5.06.2003

Verkehrswende zu weniger Autoverkehr
Von der Utopie zur Realität

Massenmotorisierung als globales Ziel der Eliten

Während man nach Anzeichen einer Verkehrswende in Deutschland lange suchen muß und dort gern der Eindruck erweckt wird, Vollmotorisierung und Staugesellschaft wären ein unentrinnbares Schicksal, wird leicht übersehen, daß weltweit die Motorisierung erst am Anfang steht. Erst ca. 10% der Weltbevölkerung haben einen Zugang zum Auto. Allerdings sind die Autoexporteure und Verkehrspolitiker weltweit daran, dies gerade ändern zu wollen.

Sie tun dies trotz Klimaschutzgipfeln und der in Europa und USA leicht feststellbaren Erkenntnis, daß Massenmotorisierung jenseits einer gewissen Verkehrsdichte die Effizienz im Verkehr schnell ruiniert. Je höher die Ausgaben für Auto-Infrastruktur (Straßen, Parkraum), Autobesitz und Autobetrieb sind, desto größer werden auch die Frustrationen der Staugesellschaft. Trotzdem sind die westlich geprägten Eliten in den bis heute schwach motorisierten Ländern der Dritten Welt in Afrika, Asien und teilweise auch Südamerika zunehmend auf die vom hochmotorisierten Westen geprägten Verheißungen der Massenmotorisierung als Wohlstands- und Fortschrittsgarant fixiert.

Damit hat die Verkehrswende weltweit einen schweren Stand. Das Modell der Stadt des Umweltverbundes ohne Massenmotorisierung scheint weder im Westen noch in Osteuropa noch in der Dritten Welt politikfähig, obwohl es in der dritten Welt noch hunderttausende von Städten mit minimaler Motorisierung gibt, die Chancen für eine andere, nachhaltige Verkehrswelt bieten würden. Statt dessen arbeiten dort die Eliten in Banken, Unternehmen, Kommunen, Regionen, Regierungen mit großem Ehrgeiz und starker Unterstützung durch die Weltbank und westliche Investoren daran, den Weg in die Massenmotorisierung zu ebnen.

Verkehrswende: Ausstieg aus der Autogesellschaft oder marginale Kurskorrektur

Immerhin aber gibt es in den hochmotorisierten Ländern des Westens akademische Diskussionen um die Verkehrswende. Dabei stehen sich zwei Positionen gegenüber.
Die gemäßigte begnügt sich in Anlehnung an die mathematische Definition einer Wende damit, schon ein Abschwächen konventioneller Wachstumskurven beim Autoverkehr (im Personen- wie im Güterverkehr) für eine Verkehrswende zu halten. Wenn es gelänge, von den Zeiten starken Autoverkehrswachstums über eine Stagnation langfristig zu einer Phase leichter Abnahmen im Autoverkehr zu kommen, sei das ein Riesenerfolg. Bei diesem Verständnis wird es noch lange Investitionen in das Straßennetz und den Parkraum geben, die Zeit der sogenannten Parallelförderung von Autoverkehr und Umweltverbund wird weitergehen, allenfalls die Gewichte bei den Investitionen werden sich geringfügig zu Lasten des Autoverkehrs verschieben.

Die radikale Position definiert Verkehrswende ehrgeiziger und politischer: sie will einen echten Ausstieg aus der Autogesellschaft und ihrer Massenmotorisierung. Sie will PKW mittel- und langfristig viel effizienter einsetzen, als Pfandautos, Taxen oder ”geteilte” Autos (Nachbarschaftsauto), ihnen aber gegenüber dem Umweltverbund nur eine ergänzende Restrolle einräumen. Hauptstützen der Mobilität sollen Fußgängerverkehr, Fahrradverkehr sowie Busse und Bahnen sein. Die vorrangige Ausrichtung von Siedlungs- und Wirtschaftsentwicklung am Autoverkehr soll zugunsten einer Rückkehr zu urbanen Traditionen der kompakten Siedlung (vom amerikanischen Modell der zersiedelten Stadtlandschaft zur europäischen Stadt der kurzen Wege) aufgegeben werden.

Eine solche radikale Verkehrswende erfordert massive Investitionen in den Umweltverbund und erlaubt ein klares Ende der bisherigen Parallelförderung. Kosten für Straßenbau und Parkraumbau können gespart werden, dafür müssen Zukunftsinvestitionen in eine effiziente Mobilität geleistet werden. Das vom Öko- Institut und dem VCD finanzierte Projekt ”neue Arbeit durch eine Verkehrswende” entfaltet nur einen gebremsten Verkehrswendeehrgeiz: Dort gilt ein Verkehrszustand, der unserem Modal Split Mitte der sechziger Jahr (d.h. dem heutigen Fahrradanteil der Niederlande und ÖPNV- Anteil der Schweiz) entspricht, schon als maximales Ziel einer Verkehrswende. Das halte ich aber für zu wenig. Natürlich sind die Niederlande fahrradfreundlicher als wir, aber wer in holländischen Städten ist, wird trotzdem nicht sagen "dort seien die Probleme des Autoverkehrs gelöst". Und wer in die Schweiz fährt, ist natürlich begeistert vom öffentlichen Verkehr. Aber er wird trotzdem volle Autobahnen, ziemlich viele Staus und jede Menge Autoprobleme in den Städten finden. Als Vorbild für eine richtige Verkehrswende reicht das also nicht.

Eine wirkliche Verkehrswende erfordert eine Abkehr von der Massenmotorisierung. Für Deutschland könnte das bedeuten, daß es nur noch ca. 4 Mio. PKW gibt. Betrieblich würden diese Autos aber ganz anders genutzt: überwiegend als geteilte Autos (Car-Sharing, Nachbarschaftsauto, Pfandauto, Taxi). Hinzu kämen etwa 1 Mio. weitere ”Taxi- Busse”, also bedarfsgesteuerte Kleinbusse, die vor allem im ländlichen Raum die Feinerschließung leisten. Hinzu kämen weitere 20.000 neue Regionalbahn-Triebwagen für den regionalen Schienenverkehr. Hinzu kämen etwa 10.000 neue Straßen- und Stadtbahnwagen für den kommunalen Schienenverkehr. Hinzu kämen etwa 400.000 neue Niederflurbusse für die Stadt- und Ortsbussysteme. Hinzu kämen etwa 20.000 neue Mobilitätszentralen, die gleichmäßig übers Land verteilt sind und mit einheitlicher Nummer für Telefon und Internet intelligentes Mobilitätsmanagement ermöglichen.

