GUARDIAN, Samstag, 28. Oktober 2000
HMS Tireless: Wie ein "kleinerer Defekt" beinahe eine Katastrophe auslöste
Erst jetzt, mehr als fünf Monate nachdem das Verteidigungs- ministerium den
Bewohnern Gibraltars versichert hatte, daß es sich nur um einen "kleineren
Defekt" handelte, werden das volle Ausmaß und die dramatischen Konsequenzen
offenbar. Das U-Boot HMS Tireless, das seit Mai am Fels von Gibraltar festsitzt, stand
kurz vor einer Katastrophe, sein Atomreaktor "ganz kurz vor einem Unglück", erfuhr
der Guardian aus sicheren Quellen.
Der Riss, weit ernster als zuerst vermutet, soll sich an einer kritischen
Verbindungsstelle der Rohren im Kühlsystem des Wasserdruckreaktors
befinden, die nicht isoliert werden kann. Die Marine erkennt nun, daß es
sich nicht einfach um übliche Abnutzungserscheinungen handelt, sondern um einen
potentiell katastrophalen Konstruktionsfehler. Gefragt, ob das Problem, das nun
vermutlich ein "konstruktionsbedingtes" Problem ist, vorauszusehen war, geben die
Quellen aus
der Marine ausweichende Antworten. Gebetsmühlenhaft betonen sie, daß die
Sicherheit "höchste Priorität" genieße.
Es besteht kein Zweifel, dass die Marine das Thema der Sicherheit äußerst ernst
nimmt. Quellen aus dem Verteidigungs- und Nuklearbereich sind nicht beunruhigt wegen
der Maßnahmen, die ergriffen wurden, nachdem das Leck in der Tireless
schließlich diagnostiziert wurde - nämlich der Rückruf der gesamten britischen
Flotte von Angriffs-U-Booten. Sie sind statt dessen besorgt darüber, warum das
ursprüngliche Leck, Symptom eines, wie sich nun herausgestellt hat, weit
verheerenderen Problems, nicht früher entdeckt wurde.
"Die Risse könnten sich an keiner schlimmeren Stelle befinden. Sie ist
kritisch für die Sicherheit," wurde dem Guardian mitgeteilt. Quellen
zufolge war der Reaktor der Tireless kurz vor dem Versagen - mit anderen Worten:
kurz vor der Kernschmelze.
Die kritische Verbindungsstelle der Rohre, wo der Schweißfehler schließlich entdeckt
wurde, war nicht mehr inspiziert worden, seit die ersten U-Boote der Swiftsure
Klasse mit diesem Reaktordesign in den frühen 70er Jahren gebaut wurden,
wie aus sicheren Quellen zu erfahren war. Man fügte hinzu: "Es handelt sich um
einen sehr schweren
Fehler des Inspektionsüberwachungssystems der Marine. Es ist ziemlich
bemerkenswert."
Das Problem wird dadurch verschärft, daß die "Konstruktions- autorität" nicht
beim Hersteller Rolls-Royce, sondern beim Verteidigungsminister liegt. Das
heißt, das Verteidigungs- ministerium überwacht die U-Boote, die Hersteller sind
für Fehler nicht verantwortlich.
Marine-Ingenieure sollen sich erstaunt darüber gezeigt haben, daß das bei der
Tireless aufgetretene Problem so ernst war. Ebenso alarmierend ist, wie aus
Quellen der Marine verlautet, daß die Risse in den Rohren des Reaktor-Kühlsystems
nur entdeckt worden seien, weil eine neue Technologie angewandt wurde, mit der
man noch keine Erfahrung hatte.
Aber der Marine fehlt es nicht an Erfahrung mit Problemen bei den Atomreaktoren
ihrer U-Boote. Atombomben-U-Boote der Polaris-Klasse wiesen Reaktorprobleme auf, die, wie
sich herausstellte, dieselben waren wie die, die die ältere Flotte von
Hunter-Killer-U-Booten aktionsunfähig machten: rissige Rohrleitungen im
primären Kühlsystem.
Bereits 1991 offenbarte Reg Farmer, ein Mitglied des Sicherheitsausschusses des
Verteidigungsministeriums, das für die atombetriebenen Kriegsschiffe zuständig
ist, daß Risse an der Basis von Dampfgeneratoren in den Atomreaktoren entdeckt
worden waren. Er äußerte sich damals gegenüber dem Fernsehsender Thames Television,
nachdem das
Verteidigungsministerium sich hartnäckig geweigert hatte, Fragen von
Parlamentariern zu beantworten mit der Begründung, daß sie "sensible
militärische Bereiche" berührten.
Diese Woche teilte das Verteidigungsministerium mit, es könne nicht offenlegen,
was mit dem Tireless-Reaktor nicht in Ordnung sei, "ohne zuerst die Amerikaner
zu konsultieren" - der Reaktor basiert auf amerikanischen Konstruktionsplänen.
Im Juli erklärte John Spellar, Minister der Streitkräfte, Mitgliedern des
Parlaments: "Bei den Reparaturarbeiten an der HMS Tireless handelt es sich um
eine Standardreparatur, nachdem Kühlwasser im Reaktorbereich ausgelaufen war."
Die Arbeiten, fügte er hinzu, würden "im Herbst" abgeschlossen sein.
Wegen der Empfindlichkeit der öffentlichen Meinung auf Gibraltar werden die
Reparaturen an der Tireless wohl nicht beginnen, bevor die Arbeit an einem ihrer
Schwesterschiffe in Großbritannien abgeschlossen ist. Die Bewohner Gibraltars
müssen sich eventuell auf die Aussicht einrichten, daß eine bewegungsunfähige Tireless
ein Jahr lang vor ihrem Felsen liegt.
"Die Stimmung in Spanien, in den Städten nahe Gibraltar, ist dahingehend, daß das
U-Boot zurück nach Großbritannien geschleppt werden soll", meinte gestern Michael
Castiel, der Anwalt, der oppositionelle Gruppen in Gibraltar vertritt.
Für das Verteidigungsministerium mag das ein kleines lokales Problem sein
verglichen damit, daß die Marine für mindestens fünf Monate auf ihre gesamte
U-Boot-Schlagkraft verzichten muß. Es wäre unangemessen, den "Schmerz und die
Trauer" darüber zu verleugnen, war von einer unserer Quellen aus der Marine zu hören.
Der Rückruf überschneidet sich zeitlich mit dem Verkauf von Großbritanniens
verbliebenen konventionell angetriebenen U-Booten an Kanada, eine Entscheidung,
die die Tory-Regierung gefällt hatte.