19.05.2004

Artikel

Perspektiven
im Kapitalismus?

Zum "Perspektivkongreß" von Gewerkschaften und attac

"Eine andere Welt ist möglich" war eine Parole von attac, die bei Jugendlichen große Resonanz fand. Es war ein trotziger Konter gegen Maggie Thatcher's TINA ("There is no alternative"). Diese Totschlagformel wurde von neoliberaler Seite nach dem Zusammenbruch des "realexistierenden Sozialismus" immer gerne benutzt, um die Scheinalternative "Kapitalismus oder Sozialismus" abzurufen. Der "Sozialismus" war - unbestreitbar! - tot, ergo bliebe keine andere Alternative.

Leider war die Parole "Eine andere Welt ist möglich" nicht nur trotzig, sondern auch inhaltsleer. Und so muß es nicht verwundern, daß beim Versuch, nachträglich Inhalte zu unterfüttern, der Fehler begangen wurde, gerade eben auf die Scheinalternative "Kapitalismus oder Sozialismus" hereinzufallen. Unter dem Motto "Es geht anders!" fand am Wochenende an der TU in Berlin der Kongreß mit Vorträgen, Workshops und Podiumsveranstaltungen statt, auf dem nichts anderes diskutiert wurde als Reparaturen (um nicht bösartig von "Reformen" zu reden) der kapitalistischen Ökonomie. Deren Grundlagen, Profit und privater Besitz an Produktionsmitteln, wurde als sakrosankt betrachtet. Daß eine Beseitigung dieser Grundlagen auf demokratischem Wege und der Aufbau einer demokratisch gelenkten Wirtschaft außerhalb des Horizonts der rund 2000 TeilnehmerInnen dieses Kongresses lag, spricht nicht gerade für deren geistige Bewegungsfreiheit oder Kreativität.

Nein, so ganz stimmte es nicht, daß die Parole "Eine andere Welt ist möglich" bisher inhaltsleer gewesen sei. Zumindest von Teilen von attac und der Globalisierungs-"KritikerInnen" wurde als eine Art Wundermedizin zur Heilung des Kapitalismus (so als seien soziale und ökologische Folgen nur Gebrechen eines ansonsten positiven Phänomens) die Tobin-Steuer angepriesen, die ja in der französischen Gründungszeit sogar als "taxation" in das Acronym attac Eingang gefunden hatte. So ganz überzeugend scheinen das jene Kreise heute selbst nicht mehr finden und so mußten nun andere steuerliche Wunderwaffen erfunden werden. Nur: Wer soll sie bedienen? So ist der Marsch durch die Institutionen schon vorgezeichnet, auf dessen bekanntlich verschlungenen Wegen jene wie zufällig ausgesiebten Protagonisten die anfänglich motivierenden Werkzeuge schlicht vergessen...

So mutet es denn geradezu religiös an, wenn die auf dem Kongreß ausgetüftelten Wundermittelchen als "realisierbare Alternativen" angepriesen werden. Statt Sozialabbau und Privatisierung wurde nun also den Regierungen (immer dieser notorischen ehrenamtlichen RegierungsberaterInnen, der sätzer) eine "umfassende Bürgerversicherungen für alle Menschen und Einkunftsarten" präsentiert. Unausgesprochen steht dabei der Glaube dahinter, daß unsere Regierungen Sozialabbau und Privatisierung selbstverständlich nur - fehlgeleitet durch falsche RatgeberInnen - in der besten Absicht und zum Wohle des deutschen Volkes veranstalten und - ergo - nur von den besseren Erfolgsaussichten der "richtigen" Mittelchen überzeugt werden müßten.

Als ein weiteres solches Wundermittel wurde eine "Solidarische Einfachsteuer" von ver.di und Attac vorgestellt. Diese soll kleine und mittlere Einkommen entlasten, während Steuerflucht bekämpft würde. Naiv wird vorgerechnet, daß der Staat auf diese Weise jährlich etwa 50 Milliarden Euro höhere Einnahmen zu verzeichnen hätte. Übersehen wird dabei, daß allein zwischen 2000 und 2003 mit Bedacht Steuerausfälle von insgesamt 78,7 Milliarden Euro (2001: 20,8 Mrd., 2002: 27,2 Mrd., 2003: 30,7 Mrd.) produziert wurden, um dem Publikum von BILD bis Christiansen die "Reformen" schmackhaft zu machen.

Da wohl uneingestanden doch klar ist, daß "Rot-Grün" nicht von solchen Segnungen zu überzeugen sein wird (es wären nun mal Segnungen für die unteren zwei Drittel und "Reformen" für das obere Drittel), sei beim Kongreß "zudem deutlich geworden" (so ist der Pressemitteilung zu entnehmen), daß viele politische Fragen im Zeitalter der Globalisierung nicht auf nationaler Ebene zu lösen seien, sondern daß soziale Rechte auf internationaler Ebene durchgesetzt und ausgeweitet werden müßten. Leider ist den attacis und verdis mangels einschlägiger Erfahrungen nicht klar, daß die Lösung der Probleme ("Fragen") nicht mit Überzeugungsarbeit, sondern nur mit der Organisation einer internationalen Solidarität und materiellen Druckmitteln wie beispielsweise länderübergreifenden Streiks zustande gebracht werden kann.

Positiv zu vermerken ist die immer wieder hervorgehobene Bereitschaft zur Kooperation über die eingefahrenen ideologischen Grenzen hinweg: "Um einen Richtungswechsel in der Politik zu erreichen, wollen die Träger des Kongresses, darunter neben Gewerkschaften Organisationen aus Wissenschaft, Kirche, Sozialverbänden und viele weitere politische Initiativen und soziale Bewegungen, ihre Zusammenarbeit ausbauen. (...) Auch zeichne es sich ab, daß es im nächsten Jahr erstmals ein Sozialforum in Deutschland geben soll." Daß die Richtung stimmt, beweist allein schon die überwältigend geringe Resonanz, die der Kongreß in den Massenmedien fand.

 

Harry Weber

 

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