1.11.2005

Irokesen und Demokratie
Hierarchiefreie Gegenmacht

Teil II (und Schluß):
Indianische Alternativen in Geschichte und Gegenwart sozialer Bewegungen und politischer Theorie:
Suffragetten, Kommunismus und der indigene Widerstand im 21. Jahrhundert

Im ersten Teil des Artikels wurde der Frage nachgegangen, wie das Beispiel herrschaftsloser Gesellschaften die demokratische Bewegung der Amerikanischen Revolution inspirierte. Ausgehend von Marx' intensivem Studium der Gesellschaft der Irokesen im Winter des Jahres 1880/81 unterstrich Thomas Wagner die überraschende Tatsache, daß »die produktive Auswertung und systematische Erweiterung des Wissens über herrschaftslose Gesellschaften in der marxistischen Forschung bis heute ein Desiderat« geblieben ist.

Das revolutionäre Indianerbild verlor bald seine integrierende Kraft für das Amerika der Bundesverfassung von 1787. Die Nähe zu radikaldemokratischen Ideen machte den Indianerkult der Revolutionsgesellschaften für die handfesten ökonomischen Interessen der herrschenden Elite der USA zunehmend weniger attraktiv. Der indianische Widerstand an der expandierenden Westgrenze und die Parteinahme vieler Stämme für die englische Seite im zweiten Krieg gegen England (1812) taten ein übriges, positive Bezüge auf indianische Traditionen weitgehend zu diskreditieren. Die vorübergehend attraktive Freiheitsikone des edlen Wilden wurde weitgehend von der verzerrten Fratze des brandschatzenden und mordenden Barbaren verdrängt. Die Tradition des republikanischen Indianerbilds wurde auf ein kaum noch öffentlich wahrgenommenes ikonographisches Nebengleis gestellt. Gleichwohl vermochten die im Verlauf des Unabhängigkeitskrieges versprengten und nun auf Reservationen zurückgedrängten Irokesen der demokratischen Bewegung auch im 19. Jahrhundert noch bemerkenswerte Impulse zu geben. Die im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts weit um sich greifende Debatte um den Einfluß der Irokesen auf »Geist und Buchstaben« der US-amerikanischen Verfassung mündete schließlich in einer erstaunlichen Renaissance der Irokesen in der politischen Theorie, deren Ende noch überhaupt nicht abzusehen ist.

Frühe Feministinnen

»Remember the Ladies« (»Denk' an die Frauen«): Mit diesen Worten ermahnte Abigail Adams bereits zu Beginn des Unabhängigkeitskrieges (1776) ihren Gatten, den Revolutionär und späteren US-Präsidenten John Adams. Doch sollte die rechtliche Gleichstellung von Mann und Frau noch lange zu den uneingelösten Versprechen der Amerikanischen Revolution gehören. Gegen eine Verfassungswirklichkeit, die Frauen zwang, spätestens nach ihrer Hochzeit alle ökonomischen Rechte an ihre Gatten abzutreten, und die das Wahlrecht auf Männer beschränkte, formierte sich mit der Declaration of Sentiments (1848) in Seneca Falls eine Bewegung mutiger Frauen, die um die Befreiung der Sklaven und das Frauenwahlrecht zu streiten begannen. Frühe Feministinnen und Autorinnen wie Matilda Joslyn Gage, Elizabeth Cady Stanton und Lydia Maria Childs erkannten in den irokesischen Gemeinschaften der benachbarten Reservationen im Staate New York Frauenrechte verwirklicht, von denen die »zivilisierte« amerikanische Bürgerin nur träumen konnte. Sie griffen dabei nicht nur auf ein angelesenes Bücherwissen zurück, sondern bezogen ihre Informationen über die gesellschaftliche Stellung der irokesischen Frauen aus wirklichen Kontakten und Freundschaften zu indianischen Menschen. Gage und die damals erfolgreiche Dichterin Harriet Maxwell Converse wurden schließlich sogar in irokesische Gemeinschaften adoptiert. Bei Converse handelte es sich um eine Anerkennung ihrer Verdienste im erfolgreichen Abwehrkampf gegen die Auflösung der Reservationen im Staate New York durch ein Whipple Bill genanntes Gesetz aus dem Jahr 1891. Der am heftigen Widerstand der Indianer gescheiterte Vorstoß der Behörden zielte auf die Überführung des kollektiven Landbesitzes in private Hände, die Zerstörung der traditionellen Selbstregierung und die Beendigung des Sonderstatus indianischer Nationen als Quasi-Mündel der US-Bundesregierung. Die demokratischen Traditionen ihrer indianischen Freundinnen und Freunde interpretierten die Frauenrechtlerinnen als Überbleibsel eines ursprünglichen Matriarchats, in dem politische Entscheidungen nicht ohne die Zustimmung der Frauenversammlung getroffen werden durften. Nachdem der oberste Gerichtshof der USA im Jahr 1874 jene Gesetze für rechtmäßig erklärt hatte, die den Frauen das Wahlrecht vorenthielten, schrieb Gage für die New York Evening Post eine Artikelserie über die Irokesen, in der sie beschrieb, wie Frauen und Männer in getrennten Ratsversammlungen über die Geschicke der Konföderation berieten, und daß kein Landverkauf ohne die Zustimmung der Frauen möglich war. In ihrem 1893 veröffentlichten Buch »Woman, Church and State« hob sie die weibliche Kontrolle über die männlichen Arbeitserträge und die Beteiligung der Frauen an den Regierungsgeschäften hervor: »Doch die bemerkenswerteste Tatsache im Zusammenhang mit Frauenbeteiligung in Regierungsangelegenheiten unter den Irokesen ist die Feststellung des Abgeordneten George Bancroft, daß die Regierungsform der Vereinigten Staaten an jene der sechs (indianischen) Nationen angelehnt ist. Daher schuldet die moderne Welt dem Matriarchat oder Mutterrecht Dank für dessen erste Auffassung von naturgegebenen Rechten, natürlicher Gleichheit der Voraussetzungen und der Errichtung einer zivilen Regierung auf dieser Grundlage.«1 Die Hochschätzung bestimmter politischer Elemente der irokesischen Überlieferung, die persönliche Freundschaft zu einzelnen Indianern und das Engagement für indianische Landrechte hinderte die Frauenrechtlerinnen jedoch nicht daran, in der vollständigen Assimilation der Indianer an die gegenwärtige amerikanische Gesellschaft die einzige Garantie für deren Überleben zu sehen. Die allenthalben ausgegebene Devise hieß: »Töte den Indianer, um den Menschen zu retten!«

