als Energielieferanten zu stabilisieren, also
                  weniger krass von Quellen abzuschneiden und als Transportkorridor zu
                  eliminieren, wie es amerikanische Zielsetzung ist. 
                  Bei mittelprächtiger Ernsthaftigkeit hätte der Krieg gegen Jugoslawien, das
                  in seiner Folge entstehende Protektorat und die geopolitischen
                  Weiterungen, die Clinton von »kein Einzelfall« sprechen ließen, zur
                  Beerdigung der modischen »Theorie« der neunziger Jahre führen müssen.
                  Sie bestand in der Bescheidwisserei, dass alle Staaten einen enormen
                  Bedeutungsverlust erlitten hätten, ihren Bestrebungen also nur noch
                  geringe Aufmerksamkeit gebühre. »Es ist richtig, dass es weitgehend
                  irrelevant ist, ob und wie die BRD jetzt Weltmacht geworden ist, weil sie in
                  einem Kontext agiert, der von den internationalen Finanzmärkten und von
                  200 Weltkonzernen bestimmt wird.« Der Gedanke, dass die Weltkonzerne
                  eines ihren Geschäften bahnbrechenden Staats bedürfen, der dabei eben
                  auch anders national fundierten Konkurrenten den Zugang versperrt, war
                  ebenso obsolet, wie die einst bekannte Wahrheit, nach der Finanzmärkte
                  auf die in diesem Prozess sich als Sieger und Besiegte erweisende
                  reagieren. 
                  Aus falscher Prämisse folgt stets ein noch falscherer Schluss, der sich
                  damals so präsentierte: »Für die Finanzmärkte wird (...) eine Politik der
                  langfristigen globalen ,Friedenssicherung’ vordringlich, um internationale
                  Weiterungen der (...) ,Ethnisierung des Sozialen’ zu verhindern.« 
                  Man könnte den Mantel des Schweigens über ältere Dispute legen,
                  erwiesen sich die »Theorien« nicht als von aller Wirklichkeit
                  unbeeindruckbar, wie man im »Schwarzbuch Kapitalismus« nachlesen kann,
                  wo die »so genannte Außenpolitik keine hohen Wellen mehr« schlägt, weil
                  »das Ende des alten Imperialismus« gekommen ist und deshalb »in der
                  entkoppelten Sphäre der Nicht-Orte territoriale Herrschaft sinnlos (wird), in
                  welcher Form auch immer«. 
                  Und in Seattle oder Prag beklagen die Demonstranten die »Schwäche der
                  Staaten« und flennen, dass den »Nationalparlamenten die Macht
                  entrissen« sei. 
                  Was im Jugoslawien-Krieg vielen als erträgliche Pluralität unter linken
                  Kriegsgegnern erschien, barg Antagonismen, die heute, man betrachte die
                  unversöhnlichen Positionen zum Nahost-Konflikt, offenbar sind. 
                  Die PDS-»Zeitung gegen den Krieg« warf der politischen Chefetage vor,
                  »sie lassen sich zu Vollziehern amerikanischer Außenpolitik machen«; die
                  »Junge Welt« ergänzte, »Satellitenstaaten, die so genannten
                  NATO-Verbündeten, werden in bester Gangstermanier zu Komplizen
                  gemacht«, und Tage später waren die Komplizen schon keine mehr, denn
                  »auch die Deutschen sind NATO-Opfer«. Da war viel Schulterschluss mit
                  CDU-Wimmer und Augstein - und Walser eignete sich als Kronzeuge erneut.
                  Wer, wie zum Beispiel die »Junge Welt«, heute EU und Deutschland als
                  Gebilde sehen, die von den »USA erst noch in die Unabhängigkeit
                  entlassen« werden müssten, kommt zwangsläufig bei
                  zwischenimperialistischen Konflikten zur Parteinahme. Übrigens mit
                  Methoden, die denen der Grünen nicht unähnlich sind, wie man an der
                  Kampagne zur Beendigung der Irak-Sanktionen erkennt. Purer Humanismus
                  wird jenen bescheinigt, die der amerikanischen Ordnungspolitik mit eigenem
                  Kalkül entgegentreten. Sehnsüchte erfüllten sich, käme es zur
                  Stationierung internationaler Truppen in palästinensischen Gebieten. Im
                  Namen der Völkergemeinschaft die Juden in die Schranken verweisen, das
                  verdiente den Namen Friedensmission. 
