28.11.2003

Britischer Lordrichter
kritisiert US-Regierung
wegen Guantánamo

Lord Steyn wirft Washington "äußerste Gesetzlosigkeit" im Umgang mit den Gefangenen vor

Lord Steyn, der dritthöchste der zwölf Londoner Law Lords, die das Oberste Gericht der Insel bilden, warf der US-Regierung vor, die Gefangenen auf Guantánamo in einem Zustand "äußerster Gesetzlosigkeit" zu halten und Militärverfahren gegen sie vorzubereiten, die einem "Femegericht" alter Zeiten gleichkämen. In einer Rede vor Juristen beschuldigte der Lord-Richter die US-Regierung eines "monströsen Rechtsbruchs".

Die USA hielten die Guantánamo-Gefangenen offenkundig fest "in der Absicht, sie jenseits von Recht und Ordnung zu stellen, jenseits allen Schutzes durch die normale Gerichtsbarkeit, dem reinen Willen der Sieger ausgeliefert". Die geplanten Militärverfahren erfüllten "nicht einmal minimale internationale Standards für faire Prozesse" und würden sich, so es zu ihnen komme, als "Schandfleck" für die US-Justiz erweisen.

Diese in Aussicht genommenen Verfahren nämlich, erklärte Lord Steyn, sähen das US-Militär als Verhörpersonal, als Ankläger, als Verteidiger, als Richter und als Henker. Die Prozesse würden hinter verschlossenen Türen stattfinden. Der einzige, der auf den Verlauf Einfluß nehmen könne, sei der US-Präsident - der die Gefangenen bereits als "Killer" bezeichnet habe.

Die eigene, britische Regierung forderte Lord Steyn auf, den USA gegenüber "öffentlich und in unzweideutiger Weise klar zu machen, wie sehr wir diese äußerste Gesetzlosigkeit verurteilen". Premier Tony Blairs Bemühungen, für die neun britischen Guantánamo-Häftlinge eine Sonderbehandlung zu erwirken, und die anderen 650 Gefangenen zu ignorieren, bezeichnete er als "unmoralisch".

Der Ausfall des prominenten Richters löste in London höchste Verwunderung aus. Britischen Gepflogenheiten zufolge halten sich hohe Richter des Königreichs in politischen Fragen zurück, und greifen schon gar nicht die eigene Regierung oder fremde Regierungen an. An möglichen künftigen Verfahren, die die Guantánamo-Gefangenen betreffen, wird Lord Steyn nun jedenfalls nicht mehr teilnehmen können. Der als liberal bekannte 71-jährige Richter sah sich aber, wie er einräumte, "nach langer Gewissensprüfung" zu seiner Intervention genötigt.

In Kriegszeiten oder zu Zeiten vermeintlicher nationaler Bedrohung, meinte Lord Steyn, komme es leider allzu häufig vor, daß sogar demokratische Staaten Bürgerrechte in einer Weise einschränkten, die "völlig unproportional" zur betreffenden Krise sei. Richter aber erwiesen sich häufig, selbst in Friedenszeiten, als "allzu unterwürfig" gegenüber ihrer jeweiligen Exekutive.

Unterdessen wurde bekannt, daß Washington die Regeln für die geplanten Militärtribunale für die Gefangenen von Guantánamo überprüfen will. Das teilte das US-Verteidigungsministerium mit. Zuvor hatte es im Streit um zwei Australier Konzessionen eingeräumt, die auf Guantánamo als mutmaßliche Terroristen festgehalten werden. Das Pentagon sagte der australischen Regierung zu, daß die Gefangenen im Falle einer Verurteilung nicht hingerichtet würden. Eine entsprechende Zusage hatte die US-Regierung bereits im Juli gegenüber der britischen Regierung wegen ebenfalls zwei gefangen gehaltenen Staatsangehörigen abgegeben. Ob derlei Konzessionen auch gegenüber weiteren Regierungen für Gefangene der jeweiligen Staatsangehörigkeit zustande kommen werden, ist fraglich. Menschenrechtsanwälte verweisen auf die daraus resultierende Konsequenz, Gefangene je nach Staatangehörigkeit zu töten.

 

Peter Nonnemacher

 

neuronales Netzwerk