Marx und Engels lesen Morgan

Ein spätes Zeugnis republikanischer Indianerbegeisterung geben die Aktivitäten des Nachwuchsjuristen Lewis H. Morgan, der in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts unter dem Titel New Confederacy of the Iroquois einen geselligen Indianerclub gründete. Berufsständische Kontaktpflege, demokratisches Engagement und jungenhaftes Indianerspiel verbanden sich hier auf eine kuriose Weise. Die Mitglieder der Vereinigung empfanden sich als Hüter eines indianischen Erbes amerikanischer Freiheit, deren Grundzüge sie in der Verfassung wiederzuerkennen glaubten. Bei ihren Versammlungen kleideten sich die »Krieger« in komplette indianische Kostüme und übten sich in rhetorischen Wendungen, von denen sie annahmen, sie seien indianischen Ursprungs. Um sein »Indianerhobby« möglichst authentisch zu gestalten, recherchierte Morgan in der New Yorker Landeshauptstadt Albany und traf dort in einer Buchhandlung auf den jungen Seneca-Indianer Ely S. Parker, der eine Delegation von Häuptlingen in die Landeshauptstadt begleitete, um den Landrechtskampf des Stammes als Dolmetscher zu unterstützen. Die beiden jungen Männer wurden Freunde. Parker machte Morgan mit den Häuptlingen bekannt und dolmetschte zahlreiche Interviews, die der Indianerforscher von eigenen Gnaden mit den Indianern machte. Morgans umfangreiche Notizen über die Kultur der Irokesen und die Funktionsweise ihrer Konföderation halfen nicht nur beim originalgetreuen Indianerspiel, sondern mündeten in einer Serie von Zeitschriftenartikeln, dann in einem bis heute von der Forschung geschätzten Buch über die Irokesen2 und schließlich in einer Entwicklungstheorie der menschlichen Gesellschaft. Morgans Buch »Ancient Society« (1877, dt. »Die Urgesellschaft«) prägte schließlich das Bild, das sich Marx und Engels in den achtziger Jahren von der »Gentilgesellschaft« der Irokesen und der kommunistischen Urgesellschaft machten. Die anschließende Forschung hat die von Morgan, Marx und Engels vernachlässigte Machtbalance zwischen Frauen- und Männerkollektiven im Anschluß an die marxistische Ethnologin Eleanor Leacock (1922-1987) als geschlechtsegalitäre Gesellschaft qualifiziert.3

