4.12.2003

Kampf gegen Kulturabbau

Die Studentenproteste finden zunehmend Widerhall im ganzen Bundesgebiet

Am Dienstag Vormittag erhielten die Mitarbeiter der Berliner S-Bahn eine ungewöhnliche Mitteilung. Der Lagedienst Sicherheit, der für die Ordnung auf den Bahnhöfen und Gleisanlagen zuständig ist, forderte die Mitarbeiter demonstrativ auf, öffentliche Vorlesungen und Protestaktionen von Studenten auf S-Bahngelände zu dulden. Nur bei Gefährdung des Verkehrs würde man einschreiten. Nicht nur ein symbolischer Akt. Immer öfter zeigt sich gegenwärtig Solidarität mit dem Widerstand der Studenten, der nicht länger als isolierter Akt von Besitzstandswahrung begriffen wird. Es geht um den grundsätzlichen Protest gegen die Abbau- und Kürzungsorgien von Bund und Ländern, die sich bei beliebigen Parteienzusammensetzungen nicht mehr unterscheiden.

Der allgemeine Sozialabbau und die damit verbundene heimliche Einführung eines Studiums nur für Reiche, empört eigentlich alle Bevölkerungsschichten. Doch bis der bequeme Bürger revoltiert, dauert es eben seine Zeit. Nun scheint jedoch das Faß übergelaufen zu sein. Gerade die oft gescholtene zukünftige Elite, die Studenten, machen seit vielen Wochen mobil. Dagegen konnten sich die Gewerkschaftler - und auch da nur die Basis - nur zu einer Großdemonstration am 1. November durchringen.

Zu viel ist vorgefallen, als daß man noch schweigen kann. Daß sich die Situation in Berlin besonders heftig zuspitzt, ist der besonderen Finanzsituation der deutschen Hauptstadt geschuldet. Hier droht eine der letzten deutschen Ressourcen, der Geist und die Bildung, abhandenzukommen. Zunehmend finden nun im ganzen Bundesgebiet Aktionen gegen Sozialabbau und Studiengebühren statt. Der Phantasie sind dabei keine Grenzen gesetzt.

Seit Anfang letzter Woche haben die streikenden Studierenden in Berlin eine neue Taktik gewählt. Es wird gleichzeitig studiert und protestiert, unter freiem Himmel und in öffentlichen Verkehrsmitteln. Denn die meisten Professoren stehen diesmal auf der Seite ihrer Studenten. Ein Student begründet dies so: "Wenn wir unsere Institute besetzen und streiken, bekommt das ja keiner mit. Aber wir wollen den Kontakt zu den Menschen". Vom 1. bis zum 4. Dezember haben die Studierenden am Potsdamer Platz nonstop die längste Physikvorlesung aller Zeiten bewerkstelligt. Nicht weit entfernt hielten die Politologen der FU eine Vorlesung ab. Am Montag nachmittag hatten auch die Studierenden der FU auf einer Vollversammlung mit 2.000 Studierenden fast einstimmig für die Weiterführung des Streiks votiert. Am Dienstagabend hatten so zirka 30 Studenten nach einer Dichterlesung das Rote Rathaus für einige Stunden besetzt gehalten. Auch angehende Juristen und Mediziner beteiligen sich erstaunlicherweise diesmal an den Protesten.

Zumindest in einigen Regionen nimmt die Zahl der außerstudentischen Sympathisanten auffällig zu. In Frankfurt/Main fand anläßlich der Eröffnung des Fußball Globus FIFA WM 2006 eine Aktion von etwa 100 Studenten statt. Lautstark machten sie dabei auf den Bildungs- und Sozialabbau aufmerksam. Gleichzeitig zu den Einschnitten in den Sozial- und Bildungsetats stellt nämlich die Hessische Landesregierung allein für den Neubau des Frankfurter Waldstadions im Vorfeld der WM stolze 20,5 Millionen Euro zur Verfügung. Weitere 65 Millionen sollen dafür zusätzlich aus dem Haushalt der Stadt Frankfurt abgezweigt werden.

Auch im Rahmen der Anti-Koch-Kampagne finden momentan täglich Proteste statt. In Braunschweig fand kürzlich eine Demonstration mit rund 5.000 Teilnehmern gegen den Bildungs-, Kultur- und Sozialabbau durch den Bund und das Land Niedersachsen statt. Aufgerufen zu der Demonstration hatten zum Beispiel der DGB, die AStAs der Braunschweiger Hochschulen sowie das dortige Studentenwerk. Erwähnenswert ist dabei, daß zirka 1.500 der Demonstranten vom VW-Werk kommende Arbeiter waren, die von den anwesenden Studierenden begeistert empfangen wurden. So wurde deutlich, daß die Opfer des Kapitals, ob Lohnabhängige oder Studenten, fest zusammenstehen und sich nicht spalten oder gegeneinander ausspielen lassen.

In Hannover wurde vor einigen Tagen von Göttinger Studenten sprichwörtlich die Bildung zu Grabe getragen und symbolisch ein Kranz vor dem niedersächsischen Landtag niedergelegt. Die Fachhochschulen in Berlin und sonstwo sind bei der Unterstützung und Verbreiterung der Proteste ebenfalls gefragt. Erfahrungsgemäß ist hier die Streikbereitschaft nicht so hoch wie an den Universitäten. Aber erste Anzeichen sind an der staatlichen Fachhochschule für Sozialwesen in Berlin-Hellersdorf und der Katholischen Fachhochschule für Sozialwesen mittlerweile zu sehen. Gerade die sozialen Schulen haben eine deutliche Verbindung zu den Kürzungen im sozialen Bereich. Seit Tagen mobilisieren die Studenten schon für einige Großdemonstrationen am 13. Dezember, die gleichzeitig in Berlin, Leipzig und Frankfurt/Main stattfinden sollen. Auch in anderen europäischen Staaten sind Solidaritätsaktionen geplant.

 

Falk Hornuß
Kontakt: falk.hornuss@rbi-aktuell.de

 

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