                  Ein Teil der antideutschen Linken hat sich nicht darauf beschränkt, den
                  Nationalismus der patriotischen Strömung zu kritisieren und Deutschlands
                  aktiven Anteil an der Zerschlagung Jugoslawiens zu betonen, sondern
                  Deutschland Potenzen angedichtet, die es nicht besitzt. Thomas Becker
                  sah in der Jungle World die USA »in die Falle getappt«, von Deutschland
                  verführt zu einem Krieg, den sie »nicht nur nicht gewollt hatten« und den
                  sie »nicht gewinnen können«. Jürgen Elsässer entdeckte die »Falle von
                  Rambouillet«, in die die tapsige Diplomatie der Amis gelockt worden sei, und
                  Hermann Gremliza erblickte »die notarielle Beglaubigung, dass nach der
                  Sowjetunion die USA der zweite Verlierer der weltpolitischen Wende
                  geworden sind«. Wer so schreibt, hat sich von jeder Analyse ökonomischer
                  Kräfteverhältnisse und militärischer Schlagkraft verabschiedet. Oft ist auch
                  Hoffnung im Spiel, andere Nationen könnten deutsche Vorgehensweisen
                  »aus historischen Gründen«, zum Beispiel der Entstehungsgeschichte ihres
                  Nationalstaates, nicht kopieren, also »nie« das Ziel verfolgen, »bestehende
                  Staaten zu zerstückeln und dem ,Sezessions- recht’ nationaler Minderheiten
                  zum Durchbruch zu verhelfen« (M. Künzel). So viel Tragkraft besitzt
                  Geschichte nicht, was kein Argument ist, deutsche Kontinuitäten zu
                  ignorieren. 
                  Eine Tiefpunkt »antideutscher« Regression bot die »Bahamas«. Kämpferisch
                  wurde hier verfochten, dass aus einer für die Kapitalzwecke »definitiv
                  unbrauchbar gewordenen Welt« jedes Subjekt verschwunden ist, das »kühl
                  Vor- und Nachteile abwägt«. Jetzt pissen sich alle irgendwie selbst ans
                  Bein, denn (den Bombenopfern in Belgrad zum Trost) »der Krieg in
                  Jugoslawien ist einer der Aggressoren gegen sich selbst um nichts«. Da
                  kann man nur noch »Wahnsinn« murmeln, wenn man zum Beispiel bedenkt,
                  »dass absolut niemand nach Bahn vordringen will, aber es durchaus möglich
                  ist, dass plötzlich alle so tun, als ob sie es wollen, nur um damit zu zeigen,
                  dass sie es könnten«. In Bahn, am Kaspischen Meer, eigentlich im
                  gesamten Nahen Osten ist nichts zu holen, denn nur »der Fetisch des
                  Dinghaften, lässt übers Erdöl phantasieren, dessen Preis auf dem
                  Weltmarkt den von Limonade schon längst unterboten hat«. 
                  So verschwindet die Bedeutung des Erdöls für die kapitalistische
                  Wirtschaft, also auch die Bedeutung, wer es ausbeutet, Transportkorridore
                  sichert, zu diesem Zweck Staaten zerschlägt oder in Schurken und
                  Sicherheitsanker unterteilt - man könnte das alles auch für Limonade
                  veranstalten. Die Entfernung von jeder Materialität ist der Produzent
                  spektakulärer Thesen. Wenn Öl Limonade ist, ist eben die PLO die UCK.
                  Manchmal ist die Verzweiflung über den Irrsinn der Welt so groß, dass man
                  aufräumen möchte, zum Beispiel mit Palästinensern, deren Wahn man
                  genau erforscht hat und deshalb weiß, wie leicht ihnen das Sterben fällt. 
