28.11.2011

Volksabstimmung zu Stuttgart 21
Vorhersehbare Niederlage

Volksabstimmung 27.11.2011 Daß die GegnerInnen des Mega-Projekts 'Stuttgart 21' bei der gestrigen Volksabstimmung in Baden-Württemberg Schiffbruch erleiden würden, war angesichts des undemokratischen Quorums vorhersehbar. Die Niederlage war wegen des selbst in Stuttgart negativen Ergebnisses besonders bitter. Der Kampf gegen 'Stuttgart 21' ist damit entschieden. Das Projekt wird dennoch scheitern.

Zynisch hatte der baden-württembergische pseudo-grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann im September in einem Interview - als er darauf angesprochen wurde, daß die Chancen für die Projekt-Gegnerinnen angesichts des 33-Prozent-Quorums verschwindend gering seien - geantwortet, er hoffe eben auf ein Wunder. Laut diesem in der baden-württembergischen Verfassung festgeschriebenen Quorum hätte mindestens ein Drittel der Wahlberechtigten - rund 2,5 Millionen Menschen - gegen das Projekt stimmen müssen, um es zum Scheitern zu bringen.

Ein weiterer entscheidender Grund für das Scheitern der Projekt-GegnerInnen bei der gestrigen Volksabstimmung liegt darin, daß sich die Bewegung gegen 'Stuttgart 21' nicht gegen die falschen "RepräsentantInnen" hatte wehren können, die mit Hilfe der Schlichtungs-Farce im Oktober und November 2010 die Mehrheitsverhältnisse im Ländle umzukehren vermochten. Mit Hilfe Heiner Geißlers, des scheinbar neutralen ehemaligen "schwarzen" Generalsekretärs Helmut Kohls, wurde der Öffentlichkeit das Bild vermittelt, sowohl GegnerInnen als auch BefürworterInnen verfügten über hervorragende und überzeugende "Sachargumente". Mit technischer Detailhuberei konnten die wirklich entscheidenden Argumente wie etwa die unverhältnismäßig hohen Kosten des Projekts oder die nicht wegzudiskutierende Gefahr für die Mineralbrunnen vernebelt werden. Jede der beiden Seiten auf der Bühne des Schlichtungs-Theaters mit vorausgewählten DarstellerInnen bescheinigte der anderen artig Ernsthaftigkeit und Kompetenz. Damit wurde das Ziel erreicht, daß in weiten Teilen der interessierten Öffentlichkeit der Eindruck entstand, alle hätten gleichwertig gute Argumente und das Ganze sei letztlich nicht mehr als eine Geschmacksfrage.

Um zu verstehen, wie es zu dieser Schlichtungs-Farce kam und wer dabei welche Rolle spielte, ist es wichtig, sich noch einmal den zeitlichen Ablauf vor dem Beginn der "Geißler-Schlichtung" am 15. Oktober 2010 ausführlich vor Augen zu führen. Die Rolle Kretschmanns bei der Vorbereitung der "Geißler-Schlichtung" wurde in der Öffentlichkeit nur wenig beachtet. Bereits Anfang September vergangenen Jahres, als wöchentlich Zehntausende gegen "Stuttgart 21" auf die Straße gingen, versuchte Kretschmann die Bewegung zu spalten. Während noch ein allgemeiner Konsens bestand, daß eine Teilnahme an dem von Ministerpräsident Mappus und Bahn-Chef Rüdiger Grube angebotenen "Runden Tisch" nur bei einem Bau-Stop in Frage käme, warb Kretschmann bereits für eine Teilnahme "ohne Vorbedingung". Der pseudo-grüne Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, der noch im August gesagt hatte, ein Bau-Stop sei unabdingbare Voraussetzung für Gespräche, schwenkte im September um und stellte sich auf die Seite Kretschmanns. Allerdings erklärte der pseudo-grüne Verkehrsexperte und Fraktions-Chef im Stuttgarter Gemeinderat, Werner Wölfle, zu diesem Zeitpunkt noch, daß Gespräche ohne einen vorherigen Bau-Stop keinen Sinn hätten: "Sonst macht niemand mit."

Doch die 'Süddeutsche Zeitung' hatte bereits am 31. August in einer Schlagzeile verkündet: "Stuttgart-21-Gegner auch ohne Baustopp zu Gespräch bereit". Das dauerte dann jedoch noch fünf Wochen. Erst nach dem "blutigen Donnerstag", dem 30. September, als es bei einem brutalen Polizei-Einsatz zu vielen Verletzten gekommen war und Mappus dringend aus der Ecke geholt werden mußte, in die er sich selbst manövriert hatte, als in den ersten Oktober-Wochen die Beteiligung an den Demos auf über 110.000 Menschen gestiegen und eine Bauplatzbesetzung nur noch eine Frage der Zeit war, setzte Kretschmann mit einigen willigen HelferInnen den "Runden Tisch" mit dem von ihm vorgeschlagenen "Schlichter" Heiner Geißler durch. Ohne Bau-Stop. Selbst Geißler hatte noch wenige Tage zuvor gesagt, ein Bau-Stop sei Teil der "Friedenspflicht" während einer Schlichtung, diese Aussage dann aber wieder zurückgezogen.

