28.04.2008

Sozialabbau
und Niedriglohn-Sektor

22 Prozent arbeiten in Deutschland für Niedriglöhne

Innerhalb weniger Jahre hat Deutschland in einem von den Mainstream-Medien kaum beachteten Rennen alle anderen europäischen Länder überholt und liegt jetzt nur noch knapp hinter den USA. Laut einer bereits seit Januar vorliegenden und am 18. April in Amsterdam vorgestellten Studie des Instituts für Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen ist der Anteil des Niedriglohn-Sektors in Deutschland auf 22,2 Prozent angestiegen. In den USA liegt der Anteil der Billig-Jobber bei 25 Prozent.

In absoluten Zahlen bedeutet dies, daß heute rund 6,5 Millionen Menschen in Deutschland für weniger als zwei Drittel des durchschnittlichen Stundenlohns (OECD-Definition) arbeiten müssen, für weniger als 9,13 Euro. In den "neuen Bundesländern" liegt diese Grenze bei 6,81 Euro, im Westen bei 9,61 Euro. Unterhalb der Grenze liegen 41,1 Prozent der Beschäftigten im Osten und 19,1 Prozent im Westen. Besonders hart trifft auch diese Form des Sozialabbaus Frauen: 76 Prozent der Niedriglohn-Beschäftigten sind Frauen.1

Und: NiedriglöhnnerInnen sind keineswegs nur gering Qualifizierte. Rund 68 Prozent der Niedriglohn-Beschäftigten haben laut IAQ-Studie entweder eine abgeschlossene Berufsausbildung oder gar einen akademischen Abschluß. Das zeige - so die AutorInnen - daß die Niedriglöhne den Kern des Arbeitsmarktes erreicht haben. Die "Flexibilisierung" des Arbeitsmarkts hat zudem dazu beigetragen, daß Tariflöhne unterminiert werden. So erhalten neun von zehn LeiharbeiterInnen Niedriglöhne unter 7 Euro.

Nachdem "Rot-Grün" die gesetzlichen Hürden gegen die Ausbeutung von LeiharbeiterInnen 2004 beseitigt hat, explodieren Beschäftigtenzahl, Umsätze und Gewinne in der Zeitarbeits-Branche. Rund 1.500 Zeitarbeits-Unternehmen beschäftigen eine Million LeiharbeiterInnen, nutzen deren prekäre wirtschaftliche Lage und erzielen damit satte Gewinne. 2006 wurden 75 Prozent aller neu geschaffenen Arbeitsplätze durch LeiharbeiterInnen besetzt. Etwa 40 Prozent des Jahresumsatzes der Branche von zwölf Milliarden Euro erzielen dabei die 15 Branchenführer, allen voran die Schweizer Adecco, der US-Konzern Manpower und der niederländische Konzern Randstadt. Diese drei Branchenführer erzielen Gewinne im zweistelligen Millionenbereich und verzeichnen ein jährliches Wachstum von bis zu 60 Prozent.

Der Umsatz von Adecco, stieg allein im zweiten Quartal 2007 um 24 Prozent auf 251 Millionen Euro. Der Gewinn betrug 28 Millionen Euro. Seit 2006 befindet sich der frühere "rot-grüne" Arbeits- und Wirtschaftsminister Wolfgang Clement als Vorsitzender des 'Adecco Institute für die Erforschung der Arbeit' auf der Gehaltsliste des Konzerns. Clement zeichnete von 2002 bis 2005 als "Superminister" für die Deregulierung des Zeitarbeitsmarktes verantwortlich.

