4.10.2005

REACH bremst Tierversuche nicht

Die Rolle von Tierversuchen beim Aufstieg und Fall der "Gentherapie"

Entgegen den Hoffnungen verschiedener Tierschutz-Organisationen wird die vor der Verabschiedung stehende neue europäische Chemikalien-Richtlinie (REACH)1 den weiteren Anstieg von Tierversuchen in europäischen Labors nicht bremsten. Seit Ende der 70er Jahre ist bekannt und von kompetenten WissenschaftlerInnen bestätigt, daß Tierversuche bei Untersuchungen zu Human-Medikamenten oder Kosmetika wenig aussagekräftig sind. Anfang der 80er Jahre konnten BiologiestudentInnen gerichtlich durchsetzen, daß sie in der Ausbildung nicht mehr zu (sinnlosen, massenhaften) Tierversuchen gezwungen werden durften. Eine zeitlang konnte durch öffentlichen Druck die Zahl der Tierversuche gesenkt werden, doch mit dem Beginn der gentechnischen Forschung kehrte sich der Trend wieder um und seitdem werden von Jahr zu Jahr auch in Deutschland immer mehr Tiere zu Versuchszwecken "verbraucht".

Die verschiedenen Änderungsvorschläge, die von einzelnen Mitgliedern des europäischen Parlaments in Brüssel eingebracht wurden, zielen lediglich darauf, indirekt die Zahl der Tierversuche zu reduzieren. So wurde beispielsweise ein verpflichtender Austausch von Daten an Tierversuchen gefordert oder Alternativmethoden "befürwortet", bei denen etwa mit Hilfe von Zellkulturen und Computersimulationen Tierversuche vermieden werden könnten. Diese Änderungsanträge, die offensichtlich Alibi-Charakter haben und den weiteren Anstieg von Tierversuchen auch in Zukunft nicht bremsten können, wurden von einer breiten Mehrheit angenommen.

Eine Expertise des deutschen Bundesinstituts für Risikobewertung (BFR) hat hochgerechnet, daß die Zahl der Versuchstieren ohne Alternativmethoden in den nächsten 15 Jahren allein in der europäischen Chemie- und Pharmaforschung um über 45 Millionen steigen würde. Europaweit werden jährlich rund 11 Millionen Versuchstiere eingesetzt. Allein in Deutschland werden offiziell über 1,2 Millionen Tierversuche pro Jahr gezählt. Innerhalb der letzten vier Jahre hat sich die Zahl der Tierversuche in Europa um rund 12 Prozent erhöht.

Besonders der "Verbrauch" an Labormäusen ist in den letzten Jahren besonders stark gestiegen. Starben 1996 noch rund 700.000 Mäuse bei angeblich wissenschaftlichen Experimenten, so sind es inzwischen über 1 Million pro Jahr - eine Steigerung um über 40 Prozent. Walter Pfaller vom österreichischen Zentrums für Ersatz- und Ergänzungsmethoden zu Tierversuchen (zet) erklärt: "Viele Zuchttiere überleben oft die ersten Tage nicht." Zudem würden auch Tiere geboren, die geplante genetische Veränderungen nicht oder nur unzureichend aufweisen. Sie würden sofort getötet.

Auch beim Aufstieg der "Gentherapie" in den 90er Jahren hatten sich WissenschaftlerInnen auf vermeintlich positive Ergebnisse bei Tierversuchen gestützt und eine Goldgräberstimmung ausgelöst. In einer Sendung des 'Deutschlandfunk' am 11. September zu '15 Jahre Gentherapie am Menschen' wurde eine Entwicklung nachgezeichnet, die bisher kaum wissenschaftlich reflektiert wurde. In den ersten Jahren des Aufbruchs der gentechnischen medizinischen Forschung wurde ein Hype erzeugt, der die Heilbarkeit von Bluthochdruck, Diabetes oder Krebs als innerhalb weniger Jahre erreichbar erscheinen ließ. Immerhin sterben - nach wie vor - über 80 Prozent der Deutschen an einer der drei "Krankheiten". Ein Todesfall in den USA im Jahre 1999 bereitete den Träumen ein jähes Ende.

Im Jahr 1990 wurden erstmals Menschen mit eingeschleusten Genen behandelt: Vier Kindern, die an einer seltenen Krankheit litten und abgeschirmt in Spezialzelten oder einer Art Raumanzügen leben mußten, sollte mit einer "Gentherapie" geholfen werden. Die Störung ihres Immunsystems wird durch ein fehlendes Enzym verursacht. Dieses Enzym, ADA, sollte nun mit Hilfe genmanipulierter Zellen im Körper der Kinder produziert werden. In deutschen Zeitungen hieß es im September 1990 in den Schlagzeilen: "Die Gentherapie wird die Medizin revolutionieren". Bereits Ende der 80er Jahre hatten mehrere Forschungsgruppen in den USA fremde Gene nicht nur in Tiere, sondern auch in Menschen eingeschleust. Auch bei den Kindern gelang es zunächst, die ADA-produzierenden Gene einzuschleusen. Das ADA-Gen funktionierte, und es waren keine Nebenwirkungen festzustellen. Ein Erfolg - auf den ersten Blick.