Am 15. Oktober fanden sich einige FunktionärInnen bereit, darunter auch Werner Wölfle, ohne Vorbedingung eines Bau-Stops an dem abgekarteten Schauspiel teilzunehmen. Selbst als am 17. November durch eine Veröffentlichung des 'stern' bekannt wurde, daß sich die Bahn nicht an die zugesagte Transparenz bei den Planungsunterlagen gehalten hatte, stieg niemand der von den Mainstream-Medien als VertreterInnen der Bewegung gegen "Stuttgart 21" dargestellten HelferInnen Kretschmanns aus dem Schlichtungs-Zirkus aus. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war offenkundig, daß es sich bei der "Geißler-Schlichtung" um eine Farce handelte. Das Ergebnis dieser "Schlichtung", das Geißler zwei Wochen darauf verkündete, konnte ernstlich niemanden mehr überraschen.

Daß Kretschmann ganz bewußt auf "Transparenz" und "Bürgerbeteiligung" setzt, um das durchzusetzen, was "Schwarz-Gelb" auf die brachiale Tour nicht gelang, sollte nicht verwundern. Kretschmann weiß recht gut, wie der hessische Widerstand gegen den Flughafen-Ausbau in Frankfurt Main mit Hilfe von Mediations-Verfahren ausgetrickst werden konnte. (Siehe hierzu auch das Interview vom 18.10.11) In seiner Zeit als "Turnschuh-Minister" unter dem hessischen Ministerpräsidenten Holger Börner hatte Joseph Fischer den Parteifreund Kretschmann als wohldotierten Ministerialrat nach Hessen geholt. Am 27. März 2011, dem Tag der Landtagswahl in Baden-Württemberg, war daher die Prognose nicht sonderlich gewagt, daß die "grün-rote" Koalition "unter einem Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann nun »Stuttgart 21« durchzusetzen versuchen" wird. (Siehe hierzu unseren Artikel vom 27.03.11)

Eine ganze Reihe zweitrangiger Gründe spielte beim heutigen Ergebnis der Volksabstimmung ebenfalls eine Rolle. Es ist jedoch absehbar, daß diese in den Vordergrund gerückt werden, um den Hauptgrund für die Niederlage der 'Stuttgart-21'-GegnerInnen verdecken zu können. Diese nebensächlichen Gründe seien der Vollständigkeit halber hier erwähnt: Fast genau ein Jahr nach der "Geißler-Schlichtung" waren mit dem Abriß des Nordflügels des alten Kopfbahnhofs und dem Beginn der Bau- und Baumfällarbeiten Fakten geschaffen worden, die Vielen den Eindruck vermittelten, mittlerweile sei es für eine Umkehr zu spät. Diese Fakten wurden als zentrales Argument von Seiten der 'Stuttgart-21'-BefürworterInnen im Wahlkampf eingesetzt. Diese setzten zudem auf die Angst vor Schadenersatzforderungen in Höhe von 1,5 Milliarden Euro, die auf das Land im Falle eines Ausstiegs aus dem Projekt laut Bahn AG zukämen. Zugleich geriet völlig aus dem Blick, daß auf der anderen Seite das Risiko besteht, daß zehn Milliarden Euro in der Mitte Stuttgarts verbaut werden, ohne daß das Projekt jemals fertiggestellt wird.

Und selbst wenn die Mehrheitsverhältnisse in diesem Jahr noch so gewesen wären wie vor der "Geißler-Schlichtung" - Anfang September 2010 hatten sich laut einer Umfrage des Meinungsforschungs-Instituts Forsa 51 Prozent der Menschen in Baden-Württemberg gegen "Stuttgart 21" ausgesprochen und in Stuttgart lehnte laut Forsa sogar eine Zweidrittel-Mehrheit das Mega-Projekt ab - fanden sich die 'Stuttgart-21'-GegnerInnen in den vergangenen Wochen des Wahlkampf in einer Rolle als David gegen Goliath wieder: Die geballte Macht von Werbeagenturen und Medien wird zwar oft überschätzt, kann aber bei einem knappen Ergebnis den Ausschlag geben.

