15.12.2000

Dieter S. Lutz

Kosovo-Krieg
aufgedeckte Propagandalügen

Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 292 vom 15. Dezember 2000, Seite 47

Krieg nach Gefühl

Manipulation: Neue Zweifel am Nato-Einsatz im Kosovo

von DIETER S. LUTZ

Unbemerkt von den Medien hat die Parlamentarische Versammlung der Nato – ein von der Nato unabhängiges Gremium, das als Bindeglied zwischen dem Bündnis und den nationalen Parlamenten fungiert – vor wenigen Tagen einen "Generalbericht" verabschiedet. Eigentlich hätte er einen Aufschrei provozieren müssen. Denn in diesem Bericht über "Die Folgen des Kosovo-Konfliktes und seine Auswirkungen auf Konfliktprävention und Krisenmanagement" wird erstmals das Versagen der westlichen Politiker im Kosovo-Konflikt offiziell eingestanden. Mit Blick auf die "Befreiungsorganisation" UCK der Kosovo-Albaner wird unverblümt zugegeben, die UCK habe im Kosovo eine Verschärfung der Notlage angestrebt, um die Bevölkerung zum Aufstand für die Unabhängigkeit zu bewegen: "So nutzte die UCK das Holbrooke-Milosevic-Abkommen als Atempause, um ihre Kräfte nach den Rückschlägen des Sommers zu verstärken und neu zu gruppieren. Die serbischen Repressionen ließen unter dem Einfluß der KVM in der Zeit von Oktober bis Dezember 1998 nach. Dagegen fehlte es an effektiven Maßnahmen zur Eindämmung der UCK, die weiterhin in den USA und Westeuropa – insbesondere Deutschland und der Schweiz – Spenden sammeln, Rekruten werben und Waffen über die albanische Grenze schmuggeln konnte. So nahmen die Angriffe der UCK auf serbische Sicherheitskräfte und Zivilisten ab Dezember 1998 stark zu. Der Konflikt eskalierte neuerlich, um eine humanitäre Krise zu erzeugen, welche die NATO zur Intervention bewegen würde."

Mit anderen Worten: Nach dem aktuellen Generalbericht der Parlamentarier-Versammlung der Nato und entgegen offiziellen Nato-Darstellungen, insbesondere vor dem Krieg, waren also nicht die Serben, sondern die UCK verantwortlich für die Konflikteskalation und die Erzeugung der Krise im Kosovo. Eine späte, eine zu späte Einsicht! Kritiker, die sie bereits vor und während des Kosovo-Krieges artikulierten, wurden als Verschwörungstheoretiker und Serbenfreunde bezeichnet (siehe F.A.Z. vom 18. Mai 1999). Der einzige deutsche Soldat, der die Dinge beim Namen zu nennen wagte, hat dafür gebüßt: Brigadegeneral Heinz Loquai hat nach einer Intervention des Bundesverteidigungsministeriums seinen Posten bei der OSZE in Wien verloren, gegen den erklärten Willen der OSZE.

Und was ist mit all den Menschen, die als sogenannte Kollateralschäden ihr Leben verloren haben? Nimmt man das späte Geständnis der Parlamentarischen Versammlung der Nato ernst, wer trägt dann die Schuld für den Tod all der unschuldigen Menschen, die bei den Nato-Angriffen das Leben verloren? Wirklich der Dämon in Belgrad, wie uns die westlichen Demokraten glauben machten? Oder doch die demokratisch legitimierten Abgeordneten, Staatssekretäre, Minister, die einen Luftkrieg beschlossen, ohne daß die meisten von ihnen gewußt hätten, was "cruise missiles" oder "Kasetten-Bomben" sind?

Wer hätte sich vor dem Kosovo-Krieg vorstellen können, daß westliche Demokratien einen Krieg aus Gründen einer "humanitären Katastrophe" führen, vor den militärischen Aktivitäten aber keineswegs Vorsorge für die Opfer eben dieser humanitären Katastrophe treffen, sondern, im Gegenteil, Lebensmittel und Zelte, Vorbereitungen für medizinische Versorgung und Wasseraufbereitung mit oder ohne Absicht einfach vergessen? Und vor allem: Wer hätte sich auszumalen gewagt, daß deutsche Demokraten dazu beitragen, Menschenleben zu vernichten, ohne die Fakten und Daten wirklich zu kennen, und dafür noch Applaus bekommen von Journalisten, Philosophen, Dichtern, Juristen, Friedensforschern?