Die AutorInnen der IAQ-Studie nennen die Ursache beim Namen: "Die Politik hat mit umfassenden Deregulierungen die Schleusen geöffnet für die weitere Ausdehnung der Niedriglohn-Beschäftigung." Dabei steigt nicht nur die Zahl der betroffenen Beschäftigten, sondern gleichzeitig sinkt auch seit 2004 deren durchschnittlicher Stundenlohn - im Westen innerhalb eines Jahres von 7,16 Euro (2005) auf 6,89 Euro (2006), im Osten im gleichen Zeitraum von 5,38 Euro auf 4,86 Euro. Bei einer vierzigstündigen Wochenarbeitszeit ergibt sich so ein Monatslohn von rund 1.100 Euro brutto im Westen und von rund 800 Euro brutto im Osten. 2006 arbeiteten insgesamt 1,9 Millionen Menschen sogar für eine Stundenlohn unter fünf Euro. Innerhalb von nur zwei Jahren sanken 400.000 Beschäftigte in diesen untersten Bereich ab.

Mit der Einführung der Hartz-Gesetze hat die "rot-grüne" Bundesregierung unter Gerhard Schröder nicht nur das Ziel verfolgt, den staatlichen Sozialetat zu reduzieren, sondern zugleich den Niedriglohn-Sektor massiv auszuweiten. Hartz IV hat eben auch den Zweck, Arbeitslose zu zwingen, jeden auch noch so schlecht bezahlten Job anzunehmen. Durch die verschärften Zumutbarkeitsregeln wird Druck ausgeübt, auch Jobs mit einer Entlohnung unter Tarif und außerhalb der Sozialversicherung zu akzeptieren. Mehr noch als die Steuerreform des Jahres 2000, die dem Kapital Steuererleichterungen von jährlich über 20 Milliarden Euro verschaffte, war dies ein unschätzbares Geschenk. Seitdem breitet sich der Niedriglohn-Sektor in Deutschland rasant aus. In keinem anderen europäischen Land wurde in den vergangenen Jahren der Niedriglohn-Sektor so stark ausgebaut wie in Deutschland. Zugleich wurde so - und dies muß gerade zum 1. Mai einigen deutlich gesagt werden - der Einfluß der Gewerkschaften massiv geschwächt.

Nach einer ebenfalls dieser Tage vorgestellten dänischen Studie liegt der Anteil der im Niedriglohn-Sektor Beschäftigten in Dänemark nur bei 8,5 Prozent. Er ist damit der niedrigste der fünf miteinander verglichenen europäischen Länder. Anders als in Deutschland bleiben viele dänische GeringverdienerInnen nicht lange im Niedriglohn-Sektor und steigen wieder in besser bezahlte Beschäftigungen auf. In Frankreich sorgt nach einer französischen Studie vor allem der Staat dafür, daß der Niedriglohn-Sektor vergleichsweise klein bleibt - unter anderem mit einem Mindestlohn über 8 Euro und passablen Arbeitsschutzgesetzen.

Wenn nun die SPD neuerdings behauptet, den Niedriglohn-Sektor mit einem Mindestlohn bekämpfen zu wollen, ist dies wenig glaubwürdig. Sie schielt dabei lediglich auf die nächste Bundestagswahl. Als die SPD zwischen 1998 und 2005 die Möglichkeit hatte, einen Mindestlohn gesetzlich einzuführen, lehnte sie dies ab. Beim Bundesparteitag der SPD im Oktober vergangenen Jahres sprach sich am Redepult der damalige Vizekanzler Franz Müntefering für einen Mindestlohn von "sieben-fünfzig" aus. Zugleich arbeiteten die Sicherheitsleute, die im Auftrag von Parteichef Kurt Beck den Parteitag bewachten, für weniger als sechs Euro pro Stunde. Unabhängig von der Existenz einer "Linkspartei" hat die SPD vor Bundestagswahlen noch immer versucht, sich als links von der Union darzustellen.

Die selbe Heuchelei war fünf Monate zuvor im Bundestag zu beobachten: Im Mai wurde bekannt, daß die Putzkräfte des deutschen Parlaments Löhne von 5,50 Euro pro Stunde und weniger erhalten. Die Bundestagsverwaltung stritt ab, Fehler gemacht zu haben - und verwies auf externe Dienstleister. Der Mindestlohn im Gebäudereinigungshandwerk beträgt formell 7,87 Euro.