Gründe für radikale Verkehrswendeansätze:

Beruhigungspillen reichen nicht in der Autoverkehrsmisere
Warum bin ich da so radikal? Wir müssen lernen, daß ein ”bißchen Ausstieg aus der Autogesellschaft” nicht funktioniert. Natürlich haben wir inzwischen ca. 3.000 Fußgängerzonen in Deutschland. Aber haben sie die Verkehrswelt nachhaltig geändert? Nein, sie sind eher autogerecht geplant worden: mit lauter neuen Parkhäusern drumherum. Und meistens ist der Preis für die Fußgängerzone ein neuer City-Ring gewesen. Neue Fußwegnetze und Fahrradnetze oder stark verbesserte ÖPNV-Netze wurden im Zusammenhang mit Fußgängerzonen selten geplant. Sie hatten also wenig mit Verkehrswende zu tun. Im Gegenteil: Modell war eher die amerikanische Mall, ein kleines Fußgängerghetto in einer um so autogerechteren Welt. Und auch unsere ersten Projekte zum autofreien Wohnen schaffen nur ”kleine Inseln”, ändern aber nicht viel an der generellen Verkehrswelt. Auch unsere sog. ”Autofreien Kurorte" in Bayern oder ”autofreien Inseln” an der Nordsee oder autofreien Tourismusorte in der Schweiz und in Österreich haben fast nichts an dem Normalzustand im Verkehr geändert. In diesem Sinne sind auch die jahrzehntelangen Kämpfe für mehr Verkehrsberuhigung in Europa mehr ”Beruhigungspillen” als wirkliche Strategien für eine neue Verkehrswelt gewesen. Sicher haben sie für die betroffenen Straßen immer auch etwas Erleichterung gebracht. Sie haben lokal die Verkehrssicherheit verbessert. Sie haben ein paar neue Chancen für das Wohnumfeld gebracht. Aber sie haben die generell autodominierte Verkehrswelt nicht verändert.

Eine andere Art von Beruhigungspillen ”verteilen” derzeit die Strategen der Autoindustrie mit ihren Berichten zu Fortschritten in der Emissions- und Energieverbrauchsminderung. Mit der Verheißung des Dreiliter- oder Einliterautos oder des Elektroautos wird suggeriert, wir kriegten die Probleme der Autogesellschaft endlich ”in den Griff”. Auch in den Umweltverbänden und beim Umweltbundesamt gibt es viele, die das sagen. Nun habe ich nichts dagegen, daß das einzelne Auto weniger Benzin verbraucht, ich habe auch nichts dagegen, daß es weniger Schadstoffe emittiert. Aber entscheidend ist doch der Gesamteffekt in der weltweiten Fahrzeugflotte. Und wir sind weit davon entfernt, daß die weltweiten Autoschadstoffemissionen abnähmen und der weltweite Benzinverbrauch durch Verkehr zurückginge. Noch stets haben die Mengeneffekte durch wachsende Fahrzeugflotten und Fahrleistungen die potentiellen Verbesserungen der Umwelttechnik überkompensiert. Das gilt schon für das eigene Land und erst recht global.

Und außerdem verschweigt diese Argumentation, daß das Hauptproblem des Autoverkehrs, nämlich sein Platzverbrauch, bei dem Modell Massenmotorisierung unlösbar ist. Selbst wenn alle Autos ohne Motor mit Tretantrieb auskämen, wäre der Autoverkehr weiter unverträglich, obwohl leise und sauber und mit Zero-Verbrauch. Die Gehwege wären weiter zugeparkt, die Staus weiter endlos, die Landschaften weiter zersiedelt. Auch 45 Millionen Tretautos blieben unverträglich, brächten keine intelligente, effiziente Mobilität, würden keine Verkehrsprobleme lösen. Denn die Antriebsfrage ist das kleinere Problem. Die Frage des Platzes, der Effizienz und der Wirtschaftlichkeit ist das zentrale Problem des Autoverkehrs. So lange Siedlungsstruktur und Städtebau auf die massenhafte ”Behausung von PKW” fixiert bleiben, ist ”Fortschritt vom Auto” und Effizienz im Verkehr nicht möglich.

Mobilität im ländlichen Raum: Nur mit Auto möglich?

Viele Laien, Politiker und Planer widersprechen dieser Aussage vor allem mit der Annahme, in den heutigen, total zersiedelten ländlichen und suburbanen Siedlungsstrukturen sei Mobilität nur noch mit dem Auto möglich. Sie können sich gerade noch für die Metropolen und Großstädte vorstellen, daß attraktiver öffentlicher Verkehr organisiert wird und dort auch einen Teil des Autoverkehrs ersetzen könnte, zur Entlastung und ”Umgehung des Staus”. Aber auf dem Dorf? Im Weiler? Und deshalb seien alle Versuche einer Verkehrswende weg vom Auto zum Scheitern verurteilt. Deshalb wird eine Anhebung der Mineralösteuer abgelehnt, weil sie immer ungerechterweise die armen Menschen im ländlichen Raum treffe, die eben auf das Auto angewiesen seien.

In dieser Argumentation gibt es zwei gravierende Fehler, die aber fast unausrottbar scheinen. Moderne Mobilitätsanalysen widerlegen die Annahme besonders weiter Wege im ländlichen Raum. Auch dort haben wir noch in hohem Maße kurze Wege, weil die Kleinstädte und viele Dörfer zum Glück noch relativ kompakt sind. Schließlich sind nicht umsonst im Alltagsverkehr 80 % aller Wege und Fahrten im Personen- wie im Güterverkehr Nahverkehr. Die kurzen Wege sind auch im ländlichen Raum dominant. Die längsten Wege und Fahrten haben wir in den Ballungsräumen in ihrem suburbanen Umland. Dort leben die ”Kilometerfresser”. Auch im ländlichen Raum werden Autos primär eingesetzt, um kurze Wege zu bewältigen, die man genausogut zu Fuß oder mit dem Fahrrad machen könnte. Schon der Weg vom Dorfrand zum Laden oder zum Kindergarten oder zu Bekannten wird gewohnheitsgemäß mit dem Auto gemacht, zu Fuß geht man allenfalls am Wochenende für einen Spaziergang, aber auch dann fährt man am liebsten noch mit dem Auto bis zum Waldrand oder Bachufer. Das Auto wird in einem absurden Maße über die kurzen Distanzen eingesetzt. Deswegen ist es zwar richtig, daß wir Zersiedlung für schlimm und schlecht halten. Aber daraus dürfen wir nicht im Umkehrschluß folgern, die Zersiedlung erzwänge den heutigen Autoverkehr. Nur ein kleiner Teil des täglichen Autoverkehrs kann so begründet werden.

