28.05.2003

Den Deutschen um Jahre voraus:
Die »Reform des Arbeitsmarktes«
in Großbritannien

Teil 1
Das Jobwunder

»Reinigungskraft, einfacher Dienst in einem Büro oder kellnern, das ist mir völlig egal«, sagt Hudson Ereku. Er sucht Arbeit. Kein leichtes Unterfangen mit 64 Jahren. Darum ist er ins Urban Recruitment Centre gekommen, eine Art Jobbörse im Londoner Stadtteil Stockwell. Nun sitzt er vor dem Schreibtisch seiner Beraterin, die sofort anfängt, in ihrem Computer nach geeigneten Stellen zu suchen. Hudson Ereku ist in dieser Woche schon zum dritten Mal hier. Seit der alte Mann vor einigen Wochen seine Arbeit in einem Postbüro verlor, ist er bereit, jeden Job anzunehmen: als Putzkraft, als Kellner, aber am liebsten wieder bei der Post oder der Poststelle eines Unternehmens. Doch die Aussichten, in Stockwell oder im übergeordneten Bezirk Lambeth einen Bürojob zu finden, sind gering. Hier gibt es über elf Prozent Arbeitslose, das sind mehr als doppelt so viele wie im nationalen Durchschnitt.

Arbeitslosenquote: Fünf Prozent

»Wir haben die Kultur des Wohlfahrtsstaates geändert - es wird jetzt allgemein akzeptiert, daß Arbeitslose nach Arbeit suchen und Jobs auch annehmen müssen«, äußert sich der britische Premierminister Tony Blair zufrieden über die Arbeitsmarktpolitik seiner Regierung. Die offizielle Arbeitslosenquote liegt bei fünf Prozent und ist die niedrigste seit den 70er Jahren. Im Februar erhielten von 59 Millionen britischen Staatsbürgern knapp 900.000 Männer und Frauen Arbeitslosenunterstützung. Großbritannien gilt damit als europäisches Vorbild im Kampf gegen Erwerbslosigkeit. Aber der Schein trügt.

In den alten Industriestädten im Norden Englands, auch in den südlichen Stadtteilen Londons, wie in Stockwell, ist die Arbeitslosigkeit nach wie vor hoch. Seit Generationen leben hier Arbeiter- und Einwandererfamilien in zwei- und dreistöckigen Backsteinhäusern. In den Seitenstraßen sind Vogelstimmen zu hören, und in der Mittagszeit riecht es nach mediterraner Küche. An der vierspurigen Clapham Road, der Hauptstraße des Stadtteils, wo sich auch das Urban Recruitment Centre befindet, ist es laut und riecht es nach Abgasen.

»Dieser Stadtteil steckt in der Klemme, alle größeren Unternehmen und die Supermarktketten sind weg und haben die Menschen ohne Arbeit zurückgelassen«, sagt Marc Oysten, Direktor des Urban Recruitment Centre. Außerdem gebe es in Stockwell »große Sprachenprobleme, hier leben zum Beispiel viele Portugiesen«. All diese Faktoren zusammengenommen isolierten diesen Stadtteil, meint Marc Oysten, »es gibt keine Arbeit, die meisten Menschen leben von Sozialleistungen«.

Non Profit: Das »Action Team«

Marc Oysten untersteht das »Action Team«, das ohne Profitinteressen arbeitet. Dazu gehören 14 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Sie sollen den Besuchern bei der Arbeitssuche helfen. Niemand wird zu einem Job gezwungen - eine Seltenheit in Großbritannien. Das Arbeitsministerium finanziert die Arbeit, die Mitarbeiter sind zuständig für den gesamten Bezirk Lambeth. Dessen Einwohnerzahl hat sich innerhalb der letzten fünf Jahre nahezu verdreifacht. Mehr Wohnraum ist deshalb nicht entstanden für die inzwischen fast 300.000 Einwohner, die Menschen leben zunehmend beengt.

200 Meter südlich des Recruitment Centre entlang der Hauptstraße befindet sich die Stockwell Tube Station, die U-Bahn-Station, die morgens und abends viele Pendler frequentieren. Hier treffen sich, vor allem bei gutem Wetter, auch diejenigen, die für eine Weile der Enge ihrer Wohnungen entfliehen wollen. Ein lukratives Terrain für zahlreiche fliegende Händler, die an der U-Bahn-Station Zeitungen, Obst und kleine Snacks verkaufen, einige von ihnen handeln auch mit harten Drogen. Ihnen allen einen Job zu beschaffen, ist das Ziel der Mitarbeiter des Recruitment Centre. 750 Erwerbslose sind dort allein im vergangenen Jahr beraten worden.

»64 Prozent unserer Besucher beziehen nicht einmal Sozialleistungen«, bemerkt Marc Oysten. In der portugiesischen Gemeinde, die in Lambeth sehr groß ist, unterstützen sich Familien und Freundeskreise gegenseitig. »Es ist ein sehr geschlossener Kreis, in dem auch Wohnungen vermittelt werden, was in London besonders schwierig ist«, erklärt Marc Oysten. Viele der Familienangehörigen kämen direkt aus Portugal, aber »auch Angehörige anderer Bevölkerungsgruppen beantragen keine Sozialleistungen und unterstützen sich gegenseitig«.

Marc Oysten möchte möglichst vielen Arbeitslosen einen Job verschaffen. Damit das klappt, bieten die Mitarbeiter Hilfestellungen an: Sprachkurse, Schreiben von Bewerbungen und Lebensläufen, und manchmal bezahlen sie auch schon mal die in Großbritannien besonders teuren Tickets für den Nahverkehr, wenn ein Erwerbsloser zu einem Vorstellungsgespräch fahren will. Im Gegensatz zu den Job Centres Plus, den fusionierten Arbeits-/Sozialämtern, und anderen Institutionen des britischen Arbeitsmarktes vermitteln die »Action Teams« keine Sozialleistungen, wie Arbeitslosenunterstützung, Sozialhilfe oder Krankengeld. »Bei uns gibt es keine Pflichttermine; wenn unsere Klienten herkommen, sollen sie sich wohlfühlen«, beteuert Marc Oysten. »Wir haben keine Druckmittel und kürzen auch nicht ihre Sozialbezüge, sondern wir sind da, um zu helfen.«

Hudson Ereku hat seiner Beraterin im Urban Recruitment Centre erklärt, daß er gerne wieder in einer Poststelle arbeiten will. Doch die junge Frau kann in ihrem Computer keine Stellenangebote finden, die seinem Wunsch entsprechen. Bei anderen Jobangeboten meldet sich nur der Anrufbeantworter. Oft sind die annoncierten Jobs auch schon weg. Das passiert vielen, die hier in Stockwell oder in anderen Londoner Jobbörsen Arbeit suchen.