Indianischer Widerstand

Das philanthropische Engagement von Morgan, seinen Freunden, den frühen Frauenrechtlerinnen und einigen Quäkern für die rechtlichen Belange der Irokesen setzte zu einem Zeitpunkt ein, als nach indianischem Territorium gierende Landspekulanten den für »Indianerangelegenheiten« zuständigen US-Kongreß davon überzeugt hatten, im noch weitgehend unerschlossenen Westen Reservationsgebiete für die Umsiedlung der Seneca-Gemeinschaften bereitzustellen. Mit Bestechung und anderen fragwürdigen Mitteln gelang es der Ogden Land Company im Jahr 1840 unter den befragten Indianern eine knappe Zustimmung für die Umsiedlung zu erreichen. Dennoch blieb die überwiegende Mehrheit der Irokesen auf ihrem Land, vertrieb Händler, Siedler und Regierungsbeamte notfalls mit Gewalt und erzielte einige juristische Erfolge. Unter dem Eindruck unermüdlicher Versuche, sie in eigens eingerichteten Indianerschulen zu erziehen und zu angepaßten amerikanischen Bürgern zu disziplinieren, den ambivalenten Bemühungen der Missionare um die Rettung heidnischer Seelen, der Erwerbslosigkeit, dem behördlich geförderten Zerfall der frauenbestimmten Verwandtschaftsorganisation, dem Verlust vor allem männlicher Rollenbilder und dem dadurch begünstigten Alkoholismus, bildete sich ein zunächst in religiöser Form artikulierter Widerstand heraus, dem es neben dem Rückerwerb enteigneten Kollektiveigentums um die Bewahrung angestammter Traditionen und zunehmend auch um die Behauptung politischer Souveränität ging. Die heute bei den Traditionalisten beliebte Langhausreligion um Lehren des Propheten Handsome Lakes entstand zu dieser Zeit. Die zuweilen ungeklärte und umkämpfte Zuständigkeit zwischen lokalen, einzelstaatlichen und Bundesbehörden nutzten die Irokesen nicht selten für ihre eigenen Zwecke. Die 1924 durch den Kongreß angetragene Staatsbürgerschaft wurde damals wie heute von vielen Traditionalisten ausgeschlagen. Sie kämpfen stattdessen um die internationale Anerkennung ihrer Gemeinschaften als souveräne Nationen und die Wiederherstellung des in viele Gemeinschaften beiderseits der kanadisch-amerikanischen Grenze zersplitterten Irokesenbundes.

Gramsci, Jefferson und die Irokesen

Im Laufe der schon über 200 Jahre dauernden Unterdrückung hat sich der indianische Kampf für Autonomie und Land immer besser zu artikulieren gelernt. Buchtitel wie José Barreiros »Indian Roots of American Democracy« (1988); »Exiled in the Land of the Free« (1992), vor allem aber Donald A. Grindes und Bruce Johansens »Exemplar of Liberty« (1992) provozierten öffentlichkeitswirksame Debatten, die das kulturelle Selbstverständnis vieler US-Amerikaner erschüttert haben, indem sie die Wurzeln heutiger Demokratie auf die indianische Erfahrung der Kolonisten zurückführten. Obwohl den wissenschaftlichen Verfechtern der These vom Einfluß der Irokesen auf die Verfassung eine Reihe von handwerklichen Fehlern nachgewiesen werden konnte, vermochten sie den langdauernden und erbittert geführten Kulturkampf in zentralen Punkten für sich zu entscheiden. Mit der Aufnahme der Einflußthese in einige Schullehrpläne und ihrer Anerkennung durch eine Resolution des US-Kongresses4 geht es heute nicht mehr darum ob, sondern in welchem Umfang indianische Vorbilder die Ideen der amerikanischen Demokratiebewegung beeinflußt haben, wie das am besten beschrieben werden kann und welche Konsequenzen sich daraus für die Haltung gegenüber den indianischen Gemeinschaften und die politische Theorie ergeben. Die indianische Autonomiebewegung in Kanada und den USA wurde dadurch gestärkt, daß sie ihre gegenwärtigen Landansprüche nicht mehr auf das Erbe von Vorfahren zurückführen muß, die im US-amerikanischen Geschichtsbewußtsein als marodierend umherschweifende »Wilde« erscheinen, sondern als Angehörige demokratischer Nationen, die völkerrechtlich verbindliche Verträge zu schließen in der Lage waren. Unter der Parole »Going traditional« erhalten auf den Reservationen jene Kräfte neuen Auftrieb, die beharrlich versuchen, die staatlich unterstützten Reservationsverwaltungen und Stammesräte durch traditionelle Regierungsformen zu ersetzen, die zum Teil seit Jahrzehnten im »Untergrund« agieren. Der Stammesrat der Mohawks im kanadischen Kahnawake arbeitet selbst an seiner Ablösung durch basisdemokratische Institutionen, die sich am Great Law of Peace des Irokesenbundes orientieren. Die Analysen und Thesen des Mohawk-Intellektuellen John Taiaiake Alfred finden mittlerweile in der politischen Theorie der englischsprachigen ehemaligen Siedlerkolonien Gehör.5 Wo das Beispiel des Irokesenbundes heute bemüht wird, um für eine Reform politischer Institutionen in den USA zu werben, handelt es sich um Vorschläge in der republikanischen Tradition Thomas Jeffersons. Während Charles Stewart Goodwins Buch »A Resurrection of the Republican Ideal« (1995) das Friedensgesetz der Irokesen in rechtspopulistischer Manier vor allem als eine moralische Ressource der republikanischen Erneuerung eines vormals anständigen und für jedermann überschaubaren Amerika stilisiert, beerbt der grüne Vordenker Brian Tokar den Irokesenbund in seinem Buch »The Green Alternative« (1992) als Vorbild für die hierarchiefeindliche Organisation der Gegenmacht zu Staat und Kapital.