Die beklagenswerte Tatsache des vorrangigen Einsatzes von Autos als Kurzstreckenverkehrsmittel hat ihre Gründe in der stark gewachsenen Bequemlichkeit der Menschen. Im Alltag längere Wege zu laufen oder zu radeln, wird nicht akzeptiert. Das Volk ist ”geh- und radelfaul” geworden (obwohl in der Freizeit und im Urlaub dann manchmal sogar eine erstaunliche Bereitschaft zu ”Gewaltmärschen” und Langstreckenradtouren besteht). Unter diesen Umständen kann eine attraktive Alternative zum Auto nur gefunden werden, wenn sie der entsprechenden Bequemlichkeit der Menschen Rechnung trägt. Das bedeutet, der ÖPNV muß den Menschen viel weiter ”entgegenkommen”, durch viel mehr Haltestellen und kurze Wege und durch die Vermittlung des Gefühls, überall sei gleich um die Ecke ein Bus oder eine Bahn oder ein Taxi oder ein Rufbus oder Nachbarschaftsauto erreichbar. Wer seinen potentiellen Fahrgästen 300 Meter als Normdistanz zur Haltestelle und in der Realität oft sogar 500 Meter und mehr zumutet, wird kaum begeisterte Kunden finden.

ÖPNV in der Fläche. Ungeahnte Potentiale

Außerdem aber ist es falsch, daß angeblich im ländlichen Raum attraktiver öffentlicher Verkehr nicht möglich sei. Es gibt einige hochinteressante Pilotprojekte, die das Gegenteil beweisen. Gerade im ländlichen Raum sind die größten, manchmal schon sensationellen Erfolge in der ÖPNV- Entwicklung der letzten Jahre erzielt worden. Zuerst in der Schweiz, später in Österreich und Holland, inzwischen auch in einigen Pionierregionen in Deutschland. Bei diesen Projekten ”geht die Post ab”, gibt es rasante Steigerungsraten, die niemand für möglich gehalten hätte. Im Bregenzer Wald wurde ein System von Anrufbussen und Anrufsammeltaxen (James) mit modernen ”Landbussen” und ”Ortsbussen” sowie einer modernisiereten Regionalbahn am Bodensee kombiniert. Die Fahrgastzahlen schnellten von 30.000 auf 3 Mio.. Überhaupt erwies sich das Österreichische Bundesland Vorarlberg als Pionierregion moderner ÖPNV- Entwicklung im ländlichen Raum. In Bregenz, Dornbirn, Götzis, Feldkirch wurden neue Stadt- und Ortsbussysteme eingeführt, verbunden jeweils noch durch den regionalen ”Landbus” und überregionale Buslinien des ”Bundesbus”. Sie schafften es auf Anhieb, die Fahrgastzahlen von jeweils unter 100.000 im Jahr auf Werte zwischen 2 Mio. und 5 Mio. zu steigern, also um 2000-4000%.

Jahrzehntelang galten dagegen im ÖPNV schon Zuwachsraten von 25% als fast unvorstellbar. Ähnliche Erfolge gab es in Lindau, Eichstätt und in Ost- Westfalen (Lemgo, Bad Salzuflen, Detmold), im Münsterland und in der Eifel (Euskirchen). Auch im Regionalbahnbereich gab es im ländlichen Raum sensationelle Erfolge, wenn die Angebote kundengerecht und modern entwickelt wurden, wie beispielsweise bei den Bodensee-S-Bahnen Seehas und Seehäsle, bei der Geißbockbahn oder bei den Schienenstrecken im ländlichen Karlsruher Umland. Auch hier war es durch modernen, rationellen Betrieb, neue Fahrzeuge, motiviertes Personal, offensive Werbung, attraktive Tarife und einen ehrgeizigen Marktauftritt möglich, die Fahrgastzahlen (verglichen zu dem früheren, desmotivierten alten Angebot der Bundesbahn) um 400-1000 % zu steigern und die typischerweise ängstlichen Prognosewerte konventioneller Gutachter um ein Vielfaches zu übertreffen. Zentrales Erfolgsgeheimnis bei allen Pilotprojekten war eine Vervielfachung der Zahl der Haltestellen und Bahnhöfe, (etwa um den Faktor 10) die Einführung eines klaren, dichten Taktverkehrs mit abgestimmten Anschlüssen im integralen Taktfahrplan und der Einsatz rationeller moderner Fahrzeug- und Logistikkonzepte. Seither findet man in diesen attraktiven Systemen auch im ländlichen Raum etwa zur Hälfte Fahrgäste, die ein oder zwei Autos haben, aber im Alltag in der Garage stehen lassen, weil es mit Bussen und Bahnen bequemer und schneller geht, kommunikativer ist und besonderen Spaß macht, intelligent zu reisen.

Fazit: wenn die Qualität stimmt, geht es auch auf dem Lande ohne Auto. Und wenn die Autos meistens ungenutzt rumstehen, dann stellt sich erst recht die Frage, ob wirklich alle ein Auto haben müssen, wie bisher von der Verkehrspolitik unterstellt wird.

Entmotorisierung als Aufgabe

Warum betone ich das so? Weil in der Vergangenheit Verkehrspolitik nur die Frage der Autonutzung diskutiert hat. In den Sonntagsreden hieß es: "Also, liebe Leute, nutzt Eure Autos vernünftig, laßt sie doch bitte öfters stehen. Aber kauft bitte möglichst viel Autos, denn das ist gut für die Wirtschaft." Aber wenn wir nur etwas weniger autofahren, ist das noch lange keine Verkehrswende. Denn die Platzprobleme des Autoverkehrs sind damit nicht gelöst. Die Autos brauchen trotzdem Parkplätze und Parkhäuser, auch wenn sie seltener genutzt werden. Und die Autos brauchen trotzdem Geld, sie produzieren permanent hohe Fixkosten, für Staat, Kommunen und die Bürger. Und damit verhindern sie, daß das Geld an die richtige Stelle fließt, nämlich in den Ausbau des Umweltverbundes. Verkehrswende muß deshalb mehr sein, eben auch eine Bestandsreduzierung der Autoflotte und eine massive Umschichtung in den Verkehrsausgaben. Erst eine viel kleinere Zahl von Autos, die produziert und verkauft werden, erlaubt einen Ausstieg aus der Staugesellschaft der Massenmotorisierung.