Die meisten der als »permanent jobs« beschriebenen Angebote sind nicht von langer Dauer. Knapp die Hälfte der 750 registrierten Besucher des letzten Jahres hat eine Anstellung gefunden, viele sogar länger als elf Wochen. Das klingt zunächst nach gutem Erfolg: Doch nur fünf Prozent konnten ihren Arbeitsplatz dauerhaft behalten. Alle anderen sind früher oder später wieder in der Clapham Road aufgetaucht, um einen neuen Job zu suchen. Viele von ihnen arbeiteten in kleinen Dienstleistungsunternehmen, die pleite gingen. Andere hielten die Arbeitsbedingungen nicht mehr aus.

Hudson Ereku und seine Beraterin sind mittlerweile im Hotelgewerbe angelangt und haben dort ein Angebot entdeckt. Aber auch für diese Stelle bringt er nicht die richtigen Erfahrungen mit. Dabei ist er hochqualifiziert. In den 60er Jahren hat er in Großbritannien Politikwissenschaften studiert. Doch mit seiner schwarzen Hautfarbe hatte er damals kaum eine Chance, eine Stelle als Journalist oder Wissenschaftler zu bekommen.

Schließlich findet die Beraterin ein Angebot für Hudson Ereku. Er soll schon am nächsten Tag mit seiner Arbeit in einem chinesischen Restaurant im Stadtteil Soho anfangen, für den gesetzlichen Mindestlohn von vier Pfund zwanzig die Stunde, das sind etwa sechs Euro. 48 Stunden in der Woche muß er arbeiten, das entspricht der gesetzlichen Höchstarbeitszeit in Großbritannien. Weil es in der Küche sehr betriebsam zugeht, soll Hudson Ereku unter hohem Zeitdruck abwaschen, putzen und die Küchenmaschinen pflegen. Obwohl der Job nicht seinen ursprünglichen Erwartungen entspricht, ist Hudson Ereku mit seiner Beraterin im Urban Recruitment Centre zufrieden.

»Der Service hier ist klasse, vor allem, wenn man ihn mit vielen anderen Arbeitsvermittlungen vergleicht«, attestiert Hudson Ereku. Er sei sich allerdings »nicht sicher, ob das hier ein privates Zentrum ist, sie sind jedenfalls sehr kompetent, hilfreich und höflich und gar nicht grob - ganz anders als in den traditionellen, staatlichen Jobzentren, wo die Mitarbeiter oft rüde mit uns umgehen und nicht besonders hilfsbereit sind.«

Neue Unübersichtlichkeit

Daß Hudson Ereku die Arbeitsvermittlungsangebote nicht überblickt, ist kein Wunder. Denn die Regierung von Tony Blair schmückt sich nicht nur mit dem Begriff »New Labour«, »Neue Arbeitspartei«, sie sorgt auch auf dem Arbeitsmarkt für neue Unübersichtlichkeit. »Economically inactive«, »wirtschaftlich Untätige«, heißen auf Neuenglisch all diejenigen, die davon betroffen sind. Das Urban Recruitment Centre in Stockwell ist nur ein Mosaikstein der »Arbeitsmarktreform«. In den sechs Jahren, in denen New Labour an der Macht ist, hat die Regierung unzählige Programme geschaffen - den New Deal für Alleinerziehende, den New Deal für Kranke und Behinderte, den New Deal für unter 25jährige, den New Deal für über 25jährige, den New Deal für über 50jährige und sogar einen New Deal für Musiker, weil Musik doch, so das Arbeitsministerium, eines der wichtigsten Exportprodukte Englands sei. In den nächsten vier Jahren will New Labour 3,5 Milliarden Pfund für diese Programme ausgeben.

Ebenso wie US-Präsident Franklin D. Roosevelt in den 30er Jahren mit dem New Deal gegen die wirtschaftliche Depression in den USA vorgehen wollte, will das heute Premierminister Tony Blair in Großbritannien. Dafür den Begriff »New Deal« zu verwenden, das war damals und ist heute ein Euphemismus; es geht nicht um eine gegenseitige Absprache. Bei den Gesetzespaketen des britischen New Deal geht es vor allem um eines: Arbeit um jeden Preis anzunehmen. Das umzusetzen gehört zu den Aufgaben der staatlichen Arbeitsämter, englisch Job Centres. Sie werden zur Zeit flächendeckend zu »Job Centres Plus« umgebaut. Im Klartext: Sie werden mit den »benefit-agencies«, den Sozialämtern, zusammengelegt. Wer jetzt einen Job als unzumutbar ablehnt, dem werden Sozialleistungen bis zu sechs Monate gekürzt oder gestrichen.

Die Tarife für Arbeitslosenunterstützung sind einheitlich festgelegt, und zwar auf Sozialhilfeniveau. Eine Unterscheidung zwischen Arbeitslosengeld und -hilfe wie in Deutschland gibt es nicht. Ganze 53 Pfund die Woche erhalten Erwerbslose und Sozialhilfeempfänger, das sind ungefähr 75 Euro. Zuschüsse gibt es für Alleinerziehende, Rentner und Behinderte. Das Urban Recruitment Centre in Stockwell arbeitet natürlich mit den neuen und alten Job Centres zusammen.

Neben den alten und neuen staatlichen Arbeitsämtern, den Jobbörsen und den neuen Gesetzen gibt es noch zahlreiche Trainings- und Arbeitsprogramme. Teilnehmer erhalten zusätzlich zu ihren Sozialbezügen zehn bis zwölf Pfund pro Woche. So erkauft die Regierung den angenehmen Effekt, daß alle Programmteilnehmer in der Arbeitslosenstatistik nicht mehr mitzählen. Um die Statistik weiter zu drücken, hat das Arbeitsministerium fünfzehn »Employment Zones«, auf Deutsch Beschäftigungszonen, bzw. strukturschwache Gebiete definiert. Das sind Regionen, in denen besonders viele Langzeitarbeitslose wohnen. Hier sollen private Arbeitsvermittler Abhilfe schaffen oder sogenannte Public Private Partnerships, ein Zusammenschluß von privaten und öffentlichen Trägern.

Staatlicher Druck und private Profitinteressen - das ist eine gefährliche Kombination. Auch im britischen Seebad Brighton: Eine endlose Strandpromenade, viktorianische Hotels und das Kreischen der Möwen täuschen Idylle vor. Nicht nur der eingestürzte Westpier, dessen hölzerne Träger einst stolz und mehr als hundert Meter ins Meer ragten, brechen dieses Bild. Auch der Alltag der Arbeiter am Westhafen, den Shoreham Docks, hat wenig mit Idylle zu tun.