                  Auch Linke, die sich nicht gänzlich vom Materialismus verabschiedet haben,
                  neigen dazu, aus tagespolitischen Erscheinungen viel zu weitreichende
                  Schlüsse, manchmal ganze »Welterklärungsmuster«, zu ziehen. Erinnert sei
                  zum Beispiel an das Jahr 1997, als Deutschland auf den EU-Gipfeln in Dublin
                  und Amsterdam einige Konzessionen machen musste. Was Kompromisse
                  einer umsichtig ihre Vormachtstellung erweiternden Macht waren, wurde zu
                  »Schlappen (...), die das deutsche Finanzkapital einstecken musste«
                  stilisiert, und »das macht das ganze Projekt (der Einheitswährung) für Linke
                  sympathisch«. Dem Euro wurde angedichtet, er beschere »den Deutschen
                  klassen- übergreifend (!) Einkommensverluste«, und in seiner Befürwortung
                  beweise man, dass »das internationale Proletariat die Referenzgröße linker
                  Politik ist« (Jürgen Elsässer). Der Unfug hat sich dann verflüchtigt. 
                  Auch eine europäische Militärmacht, die den Euro als Grundlage benötigt,
                  vollzieht sich als konfliktueller Prozess, und es ist kaum vorherzusagen,
                  wann sich die »Europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität« (ESVi)
                  faktisch realisiert. Man denke etwa an die sehr weitreichende Erklärung der
                  Regierungschefs Frankreichs und Großbritanniens in St. Malo (98) und die
                  Ernüchterung, die sich darin ausdrückt, dass drei Jahre später
                  Großbritannien den Irak bombardiert - und Frankreich sich entrüstet zeigt.
                  Herr Solana, der hohe Vertreter für die gemeinsame Außen- und
                  Sicherheitspolitik der EU, kennt mehrere solcher »Probleme«. Sie heben die
                  Tendenz nicht auf. Was Daimler-Chef Schrempp, die Rennfahrt-Allianz
                  vorstellend, als »Sternstunde« bezeichnete, »wir wollen die Position zwei
                  angreifen, dann die Nummer eins und könnten am Ende die Sieger sein«,
                  wird auf vielen Gebieten versucht. Noch geht es um Aufholen, nicht
                  Überholen, wenn es um EU-Verabredungen über strategische Aufklärung,
                  strategischen Lufttransport, Informations- und Kommuni- kationstechnik,
                  zielsuchende Munition, Abstandswaffen und Marschflugkörper geht. Halt all
                  die Sachen, mit denen die Amerikaner vor zwei Jahren ihre Überlegenheit
                  demon- strierten, und die man besitzen muss, wenn die Euro-Eingreiftruppe
                  von 80.000 Soldaten wirklich weltweit effektiv sein soll. 
                  So zahlreich die Übungen sind, »amerikanische Bedenken zu zerstreuen«,
                  so sicher ist man in Washington, eine vollendete ESVi sei ein Instrument,
                  welches »mit der Zeit mit der NATO konkurrieren könnte« (Außenminister
                  Talbott) und akzeptiert darum »nur eine der NATO klar untergeordnete
                  europäische Komponente«. 
                  Diese Unterordnung plausibel zu machen, fahren die Vereinigten Staaten
                  einiges auf. Schon die Erhöhung des amerikanischen Militärhaushalts um
                  deutlich über 100 Milliarden Dollar in den nächsten Jahren, übertrifft alle
                  gegenwärtigen europäischen Dimensionen. 
                  Das amerikanische Raketen-Abwehr-System (NMD) in Kombination mit den
                  regionalen Abwehrsystemen (TMD) soll die Ausschaltung (oder Minimierung)
                  des Risikos bewirken, im Kriegsfall von feindlichen Raketen nachhaltig
                  geschädigt zu werden. So kann jeder kleinere Staat nur beweisen, dass er
                  kein Schurke ist, durch Verzicht auf hochkalibrige Waffen, es sei denn vom
                  Westen gelieferte. Die amerikanische Drohung ergeht keineswegs nur an
                  die Schurken, sondern auch an jene größeren Mächte, die mit dem Bösen
                  bandeln, also an Russland und China. Sollte es technisch gelingen, die USA
                  weitgehend gegen russische und chinesische Atomwaffen zu immunisieren,
                  wäre der Einsatz (»taktischer«) Atomwaffen für Amerika wieder reale
                  Option. Die auf früherem Waffenvergleich basierende Notwendigkeit, einen
                  ABM-Vertrag abzuschließen, also auf flächendeckende nationale
                  Raketenabwehr zu verzichten und den »vernichtenden Gegenschlag« zu
                  kalkukieren, wäre hinfällig. Nicht im ersten Zug, aber perspektivisch.