Der Freizeitverkehr als entscheidendes ”Schlachtfeld”

Im Zusammenhang mit dem ländlichen Raum ist der Freizeitverkehr der dynamischste Verkehrsmarkt. Sowohl in der Werktagsfreizeit als auch in der Wochenendfreizeit als erst recht in der Urlaubs- und Ferienfreizeit gibt es unter allen Teilverkehrsmärkten die höchsten Steigerungsraten. Und gleichzeitig gibt es hier die höchsten Autonutzungsquoten. Der Autoverkehr in der Freizeit hat nun aber ganz überwiegend den ländlichen Raum zum Ziel: seine attraktiven Gebirgslandschaften, Fluß-, See- und Meeruferlandschaften sowie Kleinstädte, Kurorte und Dörfer ziehen die Urlauber und Ausflügler, die Sommer- und die Wintersportler magisch an. Motivstudien über die Motorisierung zeigen, daß Autos vor allem mit Blick auf die Freizeit gekauft werden. Gefragt sind der große Kofferraum, große Innenraum und die Geländegängigkeit.

Damit sind zwei Bedingungen genannt, die für eine Verkehrswende als Ausstieg aus der Massenmotorisierung nötig sind. Alle relevanten Freizeitziele müssen schnell und bequem im öffentlichen Verkehr erreichbar sein. Und die leidige Gepäckfrage im ÖPNV muß intelligent gelöst werden. Der öffentliche Verkehr muß instandgesetzt werden, wieder bequemen Gepäcktransport zu erlauben. Jahrzehntelang konnte er das wunderbar. Familien fuhren mit dem Zug von Berlin an die Ostsee - selbstverständlich mit 6 Kisten und Koffern und ohne Probleme. 6 Mio. Fahrräder wurden in den 50er Jahren jährlich auf der Bahn mitgenommen. Über transportierte Paddelboote etc. gibt es keine Statistik und das Surfbrett war noch nicht erfunden. Selbst Umzüge per Bahn gab es damals sehr oft. Das alles konnten die Bahnen damals, obwohl die technisch- logistischen Möglichkeiten viel schlechter waren, ohne Gabelstapler, ohne Container, ohne Computer, ohne Funk und ohne Niederflurtechnik. Erst wenn das Surfbrett oder Paddelboot oder die fünf Koffer kein Grund mehr für das Auto sind, weil sie auch bequem mit Bus und Bahn und entsprechendem Service transportiert werden, wird Entmotorisierung möglich. Rollende Koffer und moderne Gepäckwagen sind als Hilfsmittel hierfür schon lange erfunden. Nur hat der öffentliche Verkehr hierauf nicht reagiert.

Solche Innovationen haben viel mit neuer Arbeit für neuen Service zu tun. Der "Kofferraum" muß eben logistisch durch guten Service ersetzt werden. Und die vielen Mobilitätsziele des Freizeitverkehrs im dünnbesiedelten ländlichen Raum müssen durch flächendeckenden ÖPNV angebunden werden. Wir brauchen deshalb ein flächendeckendes Mobilitätsystem, das nicht nur auf Berufspendler und Geschäftsreisende schielt. Die Ausrede "man könne da ohne Auto nicht hinkommen, nicht am Wochenende, nicht abends" - darf es nicht mehr geben. Wir müssen ein Verkehrssystem organisieren, in dem der Anspruch auf Zugang zum öffentlichen Verkehr überall oben ansteht, das sichert eine bessere Mobilität und macht alles erreichbar.

Verkehrswende mit Flächenbahn und Flächenbus ist bezahlbar

Das ist eine völlig neue ”Denke”, wird doch einstweilen meistens von der Verkehrspolitik betont, was der öffentliche Verkehr alles nicht kann und warum deshalb kein Weg am Auto ”vorbeiführt”. Denn eine Alternative gebe es nicht. Und selbst wenn es sie gäbe, sei sie nicht bezahlbar. In diesem Sinne gilt die Anschaffung von 10 Niederflurmidibussen für ca. 1 Mio. Euro oder von 20 Ruf-Mobicars für 400.000 Euro vielen Kleinstadt-Bürgermeistern als unbezahlbar, während sie gleichzeitig locker eine neue Ortsumgehung für 15 Mio. Euro oder gar einen Straßentunnel für 50 Mio. Euro und ein Parkhaus für 10 Mio. Euro fordern und auch für bezahlbar halten.

Was kostet also die Verkehrswende?

Das kann man z.Z. leider nur grob abschätzen, weil entsprechende Modelle bis heute fast nie gerechnet wurden. Lediglich das Wuppertal-Institut für Klima, Umwelt und Energie (Konzept neue Bahn) und das ÖKO- Institut in Freiburg (Neue Arbeit durch Verkehrswende) haben versucht, diese Frage grob abzuschätzen, allerdings nicht mit der radikalen Variante einer Verkehrswende als systematische Entmotorisierung, sondern eher mit moderaten Abnahmeannahmen beim Autoverkehr. Nach dem Wuppertal-Institut würde eine Verdopplung der Mittel für die Bahn, die Bund, Länder und Kommunen bisher für den ÖPNV zahlen, ausreichen, den Autoverkehr mittelfristig zu halbieren und bundesweit ein attraktives ÖPNV- System mit Flächenbahn und Flächenbus einzuführen. Martin Hüsing hat ausgehend hiervon die Modellrechnungen noch verfeinert und kommt zu einem noch besseren Finanzierungsergebnis. Ein guter, attraktiver ÖPNV muß also gar nicht so teuer sein wie immer vermutet und ist jedenfalls aus dem Verkehrsetat der Gebietskörperschaften und Investoren bezahlbar, wenn diese aufhören, den Großteil ihres Geldes ins Autosystem zu stecken: für den Neubau, Ausbau und Unterhalt von Autobahnen, Bundes- Landes- und Kreisstraßen, Gemeindestraßen, für ihre Beschilderung und Verkehrssignalisierung, für öffentliche Parkplätze und Tiefgaragen und für private Stellplätze, Garagen und Tiefgaragen. Für einen Bruchteil des Geldes, was derzeit in den Autoverkehr von Bund, Ländern und Gemeinden, privaten Bauinvestoren sowie den privaten Autohaltern in den Autoverkehr gesteckt wird, ist ein perfektes ÖPNV- System zu haben.

