19.03.2009

Gastbeitrag

Dieses Land
hat ein Männerproblem

... und beileibe nicht nur dieses Land.

Gedanken zum Amoklauf in Winnenden

Peinlich wird das Wort vermieden: "Selbstmordattentäter"; "Amokläufer" suggeriert einen ganz anderen Problemhintergrund als "Selbstmordattentäter". Dabei gibt es verblüffende Parallelen. Es sind ausschliesslich junge Männer (bis auf wenige Ausnahmen im Nahen Osten). Sie töten indem oder bevor sie sich selbst töten. Ihr eigener Tod ist Teil ihrer Aktion, damit setzen sie ihre Tat absolut; keine Strafe, keine Bewertung, kein Leid der Opfer wird sie mehr erreichen und in der Lage sein, ihre Tat zu relativieren. Sie sagen: ich bin absolut im Recht.

Ihre Tat richtet sich gegen die, die nach ihrer Meinung schuld sind: Israel oder der Westen, die Ungläubigen, die Schule und gar nicht so selten die Frauen. Und immer ist irgendwas an der Schuld dran, immer gibt es Verletzungen, die subjektiv als so tief empfunden werden, dass sie über den Weg eines grenzenlosen Hasses in diesen Taten münden dürfen. Wir aber stehen fassungslos vor der fehlenden Verhältnismässigkeit dieses Ausbruchs. Dem Tod, dem Mord, dem Massenmord, dem anonymen Mord, denn es kommt nicht darauf an, wer dran glaubt, fehlt jede Verhältnismässigkeit.

Und gerade das ist beabsichtigt. Und gerade das macht uns das Verstehen schwer. Die Reaktionen der Medien, der Politik, der Betroffenen zeigt das. Die Fragen, ob es das Elternhaus war, die Schule, die Berufstätigkeit der Mütter, letztere wird mit schöner Regelmässigkeit bemüht, all diese Fragen bleiben in Ratlosigkeit hängen. Irgendetwas von alldem, aber es ist keine Erklärung, klärt nicht unsere Fragen. Es entsteht aber sofort ein anderes Bild, wenn wir es durch die Brille der Geschlechterverhältnisse ansehen: Wir sehen junge Männer.

Die Parallelität zu den Selbstmordattentaten kann uns auf die Spur bringen. Die palästinensischen Selbstmordattentäter, die jungen Männer Palästinas leben ein Leben der Zukunftslosigkeit, Aussichtslosigkeit, der Sackgassen, der Erniedrigung und Verachtung. Sie leben ein Leben, das sie täglich ihrer Selbstachtung und ihrer Würde beraubt. Das trifft auch Frauen, auch ihre Würde wird mit Füssen getreten. Selbstachtung von Männern ist aber verschieden von der Selbstachtung von Frauen. Sie hängt bei beiden eng mit ihren Rollen zusammen, die ihnen sehr verschiedenes abverlangt, Scheitern unterschiedlich definiert und bewertet. Und die Rollen - und das verkompliziert das ganze - sind in einem dramatischen Wandel begriffen.

Im Vorkriegsjugoslawien zum Beispiel, waren die Männer für Nationalismus, als Rekruten für Seperatisten wie die UCK, leicht zu gewinnen, weil sie im Zusammenbruch des Sozialismus nicht auf Ersatzrollen zurück greifen konnten wie die Frauen. Dies muss erklärt werden. Frauen und Männer haben damals massenhaft ihre Arbeitsplätze verloren. Frauen hatten dabei eine alte, aber taugliche und hilfreiche Rolle zur Verfügung, in die sie schlüpfen konnten. Ohne Job sind Frauen immer noch Mütter und Organisatorinnen des häuslichen Lebens. Sie verlegten ihren Schwerpunkt auf die Subsistenzarbeit, ihre familiären und nachbarschaftlichen Netzwerke wurden wichtig und fruchtbar. Ihr Ansehen stieg.

Nicht so bei den Männern. Der Verlust ihrer Erwerbsarbeit, ihres Einkommens, das ja höher war, als das ihrer Frauen und ihnen dadurch in den Familien eine dominante Rolle sicherte, bedeutete den Verlust ihres alten Ansehens; sie wurden nicht nur arbeits- sondern bedeutungslos, spielten, tranken, gaben Geld aus - unnütze Esser. So demoralisiert waren sie für den nationalistischen und seperatistischen Amoklauf brauchbar, benutzbar. Er gab ihnen Bedeutung, Macht, Männermacht, die sich auch gegen die eigenen Frauen richtete, vor allem aber gegen die Frauen des "Feindes". Der nationalistische Amoklauf war auch weniger gefährlich, man konnte mit dem Leben davon kommen; es ersparte den individuellen Amoklauf, der für einen selber ja immer tödlich endet.

Daran wird deutlich, welch enorme gesellschaftliche Sprengkraft in der plötzlichen Veränderung von Geschlechterrollen liegen kann, in ihrer Prekarisierung. Dies ist weitgehend nicht untersucht, z.B. für den deutschen Faschismus, die Kriegseuphorie vor dem Ersten Weltkrieg, die Schlachten oder das Schlachten in Afrika und auch nicht für die diversen Befreiungsbewegungen.