Nach deutschem Verfassungsrecht ist die Entscheidung für Krieg ohne Kenntnis der Daten und Fakten verfassungswidrig. Artikel 26 Absatz 2 des Grundgesetzes verlangt vielmehr zweifelsfreie Gewißheit. Die Entscheidung der Nato, einschließlich Deutschlands, Jugoslawien zu bombardieren, basierte aber gerade nicht auf zweifelsfreier Gewißheit, sondern auf einem unbestimmten "Gefühl", wie die Parlamentarierversammlung heute zugibt: "Mit dem bis heute nicht restlos aufgeklärten angeblichen Massaker von Racak entstand das Gefühl eines Handlungsbedarfs, das nach dem Scheitern der Rambouillet-Verhandlungen zu den von der UCK herbeigesehnten Nato-Luftangriffen führte.

Keine Massenflucht

Allerdings: Waren die Daten und Fakten vor Kriegsbeginn wirklich unbekannt? War der Kosovo-Krieg schon allein deshalb unvermeidbar, weil die Lageberichte der Ämter und Dienste gegenteilige Schlußfolgerungen – oder auch gegenteilige Gefühle – von vornherein nicht zuließen?

Klammern wir einmal die vielen "dirty secrets" wie das erwähnte "Massaker" von Racak oder das angebliche Massaker von Rugovo oder das angebliche KZ in der Fußballarena von Prishtina oder den selbstgezeichneten sogenannten Hufeisenplan und vieles Vergleichbare einfach aus. Lassen wir also all die bewußten Manipulationen zur Erzeugung von "Gefühlen" beiseite, die nicht nur von Nato-Strategen, sondern auch von deutschen Politiker betrieben wurden. Was besagen die vertraulichen – der Öffentlichkeit nicht bekannten – Lageanalysen der Dienste vor Kriegsbeginn? Entsprechen oder widersprechen sie dem Bild des Kosovo-Konfliktes und seiner Eskalation, das die Parlamentarierversammlung heute, zwei Jahre später, so unverblümt zeichnet?

Aus einer Lageanalyse des Auswärtigen Amtes vom 19. März 1999 geht hervor, daß die politischen Entscheidungsträger bereits vor dem Krieg Bescheid gewußt haben müssen. In der internen Vorlage, die wenige Tage vor Beginn des Nato-Bombardements vom 24. März angefertigt und an den Außenminister sowie an das Bundesverteidigungsministerium weitergereicht wurde, heißt es expressis verbis, daß der Waffenstillstand nicht allein von den Serben, sondern "von beiden Seiten nicht mehr eingehalten" wird. Als Ziele der Operationen der jugoslawischen Streitkräfte (VJ) werden ferner auch nicht Völkermord und Vertreibung angegeben. Ziel sei vielmehr, "durch gezielte Geländebereinigung sämtliche Rückzugsmöglichkeiten für die UCK zu beseitigen". Die Zivilbevölkerung werde in der Regel sogar "vor einem drohenden Angriff durch die VJ gewarnt". Allerdings werde "die Evakuierung der Zivilbevölkerung vereinzelt durch lokale UCK-Kommandeure unterbunden". Nach Abzug der serbischen Sicherheitskräfte kehre die Bevölkerung meist in die Ortschaften zurück. Eine Massenflucht in die Wälder sei nicht zu beobachten. Und dann heißt es: "Von Flucht, Vertreibung und Zerstörung im Kosovo sind alle dort lebenden Bevölkerungsgruppen gleichermaßen betroffen. Etwa 90 vormals von Serben bewohnte Dörfer sind inzwischen verlassen. Von den einst 14.000 serbisch-stämmigen Kroaten leben nur noch 7000 im Kosovo. Anders als im Herbst/Frühwinter 1998 droht derzeit keine Versorgungskatastrophe."

Kein Völkermord

Erhärtet wurde diese Lageanalyse des Auswärtigen Amtes vom 19. März 1999 durch den vertraulichen Lagebericht der Nachrichtenoffiziere des Verteidigungsministeriums vom "23. März, 15.00 Uhr". In diesem Bericht, erstellt einen halben Tag vor Kriegsbeginn, heißt es ausdrücklich: "Das Anlaufen einer koordinierten Großoffensive der serbisch-jugoslawischen Kräfte gegen die UCK im Kosovo kann bislang nicht bestätigt werden." Zu einer großangelegten Operation gegen die UCK im gesamten Kosovo seien die serbisch-jugoslawischen Kräfte nicht fähig. Schon damals formulierten die Nachrichtenoffiziere eine Aussage, die sich beute auch im Generalbericht der Nato-Parlamentarier findet: "Die UCK ihrerseits wird wahrscheinlich weiter versuchen, durch die bekannten Hit-And-Run-Aktionen die serbisch-jugoslawischen Kräfte zu massiven Reaktionen zu provozieren in der Hoffnung, daß diese in ihren Ergebnissen hinsichtlich Zerstörungen und Flüchtlingen ein Ausmaß annehmen, das sofortige Luftschläge der NATO heraufbeschwört."