Tod am ersten Arbeitstag

»Der Greifer des Krans hatte sich geschlossen. Ich stand nicht weit davon entfernt und hatte direkt in Simons Augen geblickt. Jetzt war der Greifer dort, wo eigentlich sein Kopf sein sollte«, beschreibt der Hafenarbeiter Sean Currey den Tod seines Kollegen Simon Jones. Der starb am 24.April 1998 im Alter von 24 Jahren, weil ein Kran ihm den Kopf abriß. Es war sein erster Arbeitstag in den Shoreham Docks. Die private Zeitarbeitsfirma Personnel Selection hatte ihm diesen Job bei der niederländischen Cargo-Firma Euromin vermittelt. Er sollte dort zusammen mit seinem Kollegen Sean Currey Kopfsteinpflaster von einem Schiff laden und diese Arbeit nach einer kurzen Einweisung selbständig erledigen. Beide standen mit ihren Schaufeln im Bauch des Schiffes, über ihnen schwebte der Greifarm. Simon Jones trug keinen Helm und hatte auch kein Funkgerät, und der Kranfahrer hatte keinen Sichtkontakt zu Simon Jones. So kam es, daß der Kranführer statt der Steine Simons Kopf erwischte. Nach dem Tod von Simon Jones sollte sein Kollege das Blut aufwischen, damit die Ladung pünktlich an die Käufer ausgeliefert werden könne. Doch Sean Currey weigerte sich.

»In den ersten Tagen hatten wir überhaupt keine Vorstellung davon, wie grausam Simon umgebracht wurde«, berichtet Anne Jones, die Mutter von Simon. »Das Mitgefühl und die Unterstützung der Menschen von Brighton brachten uns dazu, den Tod unseres Sohnes nicht einfach so hinzunehmen.« Anne Jones startete gemeinsam mit ihrem Mann Chris und Freunden ihres Sohnes eine Kampagne, die große Wellen in den Medien schlagen sollte. Denn der Student Simon Jones war nicht nur fahrlässig getötet worden. Er war auch zu diesem Job gezwungen worden. »Simon stand unter gewaltigem Druck, Arbeit zu finden. Er hatte sich für ein Jahr von der Universität abgemeldet und Arbeitslosenunterstützung beantragt. Ihm wurde gesagt, wenn er keine Arbeit fände, würde er kein Geld mehr bekommen«, bestätigt Emma Aynsley, die damalige Freundin von Simon Jones.

Zwei Jahre zuvor hatten der politisch aktive Student und seine Freunde für die Hafenarbeiter in Liverpool demonstriert. Dort sollten mehrere hundert Docker entlassen und durch Tagelöhner ersetzt werden. Und die entlassenen Werftarbeiter? Die hätten sich nur als Tagelöhner wieder bewerben können, für weniger Lohn und in ungeschützten Arbeitsverhältnissen. Das war ein Skandal, der weit über die Grenzen Großbritanniens Empörung hervorrief.

Gelegenheits- und Heimarbeit

In Großbritannien arbeitet heute ein Viertel aller Beschäftigten in Zeitarbeit und Gelegenheitsjobs. Genug Geld zum Leben verdient keiner von ihnen. An diesem Trend hat auch der Regierungswechsel 1997 von der Konservativen Partei zu New Labour nichts geändert, im Gegenteil. Die Blair-Regierung ersinnt neue Arbeitsmarktprogramme, baut den öffentlichen Dienst ab und vergibt Aufträge an private Arbeitsfirmen, die nun zum Teil die Funktion von Arbeitsämtern übernommen haben. Im Rahmen dieser Umstrukturierung drängt New Labour mehr und mehr Menschen in Zeit-, Gelegenheits- und Heimarbeit. In den Liverpooler Docks arbeiten heute fast nur noch Gelegenheitsarbeiter. Dasselbe gilt für die britische Filiale der niederländischen Firma Euromin, wo Simon Jones 1998 den Tod fand.

»Niemand kann uns Simon zurückbringen. Aber wir wären versöhnt, wenn es nicht diese absolute Beleidigung gäbe, daß die Verantwortlichen nicht einmal verfolgt werden«, sagt die Mutter von Simon Jones. Tatsächlich weigerten sich die britischen Strafverfolgungsbehörden, gegen das niederländische Unternehmen und die Zeitarbeitsfirma Personnel Selection zu ermitteln. Doch ein Jahr später zogen Hunderte Menschen im Namen der Kampagne »Gerechtigkeit für Simon Jones« nach Westminster in London vor den britischen Parlamentssitz. Sie forderten nicht nur Gerechtigkeit für Simon Jones. Sie forderten auch, daß ungeschützte Beschäftigungsverhältnisse, die täglich unzählige Menschenleben aufs Spiel setzen, beendet werden. Während sie draußen ihre Spruchbänder hochhielten, stellte drinnen im Parlament der linke Labour-Abgeordnete George Galloway eine Anfrage zum Fall Simon Jones.

»Simon war kein Hafenarbeiter. Er wurde getrieben von den Bedingungen der Arbeitslosenhilfe und in den Tod geschickt von einem Unternehmen, Personnel Selection. Dieses Unternehmen hat zweifellos seine gesetzlichen Verpflichtungen verletzt. Es hat sich nicht versichert, ob sein Kunde überhaupt für diese Arbeit geeignet ist. Sie haben ihn in die Docks geschickt, ohne die Wildwestfirma Euromin zu überprüfen. Euromin und der blutbefleckte Manager James Martell müssen ihre todbringende Fahrlässigkeit vor Gericht verantworten.«

Zu einem gerichtlichen Urteil kam es erst dreieinhalb Jahre nach dem Tod von Simon Jones. Am 29.November 2001 sprach ein Gericht den Manager James Martell von der Anklage des Totschlags frei und verurteilte Euromin wegen der Verletzung von Sicherheitsauflagen zu der vergleichbar hohen Strafe von 50.000 britischen Pfund, etwa 75.000 Euro. Aber Simon Jones war nur eines von Hunderten Opfern tödlicher Arbeitsunfälle. In weniger Aufsehen erregenden Fällen kommen die Verantwortlichen mit einer Geldstrafe von 2.500 Pfund davon, wenn überhaupt gegen sie ermittelt wird. Und in dem Maße, wie sich die Gelegenheitsarbeit in Großbritannien ausgeweitet hat, haben auch die tödlichen Unfälle am Arbeitsplatz zugenommen: 374 waren es 1998, im vergangenen Jahr starben 440 Menschen.

Teil 2
Moderne Kopfgeldjäger

Im Zentrum von Brighton, an der vielbefahrenen Northstreet, befinden sich seit Oktober 2000 im ersten und zweiten Stock eines Bürogebäudes die Räumlichkeiten von Working Links. Das ist ein Publik Private Partnership (PPP), sie besteht aus Manpower, der weltweit größten Zeitarbeitsvermittlung, der Beratungsfirma Cap Gemini Ernest & Young sowie Job Centre Plus, einer Abteilung des britischen Arbeitsministeriums. In Brighton hat Working Links seit der Eröffnung seiner Niederlassung eine herausragende Rolle auf dem Arbeitsmarkt gespielt. Denn die Regierung hat Brighton und die Nachbarstadt Hove zur »Beschäftigungszone« erklärt, das heißt, hier gibt es besonders viele Langzeitarbeitslose. Die betreut Working Links ebenso in zehn anderen der fünfzehn »Employment Zones«, die es in Großbritannien gibt.