                  Russlands Möglichkeit, der eigenen Entwertung mit radikaler Aufrüstung
                  Paroli zu bieten, sind ökonomisch kaum realisierbar. So sucht man
                  Verbündete in China und potente Waffenkäufer zum Beispiel im Iran,
                  beklagt mangelnde Vertragstreue der Amerikaner, macht der EU Avancen,
                  billigt aber in Einzelfällen den USA die Definitionsmacht zu, wer Schurke ist.
                  China, gewiss ökonomisch deutlich potenter und oft schon als der
                  herausragende Feind der Zukunft besprochen, verfügt bisher noch über ein
                  vergleichsweise kleines Druckpotenzial gegen die Vereinigten Staaten, hat
                  eine bescheidene Zahl atomar bestückter Interkontinentalraketen und sieht
                  sich durch das regionale Militärbündnis der USA mit Japan und Südkorea
                  bedrängt. 
                  Die europäischen Anstrengungen, selbst größeres Gewicht und mehr
                  Handlungsfreiheit zu erlangen, erhalten allein durch NMD einen gehörigen
                  Dämpfer. Eine größere Freiheit der USA zur Kriegsführung ist nicht nach
                  deutschem Geschmack, zumal die Auswirkungen solcher Kriege, verzichtete
                  Europa auf eine subalterne Teilnahme am Abwehrschirm, hier gravierender
                  sein könnten als jenseits des Großen Teichs. Da droht halt der »gespaltene
                  Sicherheitsstandard«. Auch eine Aufwertung atomarer Optionen trifft
                  Deutschland, dem dieses Gerät noch fehlt, ziemlich hart. Die Klagen des
                  zurück- liegenden Jahres, die USA verfolgten eigene statt Bündnisinteressen,
                  sind lustig und sachkundig zugleich. Auf diesem Feld kennt man sich aus.
                  Und man weiß auch, dass das amerikanische Angebot, sich am Aufbau des
                  Schutzschildes zu beteiligen, erstens teuer kommt und zweitens in
                  subalterne Stellung zwingt. 
                  Dennoch: Gemessen an den deutlich ablehnenden Stellungnahmen
                  vergangener Monate, zeigen sich nun Schröder, der schnell noch eine
                  Verdienstmöglichkeit deutscher Rüstungsindustrie entdeckte, und Fischer,
                  dessen Auftreten in Washington einige Parteifreunde so schnell nicht
                  begriffen, als Realisten. Der »Spiegel« staunte, die »Süddeutsche« war
                  innerlich zerrissen, und die »FAZ« bescheinigte der Regierung, die
                  »bescheidenen Einwirkungsmöglichkeiten« endlich zu nutzen, weswegen
                  ihre »Lernkurve (...) endlich nach oben zeigt«. 
                  Bei allem täglich zu schürendem Gefühl gegen den zukünftigen
                  Hauptkonkurrenten, die notwendige Portion Kalkül - auch das wurde in
                  Deutschland seit 1945 gelernt - kommt nicht zu kurz. So gesehen liegen
                  vor uns zähe Jahre, mit Vorstößen und Rückziehern. Auch Vorstöße gegen
                  amerikanische Interessen wird es geben, wie sie sich heute etwa in Libyen,
                  Irak oder Iran vollziehen. 
                  Vielleicht liegen die Schauplätze auch an der »neuen Seidenstraße«
                  zwischen Adria und China, wo sich das mutige Protegieren konkurrierender
                  Herrschaftscliquen anböte. Vielleicht beginnt man in Gegenden, die auf der
                  amerikanischen Ordnungsskala nicht so hoch angesiedelt sind. Wo
                  Menschen in kriegerischen Auseinandersetzungen wieder Material,
                  Kanonenfutter zu verkörpern haben, ist nicht seriös prognostizierbar. 
                  Eine gewisse Vor- und Umsicht wird für Deutschland, der
                  EU-Hegemonialmacht, allerdings nötig sein. Sonst könnte es einer schönen
                  deutschen Direktinvestition, sagen wir im Iran, auch mal ergehen wie der
                  chinesischen Botschaft in Belgrad. 
                  Tröstet das? 
 
Thomas Ebermann  
in 'Jungle World'