Der ÖPNV muß hierfür allerdings rationeller arbeiten, durch vielfältige Modernisierungsinvestitionen in Fahrzeuge und Logistik und durch Abbau unproduktiv genutzten Personals, das endlich produktiv in den kundennahen Service gebracht werden muß. Bei ÖPNV- Investitionen muß angesichts notwendiger großer Netzerweiterungen sehr viel mehr darauf geachtet werden, daß für das jeweilige Geld ein möglichst breiter Netznutzen erzielt wird. Deshalb müssen die Standards da, wo es nur um ingenieurmäßige Perfektionierung und um Großmannssucht der Verkehrspolitik geht (Transrapid, Tunnelprojekte), gesenkt werden.

Ein solcher Wechsel in der Angebotsphilosophie und Finanzierungspraxis kommt Staat, Kommunen, Bahn AG und die vielen kommunalen und regionalen ÖPNV- Unternehmen pro Fahrgast sehr viel billiger als ihre bisherige Mißwirtschaft.

Ähnlich verzerrt wie die Verkehrspolitik Kosten und Nutzen wahrnimmt, agieren auch die Bürger. Aus ihrem Privatbudget zahlen sie (durchschnittlicher Arbeitnehmerhaushalt) monatlich locker 400 Euro für ihr Auto (Betrieb und Fixkosten), ohne daß das Auto deshalb als besonders teuer gilt. Für den öffentlichen Verkehr geben sie nur 30 Euro im Monat aus, er gilt aber trotzdem gemeinhin als sehr teuer (Ergebnisse des Mikrozensus).

Dieses Ausgabenverhältnis umzudrehen, also die 400 Euro für das Auto neu zu verteilen und davon einen Teil, etwa 50 Euro pro Monat für Nachbarschaftsautos, Pfandautos und Taxieinsatz auszugeben, 200 Euro für den neuen, optimierten öffentlichen Verkehr (einschließlich Gepäckservice auszugeben) und den Rest produktiver als bisher außerhalb des Verkehrssektors auszugeben, wäre im Sinne der Verkehrswende ein sinnvoller Ansatz. Er würde genug Geld in die Kassen bringen (10 mal mehr als heute), um den Quantensprung an räumlicher und zeitlicher Vefügbarkeit und Servicequalität im ÖPNV zu finanzieren. Ziel wäre, daß zur Regelausstattung moderner Haushalte das integrale Mobilitätsabo gehört. Natürlich könnte man dabei durch qualitative Differenzierung im Service Spielraum für soziale Profilierungswünsche geben: von der Rolls-Royce-Variante der 1. Klasse bis zum Standard-Basis-Angebot. Und für die sozialen Härtefälle könnte es immer noch ein Mobilitätsgeld (analog der Sozialhilfe und dem Wohngeld) geben, um ihre Mobilität im Grundbereich zu gewährleisten. Einmal im Jahr zahlt man sein Mobilitätsgeld für das integrale Abo und dann fährt man ohne Probleme und Schlangestehen intelligent durch alle lokalen, regionalen, nationalen und internationalen Systeme.

Arbeitsmarkteffekte einer Verkehrswende

Es ist unschwer vorstellbar, daß eine solche konsequente Verkehrswende ungeheure Arbeitsmarkteffekte hätte. Zunächst einmal kostet sie natürlich Arbeitsplätze in der konventionellen Autoproduktion und ihren nachgelagerten Bereichen (Werkstätten, Autohandel, Versicherungen etc.). Und sie kostet Arbeitsplätze in der autoorientierten Bauindustrie für Straßen- und Parkraumbau. Aber dieser Verlust geschieht nicht ersatzlos. Vielmehr mutiert die klassische Autoindustrie zu einer modernen Mobilitätsindustrie, in der eben vorrangig moderne Fahrzeuge (Busse, Bahnen, Pfandautos, Taxen) hergestellt werden. Und der Tiefbau kommt nicht zum Erliegen, sondern engagiert sich im Neubau, Ausbau und der Modernisierung von Schienenstrecken, Bahnhöfen, Haltepunkten, Haltestellen, Depots etc. Die eher vorsichtige Prognose des Öko-Instituts zu den Arbeitsmarkteffekten einer (aus meiner Sicht ”kleinen”) Verkehrswende von ca. 250.000 neuen Arbeitsplätzen im Mobilitätsbereich muß sicher bei einer grundlegenden Entmotorisierungsvariante deutlich nach oben korregiert werden. Denn es werden sehr viel mehr neue Busse und Bahnen (als dort angenommen) benötigt. Und der ganze Bereich der Verkehrslogistik muß sehr viel stärker ausgebaut werden, um die nötige Flexibilität in Betrieb und Benutzung zu gewährleisten. Dazu zählen die dezentral überall anzusiedelnden Mobilitätszentralen ebenso wie die interaktive Empfänger- und Sendertechnik und Verkehrssystemsteuerung in allen Fahrzeugen und im gesamten Verkehrsnetz (an Haltestellen und allen Strecken und Knoten). Und es werden sehr viel mehr und bessere Serviceleistungen im Mobilitätsbereich nötig und möglich. Dazu zählen vor allem die fahrzeugbegleitenden Reisedienstleistungen (Gepäckservice, Gastronomie, rollendes Hotel, Kommunikations-, Pflege und Gesundheitsdienstleistungen, Handel) und die mobilitätsvorbereitenden Dienstleistungen in der Mobilitätsberatung und Mobilitätssteuerung. Hier sind die Szenarien des Öko-Instituts viel zu konventionell und ängstlich und zeigen kaum die möglichen Potentiale auf, die nutzbar sind. Ich sehe die Chance, mindestens 1 Mio. neue Arbeitsplätze im Mobilitätsbereich neu zu schaffen.

Schluß mit dem Verzichtsethos. Vom Gewinn muß geredet werden

Natürlich wird eine solche Verkehrswende nicht über Nacht kommen. Aber wenn wir heute planen, wo wir übermorgen hin wollen, dann können wir bald anfangen, die ersten richtigen Schritte zu machen und die offenkundig falschen Schritte zu unterlassen. In 25 Jahren kann die Verkehrsrealität bei systematisch umsteuernder Verkehrspolitik, Planung und Umorientierung der Verkehrswirtschaft schon ganz anders aussehen.