In seinem jüngsten Geschäftsbericht rühmt sich Working Links, mit privaten Leiharbeitsfirmen zusammenzuarbeiten. 15 Prozent seiner Klienten hat das Unternehmen 2002 über Leiharbeitsfirmen in Jobs vermittelt. Auch über die Firma, die einige Jahre zuvor Simon Jones in den Tod vermittelt hatte.

»Working Links vermittelt Arbeitslose zu der Leiharbeitsfirma Personnel Selection, obwohl sie wissen, daß dort mit Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz noch immer fahrlässig umgegangen wird«, empört sich Marc Jeffreys, der auch erwerbslos ist. »Erst im vergangenen Jahr erfuhren die Eltern von Simon Jones, daß die nicht einmal einen Gesundheits- und Sicherheitsbeauftragten für den Industriesektor haben, in dem die meisten Unfälle passieren.«

Marc Jeffreys ist froh, daß er noch nicht in eine gefährliche Situation am Arbeitsplatz geraten ist. Der 32jährige arbeitet in einer Erwerbslosengruppe in Brighton mit und war selbst schon mehr als 18 Monate arbeitslos. Er weiß, was es heißt, sich alle zwei Wochen beim Arbeitsamt zu melden, um jeweils 106 Pfund, die gesetzlich festgelegte Arbeitslosenunterstützung, beziehen zu können. Im Monat sind das etwa 300 Euro. Nach einem halben Jahr rechnet die Behörde auch das Einkommen von Lebensgefährten an, die mehr als 24 Stunden die Woche arbeiten. Wer mehr als 8000 Pfund Vermögen besitzt, bekommt gar keine Unterstützung, sondern muß erst sein Erspartes aufbrauchen. Aber Marc Jeffreys war bisher nicht in der Lage, so viel Geld anzusparen.

Auch niedrigere Arbeit annehmen

Als er eineinhalb Jahre erwerbslos war, schickte das staatliche Arbeitsamt in Brighton ihn schließlich zu Working Links. Er erklärte seiner Beraterin, daß er sich für alte Sprachen interessiere, Latein und Altgriechisch beherrsche und auch noch Hebräisch lernen will. Er hatte als wissenschaftlicher Mitarbeiter an einem Forschungsinstitut sowie als Übersetzer gearbeitet - nun hoffte er auf einen neuen Job in der Branche. Die Leiterin von Working Links in Brighton, Sandra Moore, will Arbeitslose wie Marc Jeffreys unterstützen. »Wir behandeln jeden als Individuum«, beteuert sie, »uns interessieren die langfristigen Ziele, und wir wünschen unseren Klienten, daß sie die auch erreichen.« »Kurzfristig kann das bedeuten«, räumt Sandra Moore ein, »daß sie auch niedrigere Arbeit annehmen müssen, einfach um Erfahrung zu sammeln.« »Aber wir haben immer ihr langfristiges Ziel im Hinterkopf und machen alles, damit sich ihre Träume erfüllen«, verspricht die Leiterin von Working Links.

»Sie haben mir gesagt, ich müßte nach Jobs suchen, die ich auch kriegen könnte, und daß ich sowieso nicht die Arbeit finden würde, die ich suche«, beschwert sich hingegen Marc Jeffreys. »Also versuchten sie, mir Teilzeitjobs anzudrehen, die aber als Vollzeitarbeit gewertet werden, Arbeit in Bars und solche Dinge. Sie erklärten mir, daß alle Bewerbungen, die ich losschicken wollte, unrealistisch seien und daß ich mich auf Billiglohnjobs bewerben sollte.«

Billiglohnjobs gibt es in Brighton reichlich und nicht nur in Kaffeebars. In dem Seebad an der Südküste Englands boomt der Dienstleistungssektor. Es gibt unzählige Stellen bei Reinigungsfirmen, in Call-Centers, im Hotel- und Gaststättengewerbe, bei privaten Sicherheitsdiensten, in kleinen Läden und Supermärkten, von denen viele 24 Stunden täglich geöffnet haben. Jede Arbeit, die mehr als 16 Wochenstunden umfaßt, gilt per Gesetz als Vollzeitarbeit. Dann erlischt die Berechtigung auf Job Seekers Allowance, so heißt die Arbeitslosenunterstützung in Großbritannien. Für jeden Arbeitslosen, der einen solchen Job annimmt, bekommt Working Links eine Kopfprämie vom Arbeitsministerium, auch dann, wenn Langzeitarbeitslose ein eigenes Unternehmen gründen, meistens als Taxifahrer oder im Einzelhandel.

500.000 Pfund Reingewinn im Jahr

300 Pfund bekommt die PPP vom Arbeitsministerium als Verwaltungsgebühr, wenn sich Erwerbslose erstmals bei ihr melden. »Wenn es uns gelungen ist, sie für mindestens 13 Wochen in eine Vollzeitstelle zu vermitteln, gibt es weitere 2500 bis 3000 Pfund vom Ministerium. Das hängt davon ab, wie lange sie vorher arbeitslos waren - mehr oder weniger als drei Jahre«, berichtet Sandra Moore, die über die Zeitarbeitsfirma Manpower zu Working Links gekommen ist und vorher als Fotomodell und Choreographin gearbeitet hat. Und das ist noch längst nicht alles: Wenn ein Erwerbsloser länger als drei Monate von Working Links betreut wird, erhält die Agentur 1300 Pfund, von denen sie die Arbeitslosenunterstützung bezahlen soll. Findet eine Vermittlung schon im vierten Monat statt, kann Working Links den Rest des Geldes behalten und bekommt 400 Pfund für die erfolgreiche Vermittlung in eine Arbeitsstelle - plus die 2500 bis 3000 Pfund, die es dann später gibt.

»Das ist eine gewaltige Summe, bis zu 5000 Pfund für jeden, den sie aus der Arbeitslosenunterstützung werfen«, erklärt Marc Jeffreys. Das spiegelt sich in ihren Gewinnen wider. Im ersten Geschäftsjahr hat Working Links 500.000 Pfund Reingewinn gemacht. Das ist besonders bemerkenswert, weil die meisten Unternehmen in ihrem ersten Geschäftsjahr Schulden machen. »Unsere Aktionäre freuen sich«, verkündete denn auch der Vorstandsvorsitzende William Smith beim Aktionärstag des Unternehmens. »Es ist eine Situation, in der wir nur gewinnen können«, sagte er. In den Worten von Marc Jeffreys ist es »eine Lizenz zum Gelddrucken«.

Im zweiten Geschäftsjahr hat Working Links seinen Gewinn in den zehn strukturschwachen Gebieten verfünffacht, auf 2,5 Millionen Pfund. Diese Geldmacherei steht im krassen Gegensatz zu den Löhnen, die in den Jobs gezahlt werden, die Working Links vermittelt.