Bei Frauen und Mädchen verlaufen die Rollenänderungen oft undramatischer, wie oben gezeigt. Sie sind überdies gewandt im Anpassen. Das ist der Grund, warum sie in unseren Schulen besser überleben. Schlauer werden, flexibler. In diesen Schulen, denen durch Pisa schon ein so schlechtes Zeugnis ausgestellt wird. Aber sind es die Schulen? Oder das Schulsystem? Oder nicht vielmehr diese Gesellschaft, die es nicht schafft, der jungen Generation ein Bildungssystem zu geben und ein Leben und Lernen zu ermöglichen, in dem sie sich entwickeln kann. Sondern an einem festhält, das sie zurecht stutzt? Ein System, das ignoriert, in welch unvorstellbarem Mass Zukunft in Frage gestellt ist durch Klimakatastrophe, Irrsinn der Ökonomie und Massenarbeitslosigkeit. Zukunftslosigkeit also bei weitem nicht nur in Palästina! Die Alten, die nur noch wenig Zukunft haben, können sich darüber hinweg trösten. Opa kauft einen neuen Off-Road für sein Ego, für ihn wird's ja noch reichen. Und die Enkel? So wenig wie die Klimakatastrophe zum Handeln zwingt, so wenig das Dauerleid der Schülerinnen und Schüler. Aber Banken müssen gerettet werden. Und natürlich die Autoindustrie.

Die Jungs versagen massenhaft in den Schulen. Bei ihnen steht aber auch noch mehr auf dem Spiel. Ihre Rollen waren machtbesetzt. Macht per Geburt. Ihr Scheitern ist nicht nur Scheitern, sondern Machtverlust. Und ihr Scheitern ist vorprogrammiert, weil gerade die Machtbesetztheit ihrer Rolle einem flexiblen Weg entgegen steht. Frauen und Mädchen steht sogar mit geringem Verlust die Opferrolle offen; selbst diese Rolle verschafft ihnen noch eine fragwürdige Anerkennung. Nicht so bei den Jungs. "Du Opfer!" ist eine ernst gemeinte Beleidigung, ein Schimpfwort, schlimmer als "Arschloch", "schwule Sau". Opfer sein, heisst kampfloses, feiges, unterwürfiges Versagen. Eine Schmach - und das ist die bittere Ironie - die nur durch das Selbst"opfer" abzuwenden ist.

Dieses Land hat ein Männerproblem, steht zu Anfang. Die Aussage wäre durch ein paar Selbstmordattentäter oder Amokläufer nicht gerechtfertigt, selbst wenn sie im Augenblick noch so grosses Entsetzen hervor rufen. Doch wenn wir der Spur weiter folgen, auf der wir begonnen haben, spüren wir problemlos die anderen Dramen auf. Jung-Nazis in Ostdeutschland sind gescheiterte Männer. Der Nationalchauvinismus ersetzt ihnen das verlorene Selbstwertgefühl. Der übrig gebliebene, kaum angefochtene Alt-Männer-Chauvinismus rettet sich in Vereine, Schützenvereine zum Beispiel. Auch in Parteien. Gewaltexzesse bei der Bundeswehr, Komasaufen. Selbstmord ist die zweithäufigste Todesursache bei jungen Männern, nach Unfällen. Raserei mit Autos, Risiko-Sportarten. Gewalttaten in der Familie und dem Freundeskreis gehen zum übergrossen Teil von Männern aus.

Dieses Land hat ein Männerproblem.

Und doch dürfen wir nicht übersehen, dass dem grössten Teil der jungen Männer der Rollenwechsel gelingt, vielen fällt er sogar leicht, sie empfinden ihn als Befreiung. Das ist dann der Fall, wenn er bewusst, reflektiert vollzogen wird, wenn er durch schönere, reichere Beziehungen belohnt wird. Warum soll den jungen Männern des beginnenden neuen Jahrtausends nicht gelingen, was den Frauen der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts gelang? Sie müssten allerdings begreifen, was auch die Frauen erst begreifen mussten: dass die individuelle Emanzipation nicht vollständig sein kann, sondern gemeinsam vollzogen werden und die Gesellschaft kämpfend verändern muss. Begreifen, dass das Private politisch ist und zu Politik werden muss. Sich von der Vorstellung befreien, dass sich männliche Würde und Selbstwertgefühl auf Kosten anderer Frauen und Männer herstellen liessen, dass Allmachtsphantasien den Prozess der Emanzipation ersetzen könnten, dass Herrschaft über andere die eigene Zukunft absichere.

Eine Witzboldin der 70er-Jahre-Frauenbewegung formulierte mal: "Frauen, wir haben nichts zu verlieren, als unsere Staubsauger, aber eine Welt zu gewinnen!" Auf die Männer heute bezogen, müsste es heissen: "Männer, wir haben nichts zu verlieren als unsere beschissene Rolle, die uns krank macht und viele Jahre unseres Lebens kostet, aber wir haben eine Welt voller unbekannter Emotionen und Möglichkeiten zu gewinnen!"

So do it! Yes, you can!

 

Gastbeitrag von

Christel Buchinger

für
REGENBOGEN NACHRICHTEN

 

redaktionelle Anmerkung

Siehe auch unseren Artikel zum Thema:

      Nachbetrachtung zum Amoklauf in Winnenden
      Mainstream-Medien kaschieren eigenen Fehler (13.03.09)

 

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