21.12.2002

Kommentar

In schlechter Gesellschaft

Am 11.12. stellte das Deutsche Kinderhilfswerk den Kinderreport Deutschland vor.
Die Medien vermeldeten: " ... erschrenkende Zahlen ... Deutschland extrem kinderunfreundlich ..."

In früheren Zeiten wurden Kinder und Jugendliche ermahnt: "Begebt euch nicht in schlechte Gesellschaft..." - heute ist guter Rat teuer, denn unsere gesamte Gesellschaft ist schwer krank.
Wohin sollen sich unsere Kinder flüchten ?

Ganz zurecht steht im Report des Deutschen Kinderhilfs- werks: "Kinder sind Seismographen unserer Gesellschaft". Dabei wird doch bereits so viel getan, damit sie nicht so sehr ausschlagen: Mit hochverfeinerten Methoden der Psychologie wird ihnen in Familien, Kindergärten und Schulen das Rückgrad entfernt und wenn das nicht hilft, werden die "auffälligen" 30 Prozent mit Psychopharmaka zugeschüttet - zuvorderst mit einem, dessen Markenname mit R beginnt und das fast alle kennen.

Ein Viertel aller Kinder wird wegen Allergien behandelt. Das Einstiegsalter für die Drogen Nikotin und Alkohol sinkt immer mehr und nähert sich dem 10. Lebensjahr. Mehr als 700 Kinder sterben jährlich an Unfällen und Vergiftungen. Ein Teil der Vergiftungen ist auf Selbsttötung zurückzuführen und die statistischen Angaben über Suizid sind durch die auch heute noch durchgängige Tabuisierung des Suizids mit Sicherheit noch zu niedrig angesetzt. Nichts desto Trotz ist laut Statistik der Suizid nach dem Unfalltod die zweit häufigste Todesursache in der Altersschicht bis 20 Jahre.

In Deutschland sterben zur Zeit täglich drei Kinder und Jugendliche durch Suizid. Weitere 40 Kinder versuchen jeden Tag sich das Leben zu nehmen. Nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen des Bielefelder Kinder- und Jugendforschers Klaus Hurrelmann hat sich die Situation unserer Kinder in den letzten Jahren dramatisch verschlechtert.

Bereits 1897 untersuchte Emile Durkheim, einer der Begründer der modernen Soziologie, in seiner auch heute noch bedeutsamen Arbeit "Der Selbstmord" den Zusammenhang zwischen der gesellschaftlichen Entwicklung und der Entwicklung der Suizidhäufigkeit. Durkheim kommt zu dem Schluß, daß die Suizidhäufigkeit um so größer ist, je mehr die gemeinsamen Werte in einer Gesellschaft auseinanderfallen und an Bedeutung verlieren; demgegenüber fällt die Suizidrate, wenn die Gesellschaft in hohem Maße gemeinsame Werte hat. Durkheim schreibt: "Man darf nämlich nicht übersehen, daß auch das Kind sozialen Bedingungen unterworfen ist, die es durchaus zum Selbstmord bestimmen können. Was diesen Einfluß (...) kennzeichnet, ist die Tatsache, daß Selbstmorde von Kindern je nach Milieu verschieden sind. Sie sind nirgends so zahlreich wie in den großen Städten. Es ist doch so, daß das Leben in der Gesellschaft auch für das Kind früh anfängt, wie die Frühreife des kleinen Städters zeigt. Er ist früher und vollständiger der Zivilisation ausgesetzt und spürt früher und vollständiger ihre Wirkung. Daher kommt es auch, daß in den zivilisierten Ländern die Zahl der Kinderselbstmorde mit beklagenswerter Stetigkeit wächst" (Durkheim, 1897, S. 95f).

Während der letzten 20 Jahre wurde eine steigende Anzahl von Suizidfällen in den meisten europäischen Ländern registriert. In den Jahren 1995 bis 1997 erfaßte das Statistische Bundesamt jährlich über 12.000 Selbstmorde im Bundesgebiet. Es sterben also 50 Prozent mehr Menschen durch Selbsttötung als durch Verkehrsunfälle. Die Dunkelziffer der Suizidversuche liegt aber 15- bis 30mal höher als die Zahl der Suizide.

Das statistische Bundesamt nennt folgende Zahlen, die die Bedeutung der Selbstmordrate erkennbar machen:
Verkehrsunfälle                 8.168 (im Jahre 1997)
HIV-Infektionen                  1.583 (im Jahre 1996)
Drogen                                 1.565 (im Jahre 1996)
Gewalttaten                         1.357 (im Jahre 1996)

Nochmal zum Thema Psychopharmaka:

Daß sich die aufgezeigten Trends noch beschleunigen können, zeigt ein Blick in die USA, deren Entwicklungen sich in den ihr nacheilenden Industriestaaten oft nur um wenige Jahre zeitversetzt wiederholen. Bereits 1996 deckte ein preisgekrönter TV-Report auf, daß die größte amerikanische Non-Profit-Organisation, die sich dem ADS-Symptom beschäftigte und Informationskampagnen an Schulen, öffentlichen Veranstaltungen und in den Medien betrieb im geheimen vom R...-Hersteller Ciba-Geigy (heute Novartis) in Millionenhöhe gesponsert wurde. Es versteht sich von selbst, daß diese Organisation R... als bestes Mittel gegen Hyperaktivität pries.

90 Prozent der gesamten R...-Produktion werden in den USA abgesetzt. Wurden 1988 noch zwei Tonnen Tabletten verschrieben, so waren es 1997 bereits 14 Tonnen! Zu diesem Zeitpunkt standen über sechs Millionen US-Schulkinder unter dem Einfluß von R....

Nochmals zum Thema Verkehrsunfälle:

Vor Jahren verbreitete das in Deutschland meistverkaufte Toilettenpapier, dessen Markenname mit B beginnt, das merkwürdigerweise zwischen Zeitungen und Zeitschriften verkauft wird und das kürzlich sein 50-jähriges Jubiläum feierte, Aufkleber in Herzchen-Form mit der Aufschrift "Ein Herz für Kinder". Auf der anderen Seite wirkt dieses Produkt, da es überflüssigerweise auch mit Bildchen und Schriftzeichen verziert ist, bei einer enormen Anzahl von NutzerInnen anscheinend bewußtseinsverändernd, denn statt zu sinken, steigen die Zulassungszahlen an Autos und die Verkehrsdichte unvermindert, ja beschleunigt. Wie zum Hohn finden sich diese Aufkleber auffallend häufig auf Autos und es stellt sich die Frage, ob damit eine neue Art von Wunderglauben verbunden ist...
Ebenfalls um eine neue Art von Wunderglauben scheint es sich dabei zu handeln, daß immer mehr Kinder morgens und mittags mit dem Auto zwischen Elternhaus und Kindergarten oder Schule hin- und hergefahren werden. Damit sinkt nicht nur die Zukunftschance unserer Kinder auf diesem Planeten, sondern (wie neueste Forschungen belegen) nachweislich auch die "Verkehrstüchtigkeit" und damit Sicherheit dieser Kinder. Aber vielleicht speisen sich diese modernen Rituale auch gar nicht aus einer emotionalen Verbundenheit zum Kind, sondern dienen lediglich der Beschwichtigung des eigenen Gewissens ?

Harry Weber

 

 

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