Zum Beispiel im Einkaufsparadies »Safeways«, einem Supermarkt in Brighton. Marc Jeffreys hat hier einen Job angeboten bekommen, zum gesetzlich festgeschriebenen Mindestlohn von vier Pfund 20 die Stunde. Als gut organisierter Erwerbsloser weiß Marc, daß Experten das Existenzminimum bei sechs Pfund 30 ansetzen, ungefähr zehn Euro die Stunde. Für Marc bedeutet das: Wenn er Vollzeit arbeitet, verdient er kaum mehr, als wenn er arbeitslos bleibt oder einen Teilzeitjob mit weniger als 16 Stunden die Woche annimmt. Denn Sozialleistungen wie Wohngeld und Fahrzuschüsse werden ihm bei einer Vollbeschäftigung gekürzt oder ganz gestrichen, selbst wenn sein jährlicher Verdienst nur bei knapp 10.000 Pfund liegt, das sind 15.000 Euro. Auch die seit April neu eingeführte Steuervergünstigung für Einzelpersonen und kinderlose Ehepaare, die ihm 25 Pfund mehr in der Woche bringen würde, insgesamt 160 Euro, überzeugt Marc Jeffreys nicht.

Wenn eine volle Stelle wirtschaftliche Vorteile gegenüber der Arbeitslosigkeit oder Teilzeitarbeit haben soll, dann müßte sie mindestens das Dreifache des Mindesteinkommens erbringen, also über 30.000 Pfund brutto im Jahr. Davon ist Frank Field überzeugt. Er war bis 1998 Sozialminister und wurde dann von Tony Blair entlassen, weil er sich gegen Einschnitte ins soziale Netz wandte. Wer diese 30.000 Pfund nicht verdient, gehört zu den »working poor«, den »arbeitenden Armen«. Allein 64 Prozent aller erwerbslosen Eltern, die eine Arbeitsstelle in den Jahren 2000 und 2001 angetreten hatten, gehören dazu. Sie mußten Steuervergünstigungen in Anspruch nehmen, weil sie nicht mehr als 12.500 Pfund im Jahr in ihrem neuen Job verdienten. Auch wenn die Jobs miserabel bezahlt sind, ist der Druck, sie anzunehmen, ungeheuer groß. Denn staatliche Arbeitsämter und auch Working Links haben die Macht, Erwerbslosen bei vermeintlichem Fehlverhalten bis zu sechs Monaten die finanzielle Unterstützung zu streichen. Die genauen Kriterien für das Fehlverhalten sind bei Working Links nicht näher definiert. Dieser Teil der Verträge zwischen Working Links und der Regierung, so Marc Jeffreys, sei Bestandteil der »corporate confidentiality«, einer Art Firmengeheimnis, das nach britischem Gesetz geschützt ist.

»Wenn man nicht zu Working Links geht, um sich vermitteln zu lassen, stoppen sie alle Zahlungen. Es ist keine Sanktion, sondern man wird einfach aus dem ganzen System rausgeschmissen, und das bedeutet, daß man überhaupt kein Geld mehr bekommt«, erklärt Marc Jeffreys. »Ich hätte dann zwar beim Arbeitsamt wieder Arbeitslosenunterstützung beantragen können, aber die hätten mich sofort wieder zu Working Links geschickt.«

Ganz unten auf der Leiter

Marc Jeffreys hat so schlechte Erfahrungen mit Working Links gemacht, daß er regelmäßig in ein unabhängiges, selbstverwaltetes Arbeitslosenzentrum fährt, um sich beraten zu lassen. Umgekehrt kann er dort auch anderen mit Tips weiterhelfen, die gerade ihren ersten Besuch bei Working Links hinter sich haben. In Brighton gibt es immerhin zwei Arbeitslosenzentren. Damit ist das Seebad besser dran als London. Dort gibt es kein einziges mehr, weil die Stadtverwaltung sämtlichen Arbeitslosentreffs die Unterstützung gestrichen hat.

Das Unemployed Workers Center ist in Hollingdean, einem Vorort von Brighton. Hollingdean ist ein einfaches Arbeiterviertel, in dem heute viele Arbeitslose leben, mehr als in anderen Stadtteilen Brightons. Das war ein Grund, warum mehrere Arbeitslosengruppen entschieden, am 1.Mai 1999 hier ihr neues Zentrum zu eröffnen. Finanziert wird es von einigen lokalen Gewerkschaften, aus Lotteriegeldern und Spenden. Es kann sich nur eine bezahlte Halbzeitkraft leisten, Shanty Haft, die von einem knappen Dutzend ehrenamtlicher Helfer unterstützt wird.

Das Schaufenster des Arbeitslosenzentrums hängt voller Plakate und Zeitungsausschnitte zu den Themen Erwerbslosigkeit, Rassismus und Krieg. Neben einem Schild mit den Öffnungszeiten steht in großen Lettern: »More Party, less Labour« - Mehr feiern, weniger Arbeit«, eine ironische Anspielung auf die Arbeitsmarktpolitik der Labour Party. Im vorderen Raum steht eine Kühltheke. Weil es im Stadtteil keine günstige Einkaufsmöglichkeit gibt, werden hier auch Früchte, Gemüse und Milch verkauft. Einen Tag altes Weißbrot gibt es sogar umsonst, eine tägliche Spende der Bäckerei in Hollingdean. Tony Greenstein, einer der ehrenamtlichen Helfer, streitet mit ein paar Schulkindern. Sie sollen die fünf Computer freigeben, die eigentlich für Besucher vorgesehen sind, die Behördenbriefe schreiben, recherchieren oder ihre elektronische Post erledigen wollen. Aber die Kinder und Jugendlichen spielen lieber »Lara Croft«. Besonders in den Schulferien kommen sie, um sich mit Computerspielen oder in Chatrooms die Zeit zu vertreiben. Nur wenige Haushalte in Hollingdean besitzen einen Computer.

»Ich bin alleinerziehend und war selbst lange Zeit arbeitslos«, erzählt Shanty Haft. »Damals habe ich mich entschieden, mich für soziale Belange einzusetzen, denn die Rechte der Leute werden überall zurechtgestutzt, und das macht mich sehr wütend.« Die meisten Besucher des Arbeitslosenzentrums haben permanent Probleme mit ihren Sozialleistungen, mit hohen Schulden oder Ämtern und Institutionen. »Oft verstehen sie nicht, warum«, erklärt Shanty Haft. »In Großbritannien gibt es viele Analphabeten und vor allem hier in Hollingdean, die Leute verstehen nicht immer, was ihnen mit der Post geschickt wird.« Meistens reicht es aus, den Erwerbslosen die Sachverhalte zu erklären, manchmal helfen Shanty Haft und ihre ehrenamtlichen Mitarbeiter auch, indem sie Briefe und Bewerbungen schreiben.

»Meine große Hilfe hier ist Shanty Haft«, bestätigt Barry Miller. Er ist 48 Jahre alt und lebt in Hollingdean. Er hatte nie die Chance einer Ausbildung und kommt täglich ins Arbeitslosenzentrum. Früher hat Barry Miller öfter auf Baustellen gearbeitet. Heute kann er das nicht mehr, er leidet unter Osteosklerose. Seine Knochen sind spröde, und er lebt ständig mit der Gefahr, sich schon bei harmlosen Unfällen die Knochen zu brechen.