Wer diese Berichte erstmals liest, ist höchst erstaunt. Zum Beispiel über die Information, daß die Albaner von den serbischen Streitkräften vorab gewarnt wurden und dann auch wieder in ihre Dörfer zurückkehren konnten. Diese Information paßt so gar nicht in das Bild des seinerzeit Gehörten. Man ist ferner überrascht darüber, daß von Flucht, Vertreibung und Zerstörung im Kosovo alle dort lebenden Bevölkerungsgruppen gleichermaßen betroffen gewesen sein sollen – ist die öffentliche Meinung in der Bundesrepublik doch stets davon ausgegangen, die Leidtragenden und Opfer seien zuallererst die Albaner. Mit Bestürzung liest man auch, daß lokale UCK-Kommandeure die Evakuierung der Zivilbevölkerung unterbunden" haben. Man fragt sich: Warum wurde der Öffentlichkeit dies alles bislang vorenthalten? Und schließlich fällt auf, daß das soeben Gelesene doch wohl eher die Lagebeschreibung eines Bürgerkrieges oder eines bürgerkriegs-ähnlichen Geschehens ist als ein Bericht, der es rechtfertigte, von Völkermord, Auschwitz, Konzentrationslagern, ethnischer Säuberung und systematischer Vertreibung zu sprechen.

Das Bild vom Kosovo-Konflikt ist vor allem durch die jugoslawische Unterdrückungspolitik seit 1989, durch die Manipulationen des Westen vor und während des Nato-Krieges sowie durch die Verbrechen an den Kosovo-Albanern nach dem Beginn der Nato-Luftangriffe im März 1999 geprägt.

Durch die Manipulation der öffentlichen Meinung vor und während des Nato-Bombardements erscheint die Entwicklung gemeinhin als Abfolge einseitig von der jugoslawischen Seite ausgehender Gewalt und verbrecherischer Handlungen, die geradezu zwangsläufig zum Eingreifen der Nato führen mußten, damit noch Schlimmeres verhindert werde. Ganz so klar lagen die Dinge indes nicht. In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Zeiten, in denen es Chancen zur Verständigung gegeben hätte. Sie wurden jedoch nicht genutzt. Das gilt insbesondere für den Herbst 1998.

Diese Überlegungen sollen nicht darauf hinauslaufen, die Verbrechen der Serben an den Kosovo-Albanern in der Zeit vor dem Holbrooke-Milosevic-Abkommen vom Oktober 1998 und nach dem Beginn der Nato-Luftangriffe am 24. März 1999 zu verharmlosen oder zu entschuldigen. Der Punkt ist vielmehr dieser: Wenn die internationale Staatengemeinschaft, internationale Organisationen oder einzelne Staaten bereit sind, mit vermeintlichen oder tatsächlichen Rechtsbrechern Verträge und Vereinbarungen zu schließen – das Dayton-Abkommen oder das Hoolbroke-Milosevic-Abkommen sind ebenso Beispiele dafür wie die entsprechenden Vereinbarungen mit Saddam Hussein – , so sind danach alle Vertragspartner gleichermaßen verpflichtet, die Vereinbarungen auch einzuhalten.

Die einseitige Parteinahme zu Lasten eines Vertragspartners oder dessen Bevölkerung unter Verweis auf das Geschehen in der Zeit davor ist nach Abschluß der Vereinbarung jedenfalls nicht mehr erlaubt – weder politisch noch rechtlich und schon gar nicht moralisch. Die Nato aber hat sich im Kosovo-Konflikt sehenden Auges zum Instrument der UCK machen lassen. Aus der Perspektive der Charta der Vereinten Nationen war es ein Völkerrechtsbruch mit unabsehbaren Folgen für die künftige Entwicklung der internationalen Ordnung. Aus der Sicht des Grundgesetzes war es ein verfassungswidriger Angriffskrieg mit verheerenden Auswirkungen auf die Glaubwürdigkeit von Politik.

 

 

DIETER S. LUTZ, Kritiker des Nato-Einsatzes im Kosovo schon während des Krieges, ist Direktor des Instituts für Friedensforschung an der Universität Hamburg

 

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