Man muß aufhören, ein solches Ziel mit dem Verzichtsethos zu belegen. Dann werden falsche Assoziationen zu einem Armutsmodell, Mobilitätsverzichtsmodell, Prestigeverzichtsmodell geweckt, das die Freiheiten, Emotionen und Lüste rund um das Auto durch Schikanen und graues Einerlei bekämpft. Man muß clever die Verheißungen modernen Mobilitätsmanagements, fortschrittlicher Fahrzeugtechnik, kultivierten Mobilitätsservice und hoher Effizienz und Wirtschaftlichkeit sowie guter Umweltverträglichkeit für die Verkehrswende reklamieren. Bevor das Auto kam, schufen Ingenieure, Techniker und Psychologen die Kathedralen des Fortschritts mit ihren Eisenbahnen, ihren kühnen Viadukten, ihren bombastischen Bahnhöfen, ihrer lustvollen Inszenierung von Modernität und Lebensgefühl. Es gab viele ”Lüste” um den öffentlichen Verkehr, Rennen zwischen den Zügen, Rekordfahrten, mystische Überhöhungen wie beim Orientexpress oder Rheingold.

Literatur, Theater, Kunst und Film bedienten sich ”aus vollen Zügen”. Die gleichen Klischees von sexistischer Verkehrsmittelwerbung (wie bei heutigen Sportwagen) wurden im Jugendstil für die Bahn genutzt, und zwar in vielen Ländern. Nackte Frauen zierten die Bugfronten moderner Lokomotiven und der entsprechenden Plakate, ganz wie bei den stolzen Segelschiffen früherer Epochen. Also kann man Qualität gestalten und inszinieren. Der Speisewagen hätte nicht das Privileg des Intercity sein müssen, und ob dabei die Imbißbude oder das First-Class-Hotel Pate steht, entscheidet Image und Nutzerinteresse.

Auch Regionalbahnen brauchen kundennahen Service mit hoher Qualität, damit Reisen auch im Alltag wieder zum Erlebnis wird. Und warum nicht auch im Regionalbus ähnliche Qualitäten anbieten, im Schnellbus allemal. Das alles ist die Qualität, die wir den potentiellen Kunden vorstellen müssen, um klar zu machen, daß Leben im neuen Mobilitätssystem kein Verzicht, sondern ein Gewinn ist. Ein Gewinn im Sinne von Lebens-, Mobilitäts- und Servicequalität. Eine Chance für viele neue Arbeitsplätze. Ein Gewinn, der frei macht von den Frustrationen im Stau, von den Problemen des massenhaften Autoverkehr für Städte und Dörfer, für Umwelt und Landschaften, von den allgegenwärtigen Gefahren massenhaften Autoverkehrs für Gesundheit und Leben.

Eine der wichtigsten Verheißungen der Verkehrswende ist die Mobilisierung von Platz und neuer urbaner Qualität. Sie schafft Platz für Millionen von Bäumen, für neue Grünflächen, für Freiheit vom Verkehrslärm, für schöne Straßen mit Alleen, für ökologische Qualität in der Stadt. Das ”Wohnen im Grünen” kommt zurück in die Städte.

Der Autoverkehr hatte es systematisch rausgetrieben nach Suburbia. Platz bleibt auf den Straßen für den Fahrradverkehr und den Fußgängerverkehr, für den ”aufrechten Gang”. Platz bleibt für eine effiziente Abwicklung im öffentlichen Verkehr. Verkehrswende schafft damit die Basis für eine neue Verkehrs- und Stadtkultur.

Insofern darf Verkehrswende nicht in der Sprache der Verbotsregelungen und Schikanen, der Mobilitäsverhinderung und Verkehrsvermeidung kommuniziert werden, sondern muß mit der Verheißung einer besseren Qualität, einer besseren und intelligenteren Mobilität propagiert werden. Sie ermöglicht den Abbau der alltäglichen Frustrationen der Autogesellschaft im Stau, bei der Parkplatzsuche, beim Abhören des Verkehrsfunks, beim Lesen des Strafmandats und beim Betrachten des Unfallschadens.

Sie bietet auch eine Alternative zur politischen Frustration, seit Jahrzehnten mit Milliardeninvestitionen das Autosystem auszubauen, ohne damit die Verkehrsprobleme gelöst zu haben. Bei jeder Autobahneröffnung, Umgehungsstraßeneinweihung, Öffnung eines neuen Parkhauses stand am Anfang die Verheißung "es wird besser", der Verkehr wird ”flüssiger”. Aber es ist 40 Jahre nur schlechter geworden. Es kann auch nur schlechter werden aufgrund des massenhaften Herumfahrens und Herumstehens von Einzelfahrzeugen. Dagegen setzt Verkehrswende die Trümpfe der Effizienz. Sie wird eigentlich in der Wirtschaft immer hochgehalten. Dafür erfand man das Fließband, den Materialfluß, den Informationsfluß. Intern wird in der Wirtschaft vieles rationell und effizient organisiert. Nur im Verkehr setzt man auf das Gegenteil, auf das Chaos als Grundprinzip. Dagegen setzt Verkehrswende die Trümpfe von Ordnung, Effizienz, Rationalität und Service.

Verkehrswende auch im Güterverkehr.

Auch im Güterverkehr muß das Verhältnis von gebündeltem, gut organisiertem, rationellem Transport und massenhafter Bewegung von Einzelfahrzeugen (LKW) neu bestimmt werden. Die besondere Leistungsfähigkeit der Schiene muß wiederentdeckt werden. Zunächst einmal von der Güterbahn selber. Sie muß ihr klassisches Rollenverständnis als Massengutcarrier über lange Distanzen auf wenigen Korridoren aufgeben und sich endlich dem Strukturwandel der Wirtschaft anpassen. Mit völlig neuen und überwiegend regionalen Verkehrsverflechtungen. Mit hohem Anteil hochwertiger, zeitempfindlicher Waren und Güter am Straßentransport. Die umfangreichen Investitionen der Spediteure in moderne LKW und moderne Transportlogistik setzen den Qualitätsmaßstab. Intelligent organisierter Güterverkehr im Rahmen einer Verkehrswende erfordert eine völlig neu definierte Rolle für die Schiene. Sie muß nicht nur auf den langen Relationen und bei den zeitunsensiblen, ”rohen” Massengütern, sondern auch auf kurze Relationen und für kleine Mengen (aber teure, zeitsensible und empfindliche Güter) konkurrenzfähig werden. Hier hilft die moderne Güter-S-Bahn, die Güter-Ringbahn, die Güter-Regionalbahn auf allen kurzen Relationen. Und in der Feinverteilung gibt es den ”Güterbus” oder die ”Güterstraßenbahn” oder das ”Gütertaxi”, die im Rahmen von Regional- und City- Güterlogistik die Transportwünsche vieler Spediteure und Versender bzw. Empfänger koordinieren und befriedigen.