Selbstverständlich ist die Forderung nach einem Mindestlohn die adäquate Antwort auf das rasante Anwachsen des Niedriglohn-Sektors. Nur:
1. Dieser wird nicht als Dank für ein Kreuzchen am Wahltag von irgendeiner Partei als Gewinn verlost, sondern kann nur im gewerkschaftlichen Kampf durchgesetzt werden.
2. Die Forderung kann und darf nicht unter den Mindestlöhnen unserer europäischen Nachbarländer liegen. Sie kann daher nicht bei 7,50 Euro und nicht bei 8,44 Euro liegen. Die Forderung muß ganz klar lauten: 10 Euro die Stunde.2

Eine weitere Folge von Hartz IV besteht darin, daß nun der Staat auch noch den Niedriglohn-Sektor subventioniert. 1,18 Millionen Niedriglohn-Beschäftigte beziehen nach offiziellen Angaben Arbeitslosengeld II, um trotz Arbeit überhaupt über die Runden kommen zu können. Und nach wie vor gibt es eine große Zahl von Menschen, die aus Scham oder wegen der abschreckenden Wirkung der neu entstandenen Hatz-IV-Bürokratie, den Argen und "Job-Centern" und der damit verbundenen Drangsalierung mit "Aktivierungs-Maßnahmen", ihre Rechte nicht in Anspruch nehmen.

Der Staat übernahm unter "rot-grüner" Regie in diesem Bereich zudem eine Vorbild-Funktion: Mit der Einführung und dem Einsatz von Ein-Euro-Jobs wurden entgegen der rein dekorativen gesetzlichen Vorschriften reguläre Arbeitsplätze verdrängt und eine Abwärts-Spirale in Gang gesetzt. Immer deutlicher wird inzwischen, daß Ein-Euro-JobberInnen trotz guter Leistungen und viel Engagement von vornherein keine Chance auf eine feste Anstellung haben.

Hinzu kommt die in den vergangenen Jahren zunehmend zu beobachtende Flucht der Unternehmen aus ihren Verbänden wie BDI, BDA oder von Kommunen oder gar dem "rot-rot" regierten Bundesland Berlin aus der Tarifgemeinschaft öffentlicher Dienst. In immer mehr Regionen und Branchen kommt es so zu "tarif-freien Zonen" weil sich immer mehr "Arbeitgeber" den Tarifverhandlungen mit den Gewerkschaften entziehen. Im Westen Deutschlands galten im Jahr 2006 nur noch für 65 Prozent der Beschäftigten Tarifverträge, im Osten für 54 Prozent. Die viel beschworene Sozialpartnerschaft wird mehr und mehr in Frage gestellt - das Kapital selbst rüttelt damit an den Grundfesten des Kapitalismus. Den noch von einem Bundeskanzler Erhardt idealtypisch verkörperten Mythos von "Wohlstand und Arbeit für alle" kann auch ein Lafontaine nicht wieder zum Leben erwecken.

Ein besonders trauriges Kapitel ist, daß die Gewerkschaften einen gewissen Anteil an der Entstehung des Niedriglohn-Sektors hatten. So betrug der gewerkschaftliche Tariflohn für einen Wachmann in Thüringen im vergangenen Jahr 4,38 Euro die Stunde, in Sachsen verdiente eine Friseurin im ersten Berufsjahr 3,82 Euro.

Traditionell setzen die deutschen Gewerkschaften bei Lohnverhandlungen auf prozentuale Steigerungen statt auf Festbetrags-Forderungen - zum Nachteil der Geringverdienenden. Bei den Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst ging die Gewerkschaft Ver.di zunächst immerhin mit der Forderung nach einem Sockelbetrag von 200 Euro in die Verhandlungen. Ver.di ließ diese allerdings sehr schnell fallen. Herausgekommen ist nun für dieses Jahr eine Erhöhung um 3,1 Prozent und ein Sockelbetrag von 50 Euro und für 2009 eine Erhöhung um 2,8 Prozent.

Für die Mitarbeiter der Post, deren Tarifvertrag am 30. April ausläuft, fordert Ver.di 7 Prozent mehr für eine Laufzeit von 12 Monaten. Der Briefmonopolist bot bisher 5,5 Prozent auf 24 Monate und will die Beschäftigten zugleich zu einer Arbeitszeitverlängerung zwingen.