Doch die Genaktivität in den Blutzellen der behandelten Kinder ließ schnell nach. Die "Gentherapie" mußte mehrfach wiederholt werden. Gleichzeitig gab es Fortschritte in der Medikamenten-Entwicklung. Den ADA-Kindern konnte besser und billiger geholfen werden. Der Optimismus hielt an. Im Januar 1993 hieß es beispielsweise in der 'Neuen Rhein Zeitung': "In 15 bis 20 Jahren, so die optimistische Einschätzung vieler Experten, könnte die Gentherapie ein etabliertes Verfahren in der klinischen Medizin sein." Im 'Spiegel' hieß es 1994 unter der Überschrift "Den Tumor fressen": "Nun auch in Deutschland: Genspritzen sollen Krebskranke heilen."

In den Jahren 1993 bis 96 starteten weltweit über hundert Studien. Nur wenige hatten das Ziel, seltene angeborene Stoffwechselstörungen zu heilen. Die meisten richteten sich in dieser Phase gegen die Volkskrankheit Krebs. Fast jede ForscherInnengruppe hatte ein eigenes Konzept entwickelt: Mal sollte durch das Einschleusen fremder Gene die Körperwehr angekurbelt werden, mal die Immunabwehr gezielt gegen den Krebs gelenkt werden - oder die Krebszellen sollten in den programmierten Selbstmord getrieben werden.

Tierversuche waren angeblich erfolgreich verlaufen - auch bei den Gentherapien gegen den Krebs. Die ersten Hürden der Erprobung am Menschen wurden genommen. Risiken oder Nebenwirkungen wurden geleugnet. Über die Wirksamkeit der Methode jedoch ließ sich in den ersten Jahren nichts sagen. Auch heute noch meint French Anderson, ein "Gentherapeut" aus den USA, in einer seltsamen Mischung aus Verblendung und Selbstkritik: "Wir wurden immer besser, aber geheilt haben wir niemanden." 1995 war in der Schweizer Zeitung 'Die Woche' zu lesen: "Trotz vieler Vorschußlorbeeren: Klinische Versuche an 200 Patienten brachten bisher keinen einzigen sicheren Heilerfolg. Kritiker warnen vor den Folgen des Genforschungs-Goldrauschs".

Mitte der 90er Jahre war bereits erkennbar, daß die "Gentherapie" bei Krankheiten wie der Mukoviszidose oder der angeborenen Muskelschwäche wirkungslos blieb. Auch im Kampf gegen den Krebs fehlten die erhofften Erfolge. Als Ursache wurde auf die Unzulänglichkeit der sogenannten Vektoren verwiesen. Als Vektoren wurden die zum Einzuschleusen der Gene benutzten Viren bezeichnet. Diese stellten sich angeblich als nicht genügend zielsicher heraus. Meist waren schon Wochen nach Behandlungsbeginn keine der eingeschleusten Gene mehr nachzuweisen.

Anfang der 90er Jahre hatten viele kleine Biotech-Firmen an den schnellen Erfolg geglaubt; sie gingen an die Börse und hofften auf das große Geld. Und Ende der 90er Jahre nahm - nicht zuletzt wegen der dubiosen Ausrichtung der Agro-Gentechnik - die Skepsis in der Öffentlichkeit immer mehr zu. Der Druck auf die Genforschung intensivierte sich, bis im Jahr 1999 der 18-jähriger US-Amerikaner Jesse Gelsinger an den Folgen eines Gen-Expeiments starb.

Der Tod Jesse Gelsingers war ein herber Rückschlag für die gesamte medizinische Gen-Forschung, von dem sie sich bis heute nicht erholt hat. Zu Tage kam dabei, daß die Ergebnisse von Tierversuche, die nicht in die optimistische Gründer-Stimmung passen wollten, unterdrückt worden waren. Offenbar hatte Ehrgeiz und Profit-Interesse an der Vermarktung der "Gentherapie" die nötige Verantwortung für die Sicherheit des Patienten verdrängt. Dem Vater Jesse Gelsinger hatten die behandelnden ÄrztInnen gesagt, die Wirksamkeit der Methode sei nachgewiesen. Tatsächlich jedoch handelte es sich um einen Menschenversuch, bei dem die Risiken völlig unterschätzt worden waren. Die ForscherInnen an der Universität in Pittsbugh arbeiteten mit Adeno-Viren als Vektoren. Doch diese hatten sie nicht im Griff: Adeno-Viren lösen eine Entzündungsreaktion des befallenen Körpers aus, die unterdrückt werden muß. Gelsinger starb an einer akuten Leberentzündung, die von den Vektoren herrührte. Der Fall Gelsinger wurde zum Medizinskandal.

Auf Tierversuchen waren die übertriebenen Hoffnungen der "Gentherapie" zu Beginn der 90er Jahre gegründet worden. Dies wirft folgende Frage auf: Werden Tierversuche als pseudowissenschaftliches Mittel benutzt, um Wissenschaft und Forschung dorthin zu lenken, wo die höchsten Profite erwartet werden?

 

Solveig Brendel

 

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