Neue Umschlagtechniken und entsprechende Geräte ermöglichen intelligentes Umsteigen der Güter an den Schnittstellen. Natürlich wird hier der Einzel- LKW nicht ganz ersetzt. Aber so wie die Nachbarschaftsautos, Pfandautos und Taxen neben den Orts-, Quartiers- und Rufbussen die Feinerschließung im Personenverkehr übernehmen, so tragen im Güterverkehr die Speditionsdienstleistungen die Feinverteilung. Die Warenströme des Güterverkehrs machen durch besser organisierte Verteilsysteme (Gepäck- und Lieferservice) die heutige Rolle des Kofferraums der Privatautos überflüssig. In unserer Konsumgesellschaft wurde das Einsammeln von Lasten, vor allem beim Müll, Altpapier, Altglas etc. längst geregelt. Aber ”in die andere Richtung”, im Verteilen der Güter und der Waren fehlen entsprechende Systeme. Es gibt sie bisher lediglich bei der Post (Briefe, Pakete), bei den Expressdiensten (Velo-Kurier) und beim Versandhandel (dann meist wiederum durch die Post) mit systematischer Organisationsqualität. Ansonsten spielen Gepäck- und Lieferdienste keine große Rolle, auch nicht beim Handel. Als Pendant zum Briefkasten sind hierfür auf der Empfängerseite entsprechende Boxen als Schließfächer zu entwickeln. Auf der Verteilerseite sind entsprechende Lieferdienste mit attraktiven Tarifen und hoher Zuverlässigkeit zu entwickeln, und als Pendant zur Haltestelle entsprechende dezentrale transportlogistische Knoten als verkehrspolitisch ernst genommener Unterbau lokaler und regionaler Transportlogistik, in dem sog. ”Warenhotels” das dezentrale System von Fracht- und Güterverkehrs- und Verteilzentren ergänzen und die Speditionen viel intensiver als bisher kooperieren.

Internationale Verkehrswendestrategien zwischen USA, Europa und Dritter Welt

Eine Welt ohne Massenmotorisierung wäre eine bessere Welt, mit intelligenterem, rationellerem Verkehr, ressourcenschonend, gewinnversprechend. Die Frage ist, aus ”welcher Ecke” der Welt die stärksten Impulse dafür ausgehen könnten? Zwar sind die USA das Mutterland der Massenmotorisierung, aber sie sind auch das Mutterland des Staus. Vorher hatten sie das dichteste Bahnnetz der Welt, das sie später verkommen ließen. Die USA und ihre Wirtschaft gelten als innovativ, als rationalisierungsfixiert, als serviceorientiert. Warum sollte das Auto, das seinen Siegeszug in den USA begann, nicht auch seinen Rückzug dort beginnen? Die USA haben seinerzeit von Europa die Bahn als Verkehrsmittel übernommen und zu einer enormen Blüte entwickelt. Sie waren das hochorganisierteste Bahnland, das Land mit dem besten öffentlichen Verkehr bis in die 20er Jahre. Erst danach kam die damalige Verkehrswende zur Massenmotorisierung, wurde ”the American Way of Life” zum Synonym für ”Fordismus” mit industrieller Fließbandproduktion für Autos und für Zersiedlung mit endlosem ”Häuslebrei” und völlig desintegrierten Shopping- und Freizeit-Centers. Vorher waren mit der Bahn in den USA Mythen von Freiheit, Wachstum und Fortschritt verbunden. Viele kennen die entsprechenden Epen in Literatur und Film, die das Wachsen und Werden dieses Kontinents mit der Bahn zusammenbrachten.

Die USA gelten auch als das Land, in dem die Globalisierung, die weltweite Verflechtung von Industrie, Wirtschaft und Kapital am intensivsten betrieben wird. Insoweit gibt die USA den Maßstab künftiger Verkehrswelten vor. Noch ist dies ein Maßstab ohne jede Verkehrswende, mit klarer Autofixierung. Aber das könnte sich ändern, wenn unternehmerischer Pioniergeist den Strukturwandel im Verkehr gewinnbringend organisiert und starke Visionäre sich des Themas annehmen.

Noch scheint allerdings eher Mitteleuropa die stärksten Impulse zu setzen. Mit seiner Tradition kompakter Städte sind hier die Grenzen der Massenmotorisierung stärker bewußt geworden. Und es hat in Mitteleuropa nie den amerikanische Furor des völligen Zerstörens ehemals leistungsfähiger ÖPNV-Systeme und ehemals blühender Stadtzentren und dichter Wohnviertel für die Autoexpansion gegeben. Amerikanischer Zersiedlung sind in Europa enge Grenzen gesetzt (wie z.B. in den kleinen, dicht besiedelten Ländern wie Holland, Dänemark oder der Schweiz). ÖPNV-Renaissance, Verkehrsberuhigung, Fahrradförderung und ”grüne” Verkehrspolitik haben hier ihre Ursprünge. Aber noch konnten sie sich in keinem europäischen Land so weit durchsetzen, daß schon eine instrumentierte Verkehrswende in Sicht wäre. Nicht einmal auf kommunaler Ebene sind wirklich überzeugende Verkehrswendebeispiele entwickelt. Trotz mancher beachtlicher Innovationen in Teilbereichen vollziehen sich die Änderungen eher im Kleinen, ohne grundsätzlich schon den nötigen Quantensprung an systematischer Trendwende zu erreichen.

Ist es vor diesem Hintergrund unzureichender Änderungsbereitschaft in den USA und in Europa denkbar, daß die Verkehrszukunft in China, in Südamerika und in Zentralafrika sich anders weiterentwickelt? Daß diese Länder nicht dem stauträchtigen autofixierten Mobilitätsmodell der USA folgen, wie dies die europäischen Länder nach dem Krieg getan haben, die jetzt ähnlich stark wie die USA die Wahrnehmung der Eliten in der Dritten Welt prägen und die Autoverkehrsprobleme verdrängen. Oder wird Japan das Pionierland der Verkehrswende, weil es die Massenmotorisierung weit weniger massiv als die USA und Europa vollzogen hat? Und weil es im öffentlichen Verkehr ganz andere ”weltmeisterliche” Qualitäten anbietet. Weil es schließlich wegen seiner hohen Siedlungsdichte und Platzprobleme in den Städten viel mehr Verständnis für die Erfordernisse effizienter Mobilität und urbaner Dichte entwickelt hat und seine Siedlungsentwicklung sehr bahnaffin gestaltet.

