22.10.2007

Artikel

Sozialabbau,
Scham und Schuldgefühle

Scham und Schuldgefühle führen in Depression und Lethargie

Reinhold Bianchi analysiert die Ursachen
und zeigt Ausweg auf

In der Linken wurde schon des öfteren die Frage aufgeworfen, wie es erreicht werden könnten, die unter Hartz-IV-Betroffenen leider weit verbreitete Resignation und Lethargie zu durchbrechen. Ein wichtiger Aspekt blieb dabei bisher weitgehend unberücksichtigt:

Hartz-IV-Opfern werden Scham und Schuldgefühle gezielt eingeimpft und es werden solche Gefühle verstärkt und immer wieder bestätigt. Es ist klar: Wer sich als Täter, als Sozialschmarotzer, als Zecke oder Parasit empfindet, sieht sich schuldig und wehrt sich nicht. Resignation und Lethargie sind die Folge.

Der Psychoanalytiker Reinhold Bianchi sagte dazu aktuell in einem Interview mit der Tageszeitung 'junge welt':
"Die zentrale Grundlage, um das Selbst der Hartz-IV-Opfer vor Depressionen zu schützen, besteht im Abbau der induzierten Scham- und Schuldgefühle, die den Betroffenen vermittelt werden. Sie brauchen ein Bewußtsein, daß sie die Opfer derjenigen sind, die eine soziale Spaltung immer weiter treiben und die ständige Begünstigung von Großkonzernen durch Abbau der Sozialleistungen finanzieren."

Reinhold Bianchi ist Ko-Autor des Buchs »Solidarisch Mensch werden - psychische und soziale Destruktion im Neoliberalismus und Wege zu ihrer Überwindung« (VSA).

Weitere Überlegungen von Bianchi:

Es ist seit Jahren eine gesellschaftliche Abwärtsspirale zu beobachten: Immer mehr Menschen müssen Jobs mit geringerem Lohn oder Gehalt annehmen, der Niedriglohn-Sektor wird zunehmend ausgeweitet, immer mehr Menschen machen die Erfahrung des sozialen Abstiegs bis aufs ALG-II-Niveau. Und diese Abwärtsspirale hat nicht nur eine gesellschaftliche und soziale, sondern auch eine psychische Komponente: Entwertungs- und Ausgrenzungserfahrungen, die Depressionen und Verzweiflung hervorrufen. Ein rigider bürokratischer Apparat behandelt die Betroffenen als Last, die möglichst rasch weggeschoben werden muß. Das verabsolutierte Kostensenkungsprinzip geht zu Lasten der Menschen und ihrer Würde. Die Aufhebung der Zumutbarkeitsgrenzen verschärft den »Gewaltakt Arbeitslosigkeit« für die Betroffenen. Sie erfahren eine psychisch und materiell sehr destruktive Entwertung ihrer Bildung und beruflichen Leistung, die für das Selbstwert- und Identitätsgefühl relevant sind.

Bianchi bestätigt die These, daß die Hartz-Gesetze auf Kontrolle, Sanktionierung, Aushungern und den autoritären Staat setzen. Die Hartz-Gesetze stellen eine Art »Verfolgungsbetreuung« dar, die der Einschüchterung, Disziplinierung und Entmündigung der Betroffenen dient. Damit sollen sie ein wichtiges Element beim Aufbau eines autoritären Staats bilden, mit dem sich die Machteliten für ihre aggressiven Aktionen nach innen und außen fit machen und gegen Krisenreaktionen von unten absichern wollen.

Am Aufbau eines sozialen Klimas von Scham und Schuldgefühlen und der daraus resultierenden Resignation und Lethargie haben die neoliberalen Eliten in Wirtschaft, Politik und Medien ein starkes Interesse. Sie profitieren von der sozialen Spaltung, die die Gewinne exorbitant steigert und die sozial Schwächeren dafür bezahlen läßt. Die Diskreditierung ist ein indirektes, sozial und psychisch brutales Herrschaftsmittel.