»Ich habe keine Qualifikation, also bin ich ganz unten auf der Leiter«, konstatiert Barry Miller, »und es gibt viele, viele Menschen wie mich. Deshalb werden wir für einen Hungerlohn in schlechte Jobs gedrängt.« Weil in Brighton gerade wie überall in Großbritannien kommunale Wohnungen an private Investoren verkauft werden, fürchtet sich der alleinstehende Barry Miller auch vor Obdachlosigkeit. »Wenn man nicht mehr genug Geld hat und dann keine billige Unterkunft finden kann - wo soll man leben? In einem Zelt, auf einem Feld? Oder an einer Bushaltestelle, in einem Pappkarton?«

Auch er war wie Marc Jeffreys schon mehr als 18 Monate arbeitslos und mußte bei Working Links vorsprechen. »Die Beraterin hat mir drei Reinigungsjobs angeboten, Hausputz, ich hab sie nicht direkt abgelehnt. Ich habe die Formulare zum Ausfüllen mit nach Hause genommen, sie mir angeschaut und dann in den Mülleimer geworfen«, erzählt Barry Miller. Am nächsten Tag ist er zum Arzt gegangen, der ihn krank geschrieben hat. Einen Tag später ist er mit der Krankmeldung wieder zu Working Links. Trotz der Osteosklerose drohte ihm die Beraterin. »Die Frau sagte zu mir: Du kannst rennen, Du kannst springen, aber Du wirst Dich nicht ewig vor mir verstecken können«, so Barry Miller und flucht: »Was für ein Miststück!«

Antidepressiva

Barry Miller geht mit seinen schlechten Erfahrungen sehr selbstbewußt um. Nicklas White, seinem Bekannten aus dem Arbeitslosenzentrum gelingt das nicht. Der junge Mann mit einem Hochschulabschluß in Informationstechnologie wurde tief getroffen von der demütigenden Behandlung, die er bei Working Links erlebte. »Bei den Treffen mit meinem Berater waren wir wie Gegner, wie Feinde«, erzählt Nicklas White. Nach diesen Erfahrungen wollte er nicht mehr mit seinem Berater sprechen und wurde dafür mit einem zweiwöchigen Entzug der Arbeitslosenunterstützung bestraft. Nachdem ein Arzt ihn anschließend krank geschrieben hat, bezieht Nicklas White heute Krankengeld. »Der Arzt wußte, daß ich depressiv war und daß die Behandlung bei Working Links dies noch verschlimmert hat.« Der Informatiker nimmt heute starke Antidepressiva. »Ich kenne viele Leute, die Psychopharmaka schlucken«, meint er. Das sei kein Wunder, denn »wenn man jede Woche mit einem ausgesprochen feindlich gesinnten Angestellten zu tun hat, wird man immer depressiver, und man fühlt sich sozial wertlos, weil man immer wieder gesagt bekommt, daß man ihr Spiel mitspielen muß, daß das zu den gesellschaftlichen Regeln gehört.«

In Großbritannien beziehen mittlerweile drei Millionen Menschen Krankengeld oder Arbeitsunfähigkeitsrente. In den Augen der New-Labour-Regierung gehören auch sie zu den »economically inactive«, den »wirtschaftlich Untätigen«. Das will die Regierung mit dem »New Deal for disabled« ändern. Das Gesetzespaket für Kranke und Behinderte beinhaltet unter anderem einen Pflichttermin, bei dem die Arbeitsfähigkeit ausgelotet werden soll. Bei Nichterscheinen droht Leistungsentzug. So sollen auch Kranke und Behinderte in Billigjobs gezwungen werden.

Viele Behinderte sind von Behindertendiensten abhängig. »Ein Teil davon, die medizinische Abteilung, ist jetzt privatisiert worden«, berichtet Shanty Haft. Die Mitarbeiter dieser medizinischen Abteilung untersuchen Patienten und überprüfen, ob sie berechtigt sind, Krankengeld oder Behindertenleistungen zu beziehen. »Viele der Gutachter arbeiten sehr unprofessionell, wollen nur die Quote erfüllen und so viele Leute wie möglich vom Bezug ausschließen«, so die Mitarbeiterin des Arbeitslosenzentrums, »ihr Ansatz ist, den Patienten einfach nicht zu glauben, Sie stellen hinterhältige Fragen, damit die Patienten irgendwann sagen, daß sie jede Arbeit machen können.« Das sei auch dann der Fall, wenn jemand offensichtlich so krank ist, daß er gar nicht arbeiten kann. »Wir können dann Widerspruch einlegen, und meistens geht der auch durch. Aber wir hatten auch schon Fälle, in denen wir uns massiv über die ganze Prozedur beschweren mußten, bis Entscheidungen revidiert wurden.« Wenn man nicht zu diesen Untersuchungen und Interviews erscheint, werden die Leistungen gekürzt. »Das passiert häufig«, sagt Shanty Haft, »dann bekommen zum Beispiel körperlich Behinderte keine Fahrzuschüsse mehr und sind ans Haus gebunden, bis die Entscheidung wieder zurückgenommen wird.« Noch hilfloser sind geistig Behinderte. »Sie können sich selbst gar nicht repräsentieren, verstehen die Fragen überhaupt nicht und sind besonders schutzlos.«

Teil 3
Modell für die EU ?

Shanty Haft, Marc Jeffreys, Barry Miller, Tony Greenstein und andere Mitarbeiter des Arbeitslosenzentrums in Brighton wollen die menschenverachtende Arbeitsmarktpolitik der Regierung in Großbritannien nicht hinnehmen. Darum demonstrieren sie manchmal vor dem Bürogebäude in der North Street, in dem Working Links, die halb staatliche, halb private Arbeitsvermittlung untergebracht ist.

Die Reaktionen der Besucher von Working Links sind sehr unterschiedlich. »Als wir draußen demonstrierten, fragten uns viele Leute: ›Was ist denn los mit Working Links, sie haben mir doch geholfen!‹«, berichtet der Aktivist Marc Jeffreys. Working Links hat nämlich zwei Abteilungen: im ersten Stock das sogenannte »Action Team«, die freiwillige Abteilung, vergleichbar mit dem Urban Recuritment Centre in Stockwell. »Aber alle anderen, die zwangsweise in der anderen Abteilung waren, sagten ausnahmslos: ›Oh nein, sie sind furchtbar‹. Uns wurde sogar erzählt, daß Mitarbeiter dort Leute bestochen haben, damit sie sich nicht mehr arbeitslos melden.« Marc Jeffreys sagt, daß Working Links einigen Besuchern 600 Pfund geboten hat, wenn sie für drei Monate keine Arbeitslosenunterstützung mehr beziehen. Mit anderen Worten: lang genug, damit Working Links die Vermittlungsgebühr von 2500 bis 3000 Pfund einstreichen kann. »Diese Trennung in zwei Abteilungen ist sehr werbewirksam«, so Marc Jeffreys. Dabei verfügt das »Action Team« kaum über Geld, das es für die Arbeitslosen ausgeben könnte. Die Mitarbeiter dort führen vor allem Telefongespräche für ihre Klienten. »Im Grunde genommen sind sie das freundliche Gesicht, das Working Links der Außenwelt zeigen kann«, resümiert Marc Jeffreys.