Gibt es eine Perspektive, daß die noch schwach motorisierten Länder die leidvolle 70-, 80-, 100jährige Fehlentwicklung der westlichen Welt mit ihren Stadt- und Landschaftszerstörungen, ihren Umweltgefährdungen, ihren immensen Kosten und hohen Opfern nicht mitmachen, die unweigerliche Verschlimmerung der Mobilitätskatastrophe zu Chaos und Stau durch Massenmotorisierung überspringen? Hoffnung hierfür wird es nur geben, wenn wir auch für dieses sozio-ökonomische und siedlungsstrukturelle Umfeld deutlich machen, daß eine Verkehrswende wirtschaftlicher und - bezogen auf die Chancen am Arbeitsmarkt - trotzdem gewinnbringender ist. Dabei werden die bei uns notwendigen High-Tech und High-Service Komponenten eher im Sinne der angepaßten Technologien zu modifizieren sein. Die Dritte Welt hat hier schon in der Vergangenheit viele interessante Lösungen entwickelt. Beispielsweise in den verschiedenen Varianten des Paratransit, der eine flexiblere, bürgernähere Form des Kollektiv-Transports sichert, allerdings auf aus westlicher Sicht eher schlechtem Service- und Sicherheitsniveau. Oder mit den verschiedenen Formen des Fahrradtaxi als Dreirad oder Zweirad, oft in Verbindung mit dem ländlichen Busverkehr. Oder mit den bei uns fast völlig verschwundenen Formen gemischten Personen- und Gütertransports im gleichen Fahrzeug, sei es auf Lastern, Bussen oder Zügen. Ansatzpunkte für eigene Entwicklungen gibt es also viele. Die Frage ist, ob sie künftig gepflegt, weiterentwickelt und professionalisiert werden oder ob sie der fortschreitenden Massenmotorisierung Schritt für Schritt weichen müssen.

Also haben wir an zwei Enden weiterzudiskutieren. Einmal am Thema: ”Verkehrswende durch Entmotorisierung in Europa, den Vereinigten Staaten und Japan” und einmal am Thema ”Verkehrswende durch Vermeidung der Hochmotorisierung in der Dritten Welt - welche Alternativen nachhaltiger Verkehrsentwicklung gibt es dort?”

Europa kann in diesem Prozess eine wichtige Rolle spielen, wenn es die vielen isolierten innovativen Ansätze zu einer integrierten Best-Practice-Strategie bündelt und wenn es Innovationen und Pioniere ermutigt, auch durch finanzielle Prämien. Wenn es die Fixierung der Investitionsprogramme auf die Transeuropäischen Netze und deren großen Magistralen mit weniger Enthusiasmus und Geld betreibt und mehr Geld für eine Verkehrswende mobilisiert. Heute ist Dänemark Energiepionier und Holland Fahrradpionier und die Schweiz ein öffentlicher Verkehrspionier. Aber den Pionier für eine integrierte Verkehrswendestrategie gibt es noch nicht. Zur Zeit scheint das englische Weißbuch zur Verkehrspolitik den ehrgeizigsten Ansatz zu formulieren. Jahre vorher hatte die Bundesregierung (nach einer bis dahin einmaligen gemeinsamen Vorbereitung durch die Bau- und Raumordnungsminister, Verkehrsminister und Umweltminister des Bundes und der Länder) mit der Krickenbecker Erklärung schon einmal eine ähnliche Vorlage gegeben, die aber politisch nie sehr ernst genommen wurde. So lange es uns gerade in Deutschland nicht gelingt, Herrn Schröder als Bundeskanzler, Herrn Stolpe als Verkehrs- und Bauminister und den führenden Automanagern deutlich zu machen, daß Verkehrswende nicht bedeutet, die Autoindustrie platt machen zu müssen und alle Straßen stillegen zu müssen, sondern daß Verkehrswende eine historische Gewinnchance bietet, für bessere Mobilität, neue Umsatzmargen, neue Exportchancen und neue Arbeitsmärkte, daß sie also in einen verkehrlichen Konversions- und Strukturwandelansatz eingebettet ist, werden sie kaum Interesse daran zeigen. Über die Chancen einer Verkehrswende sollte also mehr geredet und geforscht werden.

 

Prof. Dr. Heiner Monheim

Prof. Dr. Heiner Monheim lehrt Angewandte Geographie / Raumentwicklung an der Universität Trier und arbeitet seit 30 Jahren in Verkehrspolitik und -Planung. Weitere Beiträge des Autors zum Thema:

H. Monheim & Rita Monheim- Dandorfer:”Straßen für alle. Analysen und Konzepte zum Stadtverkehr der Zukunft” (erhältlich beim Archiv für Stadt- und Verkehrsplanung an der Universität Trier, 54286 Trier, Tel. 06512014534 oder -4551 fax),

H. Monheim: Die Autofixierung der Verkehrspolitik. Warum die ökologische Verkehrswende bisher nicht voran kommt und wie sich das ändern ließe. In: H. Monheim & Ch. Zöpel: ”Raum für Zukunft. Zur Innovationsfähigkeit von Stadtentwicklungs- und Verkehrspolitik”, Essen, 1997( Klartextverlag, Dickmannstr. 2-4, 45153 Essen oder o.a. Archiv)

H. Monheim: Flächenbahn oder Schrumpfbahn. In: G. Altmann, A. Schmidt, W. Wolf: ”Einmal Chaos und zurück. Wege aus der Verkehrsmisere”, Köln, 1998 (16.80, Neuer ISP Verlag, Dasselstr. 75-7750674 Köln)

H. Monheim: Grundsätze für die Aufstellung von Nahverkehrsplänen und die Föderung eines attraktiven ÖPNV. In: Handbuch der kommunalen Verkehrsplanung. 3/1997, S. 1-91

H. Monheim: Strategien für eine neue Verkehrspolitik. In: UVP-Report, 2/99

H. Monheim: Staugesellschaft oder effizientes Mobilitätssystem. Die Verkehrspolitik hat die Wahl. In: ASU-News 3/99

H. Monheim: Integration von Planung und Technik. In:
A. Pastowski/ R. Petersen (Hrsg.): Wege aus dem Stau.
Wuppertal Texte. 1996

 

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