Die Arbeitsbedingungen im Niedriglohn-Sektor werden zunehmend brutaler. Die Menschen werden verschlissen und erleiden immer häufiger berufsbedingte Schäden. Sind sie dann nur noch eingeschränkt arbeitsfähig, werden sie gezwungen Jobs anzunehmen, die noch schlechter bezahlt sind. Überstunden werden häufig nicht mehr bezahlt und berechtigte Fragen mit dem Hinweis auf das Heer des Arbeitslosen kaltlächelnd zurückgewiesen. Der Umgangston - gerade in Firmen dieses Bereichs - wird immer unmenschlicher. Statt einer begründeten Kündigung heißt es dann beispielsweise: "Den Schlüssel haben Sie morgen in den Briefkasten zu werfen."

Die Menschen im Niedriglohn-Sektor, die oft unter ungesicherten Bedingungen arbeiten und leben müssen, sind mehrfach traumatisierenden Erfahrungen ausgesetzt. Sie erleben die Entwertung ihrer Arbeitsmühe, mit der sie ihren eigenen Lebensunterhalt nicht - oder kaum mehr - sichern können. Das sind Gefühle einer Sisyphus-Situation, einer tief deprimierenden und erschöpfenden Vergeblichkeit.

Ihre Arbeits- und Lebenserfahrungen fügen sich in die generellen Erfahrungen ein, die insbesondere Arbeitslose machen müssen: Auf die psychischen und materiellen Entwertungen reagieren sie sehr häufig mit depressiven Verstimmungen, Schuldgefühlen, Selbstwertverlust und tiefen Schamgefühlen über ihre Not und ihre schlechte Behandlung.

Wenn sie keine schützenden und unterstützenden Umweltbezüge haben, reagieren sie zumeist wie isolierte Trauma-Opfer. Sie geben sich selbst die Schuld und passen sich den aggressiven und selbstgerechten Tätern an. Diese Ideologie entspringt der Vergötzung des Marktes und besagt, daß es im Markt keine nicht-verkäufliche Ware gibt. Man muß nur den Preis genügend senken.

Laut Bianchi findet eine Täter-Opfer-Verkehrung großen Stils statt. Mit Hartz IV wird sie sozusagen institutionalisiert. Der sozialen Not wird die psychische Diskreditierung hinzufügt. Die Unzufriedenheit vieler Menschen über die Sozialabbau-Politik ist sehr viel größer, als es sich nach außen zeigt. Dies liegt vor allem an der Desorientierung der Menschen durch das monolithische sozial- und wirtschaftspolitische Kartell der neoliberalen Medien.

In diese Front neoliberaler Medien haben sich nach dem Regierungsantritt von "Rot-Grün" 1998 auch vorher kritischere linksliberale Organe wie Spiegel, Zeit, Süddeutsche Zeitung, Badische Zeitung und die öffentlichen Sender eingereiht. Diese Leitmedien werden von der Bevölkerung weiterhin als vertrauenswürdige Orientierungspole erlebt, obgleich sie eine Orientierung an den Lebensbedürfnissen der Menschen grundsätzlich als »populistisch« abtun, und den Sozialabbau als alternativlose »Reformpolitik« propagieren. So wird das politische Bewußtsein der Betroffenen geradezu neoliberal umzingelt.

Fazit: Bianchi sieht die Traumatisierung der working poor und der Arbeitslosen als Folge der mit dem Neoliberalismus verbundenen und wahnhafte Züge tragenden Ideologie der »freiwilligen Arbeitslosigkeit«.

Welchen Ausweg zeigt Reinhold Bianchi auf?

Wichtig ist es, sich vor Isolation zu schützen und den solidarischen Kontakt zu anderen Betroffenen und sozial engagierten Gruppen zu suchen. Dadurch kann die Gefahr vermindert werden, daß die Opfer des Sozialabbaus ihre Frustration auf die eigene Familie abladen und damit ihre persönliche Not nur noch vergrößern. Gefordert ist eine Stärkung glaubwürdiger solidarischer und antikapitalistischer Gegenkräfte, sei es in den Kirchen, den Gewerkschaften, in Parteien oder anderen politischen Organisationen und sozialen Basisorganisationen. Nur so lassen sich alternative Wahrnehmungs- und Denkweisen entwickeln und darauf basierende Widerstandsaktionen in breiterem Maße realisieren.

 

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