Der niedrigste Bruttotariflohn bei der Post liegt bei 1.474,79 Euro, der höchste bei 4.131,76 Euro. Der "Ecklohn", also der Bereich, in dem nach Ver.di-Angaben mit etwa 110.000 die Meisten der insgesamt 180.000 Post-ArbeitnehmerInnn arbeiten, beträgt zwischen 1.740,36 und 2.183,05 Euro. Bei einer prozentualen Steigerung um 7 Prozent, wie die Gewerkschaft sie fordert, würde die höchste Lohngruppe monatlich 289,22 Euro mehr bekommen, die niedrigste dagegen nur 103,24 Euro. Für das Gros der DurchschnittsverdienerInnen läge die Lohnsteigerung zwischen 121,83 und 152,81 Euro.

Für dieses Festhalten an prozentualen Lohnforderungen können die Gewerkschaften keine rationalen Gründe nennen. Geradezu widersinnig ist die Argumentation aus den Reihen der Gewerkschaftsbürokratie, daß bei einer Festbetragssteigerung die untersten Lohngruppen verstärktem "Rationalisierungsdruck" ausgesetzt würden. Höhere Lohnforderungen würden also zu mehr Entlassungen führen. Wer eine solche Argumentation verinnerlicht hat, betreibt wohlgemut eine Niedriglohn-Politik. Eine Rolle mag sicherlich auch spielen, daß viele GewerkschaftsfunktionärInnen selbst eher mit hohen Einkommensgruppen zu tun haben oder solchen entstammen.

Infolge prozentualer Lohnerhöhungen haben sich niedrige und hohe Löhne immer mehr voneinander entfernt. Zwischen 1995 und 2005 stieg die Lohnspreizung nach OECD-Angaben ganz erheblich. Besonders deutlich wird die Wirkung prozentualer Lohnsteigerungen, wenn wir Manager-Gehälter für einen Vergleich heranziehen. Diese werden allerdings übertariflich gezahlt. Erhält ein Manager mit einer Million Jahresgehalt 3 Prozent mehr, dann sind das 30.000 Euro und damit mehr als das Doppelte des Jahresgehalts eines Geringverdieners mit 15.000 Euro. Bei diesem würde ein dreiprozentiger "Lohnzuwachs" durch die Lebenshaltungskosten - bei einer Konsumquote von annähernd 100 Prozent - derzeit völlig von der Inflation aufgefressen. Im März stieg die Inflationsrate in Deutschland nach offiziellen Angaben auf 3,3 Prozent.

Obwohl Managergehälter außertariflich gezahlt werden, sind auch hier die Gewerkschaften mit verantwortlich: durch ihre Mandate in den Aufsichtsräten, über die sie in den letzten Jahren den mittlerweile scharfer Kritik ausgesetzten Gehaltssteigerungen, Boni und Abfindungen zustimmten. Dietmar Hexel, Mitglied des DGB-Bundesvorstands kündigte nun im 'Handelsblatt' an, daß VertreterInnen der Gewerkschaften in solchen Gremien "überhöhten" Managergehältern nicht mehr zustimmen würden. Bei der Definition dessen, was "überhöht" ist, legt der großzügige Gewerkschafter dabei durchaus andere Maßstäbe an als jene, nach denen Manager Niedrigverdienerforderungen ab etwa 3 Prozent als "überhöht" bezeichnen: "Zweistelligen Zuwachsraten bei Vorstandsbezügen", so Hexel, "werden wir nicht mehr zustimmen".

 

REGENBOGEN NACHRICHTEN

 

Anmerkungen

1 Siehe hierzu auch unseren Artikel:

      Sozialabbau trifft Frauen härter (8.03.08)

2 Siehe hierzu auch unseren Artikel:

      Absurde Argumente gegen den Mindestlohn
      Dient eine Lohnuntergrenze den Mächtigen? (7.04.08)

 

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