Gut 125 Jahre nach Marx' ethnologischen Exzerpten sind die Irokesen zum Stichwortgeber und Bezugsrahmen einer Theorie und Ethik antihegemonialer Netzwerkbildung geworden, die von der Gramsci-Forscherin Renate Holub als ein marxistisches Schlüsselkonzept für die weltweite Vernetzung von antikonsumistischen Gruppen (»counter-consumerist connections«) bewertet wird. Unter dem programmatischen Titelwort »transcommunality« verknüpft der seit Jahrzehnten in der Bürgerrechtsbewegung aktive Soziologie John Brown Childs praktische Erkenntnisse aus der Sozialarbeit mit ethnisierten Ghettogangs in Los Angeles, die politischen Erfahrungen der zapatistischen EZLN, indigener Widerstandsbewegungen in Nord- und Südamerika und die egalitären Politikformen der Irokesen zu einem tragfähigen Konzept der Wiedergewinnung von kollektiver politischer Handlungsfähigkeit marginalisierter Gruppen.6 Aus den in Mythen und sozialen Regeln aufgehobenen Erfahrungen und Eigentheorien des historischen Irokesenbundes schöpft Childs Ideen, wie Gruppen unterschiedlicher Herkunft und zum Teil auch stark divergierenden Zielsetzungen sich zeitweise oder dauerhaft als gleichberechtigte und vielfältige Gemeinschaft assoziieren können, ohne intern erneut jene hierarchischen Machtstrukturen herauszubilden, deren Überwindung das Ziel demokratischer Befreiungspolitik ist.

 

Thomas Wagner

 

Anmerkungen

Thomas Wagner ist Autor der ersten umfassenden Studie zur US-Debatte um den Einfluß der Irokesen auf die Verfassung:
»Irokesen und Demokratie. Ein Beitrag zur Soziologie interkultureller Kommunikation.«
Münster: Lit-Verlag 2004, 400 S., kt., 21,90 Euro

1 »But the most notable fact connected with woman´s participation in governmental affairs among the Iroquois is the statement of Hon. George Bancroft that the form of government of the United States, was borrowed from that of the Six Nations. Thus to the Matriarchate or Mother-rule is the modern world indebted for its first conception of inherent rights, natural equality of condition, and the establishment of a civilised government upon this basis.«,
zit. n. Gage, Matilda Joslyn: Woman, Church and State, New York 2002 (Reprint der Ausgabe von 1893), S. 45

2 Vgl. Morgan, Lewis Henry: League of the Iroquois, New York 1993 (Reprint der Ausgabe von 1851)

3 Vgl. Leacock, Eleanor: Der Status der Frauen in egalitären Gesellschaften: Implikationen für die soziale Evolution, in:
Arbeitsgruppe Ethnologie Wien (Hg.): Von fremden Frauen, Frankfurt a.M. 1989, S. 29-67; Lenz, Ilse und Ute Luig (Hg.): Frauenmacht ohne Herrschaft. Geschlechterverhältnisse in nichtpatriarchalischen Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1995

4 Iroquois Confederacy of Nations: Hearing before the Select Comittee on Indian Affairs United States Senate. One Hundreth Congress. First Session on. S. Con.Res. 76, Washington DC 1987 (Dezember 2)

5 Vgl. Alfred, John Taiaiake: Heeding the Voices of Our Ancestors 1995; ders.: Peace, Power, Righteousness: An Indigenous Manifesto 1999. Vgl. Ivison, Dunca/Patton, Paul/Sanders, Will: Political Theory and the Rights of Indigenous Peoples, Cambridge 2000

6 Vgl. Childs, John Brown: Transcommunality. From the Politics of Conversion to the Ethics of Respect, Philadelphia 2003

 

Zum ersten Teil dieses Artikels: hier

 

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