»Die Demonstranten glauben anscheinend, es sei unmoralisch, von jemandem zu erwarten, als Gegenleistung für die Arbeitslosenunterstützung auch nach Arbeit zu suchen«, kommentiert dagegen Sandra Moore, die Managerin von Working Links, die Proteste und stellt fest: »Sie sind anscheinend nicht mit dem Sozialsystem in Großbritannien einverstanden.«

Das kann Marc Jeffreys voll und ganz unterschreiben. »Wir wollen Working Links einfach loswerden, denn es ist grundsätzlich falsch, daß das Leben von Menschen, ihr Geld, ihr Auskommen, in die Hände eines Unternehmens gelegt wird, das nur darauf aus ist, Profite zu machen.« Mißtrauen gegenüber solchen Institutionen sei grundsätzlich angebracht. »Was immer die soziale Rhetorik sein mag - die müssen sie haben, sonst würden sie den Vertrag nicht bekommen -, grundsätzlich geht es ihnen darum, Geld zu machen, indem sie Menschen kaufen und verkaufen.«

Prämien für Job-Center

Für Working Links funktioniert das Konzept. Das Geschäft lohnt sich. 85 Prozent der vermittelten Erwerbslosen bleiben länger als drei Monate in ihrem Job, heißt es im letzten Geschäftsbericht. Und was passiert dann? Dazu fehlen die Angaben in dem Papier. Sie sind für den Umsatz auch uninteressant, denn sobald Erwerbslose drei Monate ihre Arbeit behalten, fließt das Kopfgeld vom Arbeitsministerium. Nun will die Geschäftsleitung auch in anderen Bereichen der Arbeitsmarktverwaltung Geschäfte machen, z.B. mit Alleinerziehenden, Kranken und Behinderten. Man denkt sogar an die Ausweitung des Marktes über die Landesgrenzen hinaus. Zahlreiche interessierte Anfragen aus dem Ausland haben Working Links dazu bewogen, nun auch auf dem Festland nach Geschäftspartnern zu suchen.

»Die besten Beschäftigungszonen, die von Working Links und anderen Unternehmen aus dem privaten Sektor verwaltet werden, erzielen beeindruckende Erfolge und sind bei den Anspruchsberechtigten sehr beliebt«, sagte der britische Premierminister Tony Blair im vergangenen Jahr. »Und wir ziehen daraus wichtige Lehren: angefangen von einer ›Wir schaffen das‹-Mentalität, die Empfänger von Arbeitslosenunterstützung als potentielle Beschäftigte sieht; wir geben den Beratern größere Entscheidungsfreiheit und dadurch mehr Verantwortung und Flexibilität; und wir kombinieren hohe Bonuszahlungen mit echter Führungsstärke, Erfolgsprämien und Teamarbeit.« Diese »Errungenschaften« der privaten und halbprivaten Einrichtungen sollen nun auch in den staatlichen Job Centres Plus, den fusionierten Arbeits-/Sozialämtern, umgesetzt werden.

Vorzeigeobjekt

Das Job Centre Plus in Streatham ist ein Vorzeigeobjekt für die administrative Verschmelzung von Sozialhilfe und Arbeitslosenunterstützung. Es liegt etwas außerhalb im Süden von London. Politiker, Beamte, Journalisten und Besuchergruppen aus dem In- und Ausland werden hier fast täglich durchgeschleust. Im vergangenen Jahr hat es sogar ein »seal of approval«, das Gütesiegel des Premierministers, erhalten, der dort eine seiner großen Reden zur »Reform« des Wohlfahrtsstaates hielt.

Im Eingangsbereich des dreistöckigen Arbeits- und Sozialamtes sprechen sogenannte Floorwalker in weißem Hemd und blauem Anzug die Besucher an. Sie dirigieren diese in die richtige Abteilung: Antragsteller für Sozialleistungen, Arbeitssuchende, Behinderte und Alleinerziehende, für die es auch ein gesondertes New-Deal-Programm gibt. Außerdem trifft man Sicherheitspersonal in Uniformen, ausgerüstet mit Funkgeräten und Holzknüppeln.

Überall im sogenannten Job Centre Plus in Streatham ist leise Musik zu hören. Komfortable Sitzmöbel mit orangefarbenen und blauen Bezügen laden in der Mitte der jeweils 150 Quadratmeter großen Räume zum Verweilen ein. Im Abstand von mehr als zehn Metern sind jeweils drei Computerterminals in Hüfthöhe angebracht, an denen Besucher per Mausklick auf Stellensuche gehen können, sogenannte »Job-Points«. Außerdem gibt es Seminarräume für Besuchergruppen und Bewerbungstraining. Vertreter von Großunternehmen wie der Kaufhauskette Walmart, der britischen Post Royal Mail, von Sicherheitsdiensten, der Londoner Polizei und dem National Health Service werben hier im Job Centre Plus auf Seminaren direkt ihre Beschäftigten an.

Die Schreibtische der Mitarbeiter sind entlang der Wände aufgestellt, einer neben dem anderen. Anders als in den alten Arbeitsämtern trennen keine Glasscheiben mehr die Arbeitssuchenden und Antragsteller von den Sachbearbeitern.

Trennscheibenstreik

»Mehr als 90 Prozent unserer Besucher haben sehr positiv auf die Veränderung reagiert«, berichtet Dave Ashdown, Leiter des kombinierten Arbeits- und Sozialamtes in Streatham. »Sie begrüßten die Verbesserung der Räumlichkeiten, die freundliche und offene Atmosphäre. Viele Leute lächeln hier, unsere Beschäftigten sind gut gelaunt und haben sich ganz unseren Besuchern verschrieben«, lobt er seine Beschäftigten.

Dave Ashdown arbeitet seit seinem Ausbildungsabschluß als Beamter in diesem Sektor. Er ist optimistisch, denn in der Erfolgsskala steht Streatham an dritter Stelle von insgesamt 17 Pilotprojekten in Großbritannien. Täglich kommen 500 bis 600 Besucher. Schnell soll es gehen, deshalb haben sie jeweils maximal zehn Minuten Zeit, um mit ihren Beratern zu sprechen. Pro Woche wird 27 von ihnen eine Stelle vermittelt - rund 1300 im Jahr. Dem stehen jährlich 850 Besucher gegenüber, die bestraft werden, weil sie angebotene Jobs abgelehnt haben. Ihnen wird in der Regel sechs Monate lang ihre Arbeitslosenunterstützung oder die Sozialhilfe entzogen.

Manchmal sind in solchen Fällen nicht nur die Erwerbslosen in den Job Centres die Leidtragenden. Bisweilen trifft es auch die Mitarbeiter der Arbeits- und Sozialämter. Eine Umfrage der Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes, der Public and Commercial Service Union (PCS), belegt, daß fast die Hälfte der Beschäftigten in solchen Fällen Angst vor körperlichen Angriffen hat. Nur die Beschäftigten im Transportsektor, zum Beispiel Bahnschaffner, fürchten sich noch mehr vor Attacken ihrer Kundschaft. Als die Trennscheiben zwischen Sachbearbeitern und Besuchern abgeschafft wurden, streikten denn auch die Mitarbeiter des Arbeitsamtes in Streatham. Im April 2002 weitete sich dieser Streik schließlich landesweit aus und wurde in Großbritannien zum längsten Ausstand der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes in den vergangenen zwanzig Jahren.

»Das Problem war, daß der Arbeitgeber die Trennscheiben abgeschafft hat, ohne an die persönliche Sicherheit der Mitarbeiter zu denken«, berichtet Eddie Spence, der in der Gewerkschaft die Beschäftigten der Arbeits- und Sozialämter vertritt. »Es gab Fälle, in denen Mitarbeiter mit Gegenständen attackiert wurden, zum Beispiel mit Messern, oder sie wurden sogar mit Schußwaffen bedroht - ein Arbeits- und Sozialamt ist keine Umgebung, in der man ohne Schutz arbeiten kann.«

Eddie Spence hat eine Liste angelegt. Sie verzeichnet mehrere Dutzend Übergriffe dieser Art für das vergangene Halbjahr. Seine Gewerkschaft protestiert nicht nur gegen das Symptom, sondern auch gegen die Ursache der Gewalt. »Wir wenden uns nachdrücklich dagegen, daß die Regierung Menschen mit Leistungsentzug bestraft, die nicht den Vorgaben und Standards der Arbeitsmarktpolitik entsprechen«, sagt Eddie Spence. Das verursache Gewalt. »Auch unsere Mitglieder sind der Ansicht, daß die Zwangsmittel ihr Ziel verfehlen.«

Doch der Streik konnte weder die Zwangsmittel verhindern noch die Trennscheiben erhalten. Statt dessen sind im kombinierten Arbeits- und Sozialamt in Streatham 33 Überwachungskameras und Alarmknöpfe für 85 Mitarbeiter installiert worden.

48 Stunden die Woche

Es gibt noch einen weiteren Grund, der den Beschäftigten in den sogenannten Job Centres Plus das freundliche Lächeln gefrieren läßt. Viele von ihnen machen derzeit die Erfahrung, daß durch die Ausweitung des Niedriglohnsektors auch ihr eigener Lohn sinkt. Fast 40 Prozent der Beschäftigten im öffentlichen Dienst arbeiten inzwischen für einen Bruttolohn von weniger als 15.000 Pfund im Jahr. Damit gehören zwei Fünftel der Angestellten und Beamten der britischen Regierung selbst zu den »Working poor«, den arbeitenden Armen.

»Viele tausend unserer Mitglieder müssen selbst Sozialleistungen beantragen, weil ihr Lohn so niedrig ist«, erklärt der Gewerkschaftsfunktionär. Einige Beschäftigte in den Job Centres Plus verdienten weniger als 10.000 Pfund im Jahr. »Das ist kein Lohn, mit dem man einen normalen Lebensstandard erhalten kann.« Eddie Spence erläutert, daß in den kombinierten Arbeits- und Sozialämtern Prämien eingeführt werden, um die Löhne der Beschäftigten zu erhöhen. Im Job Centre Plus in Streatham werden die Mitarbeiter in eine Skala von A bis D eingeteilt und können so bis zu 1000 Pfund zusätzlich im Jahr verdienen. Honoriert wird die Anzahl der Vermittlungen und einige andere Leistungsfaktoren. Das Arbeitsministerium zahlt außerdem einen Teambonus für die Job Centres Plus, die besonders erfolgreich arbeiten. Er orientiert sich am Gesamtbudget der jeweiligen Einrichtung.

In den Job Centres Plus sind Bonuszahlungen für die einzelnen Teams in der Höhe von 7,5 Prozent vorgesehen, wenn die Belegschaft entsprechende Ziele erfüllt. Die Regierung will dieses Modell auf das ganze Ministerium ausweiten. Das wird viel Geld kosten. »Nur wenn die Anzahl der Beschäftigten weiter reduziert wird, kann dieses Modell überhaupt finanziert werden«, befürchtet Eddie Spence, »wir werden uns in der unsinnigen Situation wiederfinden, wo Mitarbeiter entlassen werden müssen, um die Bonuszahlungen zu finanzieren. Aber wenn es weniger Mitarbeiter gibt, wird es unmöglich sein, die gesetzten Ziele zu erreichen. Das ist ein Teufelskreis.«

Allein im Bezirk »Greater London« sind Anfang dieses Jahres 500 Beschäftigte entlassen worden, als weitere Arbeits- und Sozialämter zusammengelegt wurden. Der Druck auf die Beschäftigten wird sich wiederum auf Erwerbslose und Sozialhilfeempfänger auswirken. Denn wie verhält sich ein Mitarbeiter, wenn ein Antragsteller einen Job ablehnt und der Berater sein Vermittlungssoll nicht erfüllt?

Die Arbeitsmarktpolitik in Großbritannien wird in den »beschäftigungspolitischen Leitlinien« der Europäischen Union gerne als leuchtendes Vorbild für andere EU-Länder zitiert. »Bei guter Arbeit gibt es dort mehr Geld«, freute sich auch die hessische Sozialministerin Silke Lautenschläger nach einem Besuch des Job Centre Plus in Streatham im Dezember vergangenen Jahres. Sie kündigte an, auch in Hessen Prämienzahlungen in den dortigen »Job-Offensiv-Centern« einführen zu wollen.

Zurück nach London. Hudson Ereku aus Stockwell weiß nicht, wie lange er es auf seiner vom Urban Recruitment Centre vermittelten Arbeitsstelle als Reinigungskraft in einem Restaurant aushalten wird. 48 Stunden in der Woche unter hohem Druck zu arbeiten - das ist viel für einen 64jährigen. Sollte er aufgeben müssen, hofft er darauf, daß ihn sein Sohn unterstützt, der gerade mit der Royal Army in Afghanistan stationiert ist. Auch für das Kriegshandwerk finden sich Angebote in den Computerterminals der Job Centres: »Soldat bei der Infanterie. Durchschnittlich 40 Stunden die Woche. Einsatzort: Vereinigtes Königreich und Übersee. 10.800 Pfund Einstiegsgehalt, unbefristete Anstellung. Sie müssen zwischen 16 und 27 Jahre alt sein. Berufserfahrung ist nicht erforderlich. Wir bieten Ihnen volles militärisches Training, einschließlich friedensstiftender Maßnahmen«. Die »wirtschaftlich Untätigen«, wie man Erwerbslose in Großbritannien diffamierend nennt, sollen auch als Söldner eine billige Reserve sein.

 

Gerhard Klas

 

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