Es ist dennoch müßig, einmal mehr über die ungleichen und dabei unfairen Voraussetzungen in einem Wahlkampf zu lamentieren, bei dem es um ein Projekt geht, das nicht nur ein reines Prestige-Projekt der oberen Zehntausend darstellt, sondern ganz offensichtlich in erster Linie Profitinteressen dient. Dennoch hatte es noch im Herbst 2010 eine reale Chance gegeben, 'Stuttgart 21' zu verhindern. Diese Chance wurde spätestens mit der "Geißler-Schlichtung" verspielt. Die GegnerInnen von 'Stuttgart 21' müssen aus dieser Erfahrung die - gar nicht so neue - Lehre ziehen, daß manche in den eigenen Reihen das eine sagen, aber das andere tun. Vor rund 2000 Jahren mahnte mal jemand: "Nicht an ihren Worten, sondern an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen." Und so müssen in Zukunft basisdemokratische Strukturen dafür sorgen, daß nicht erneut von außen gerade die FalschspielerInnen in den eigenen Reihen als RepräsentantInnen der Bewegung ausgewählt werden können - oder sie ist dazu verdammt, die selbe schmerzliche Erfahrung zu wiederholen.

Auch wenn nun einer dieser politischen Falschspieler, der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, ohne jedes Mandat von Seiten der Bewegung gegen 'Stuttgart 21' verkündet, der Kampf gegen 'Stuttgart 21' sei mit der Niederlage bei der Volksabstimmung beendet - er hat leider in gewisser Weise recht: Der Kampf gegen 'Stuttgart 21' ist entschieden. Daran kann auch nichts mehr ändern, daß voraussichtlich einige hundert oder vielleicht tausend jetzt noch nicht aufgeben wollen. Der Weiterbau ist aus dieser minoritären Situation heraus auf absehbare Zeit nicht zu verhindern.

Das Projekt 'Stuttgart 21' wird dennoch scheitern. Doch um welchen Preis. Hier sei eine weitere Prognose gewagt: Das heute gegen besseres Wissen verkündete Kostenlimit von 4,5 Milliarden Euro wird in den kommenden Jahren - ohne nennenswerten Widerstand der "grün-roten" Landesregierung - noch um mehrere Milliarden überschritten und am Ende bleibt in der Mitte von Stuttgart eine riesige offene Baugrube übrig.

 

REGENBOGEN NACHRICHTEN

 

Anmerkungen

Siehe auch unsere Artikel:

      spiegel: Schwarz-Gelb verheimlichte
      Kostenberechnung zu Stuttgart 21 (6.11.11)

      Stuttgart 21:
      Verwaltungsgerichtshof verhängt Teil-Baustop (7.10.11)

      Stuttgart 21:
      Volksentscheid mit Fußangeln (29.09.11)

      Stuttgart 21:
      JuristInnenvereinigung stellt Strafanzeige (22.09.11)

      Stuttgart 21:
      "Stress-Test" bestanden (21.07.11)

      Spiegel über interne Bahn-Unterlagen:
      Kosten von Stuttgart 21 geschönt (3.07.11)

      "Volksversammlung" zu Stuttgart 21
      auf dem Markplatz
      Minister Hermann ausgepfiffen (23.06.11)

      Stuttgart 21
      BUND stellt Eilantrag auf Bau-Stop (18.06.11)

      IngenieurInnen: Weiterbau an Stuttgart 21
      ist rechtswidrig (9.06.11)

      "Stuttgart 21": Die Show
      des neuen Verkehrsministers Winfried Hermann (12.05.11)

      Bau-Stop selber machen
      Aktions-Camp gegen "Stuttgart 21" (17.04.11)

      Landtagswahl
      Recycling in Baden-Württemberg (27.03.11)

      Stuttgart 21
      "Schlichterspruch" ad absurdum geführt
      Stresstest einseitig aufgekündigt (8.02.11)

      Stuttgart 21 - Schlichtung
      oder schlicht Volksverdummung? (1.12.10)

      Stuttgart 21 - MONITOR bestätigt Verdacht gegen Mappus
      Direktive kam von oben (22.11.10)

      stern: Erneut Millionenschwindel bei Stuttgart 21
      "Schlichtung ist Verdummung" (17.11.10)

      Stuttgart 21: Lug und Trug
      Landesbeteiligung verfassungswidrig
      "Käfer und Kammmolche" (16.11.10)

      Stuttgart 21 - Neue Bäume
      im gerodeten Teil des Schloßgartens (31.10.10)

      Die Polizei: Dein Freund ...
      ... und Steinewerfer (18.10.10)

      Stuttgart 21
      Verrat der Funktionäre (15.10.10)

      110.000 demonstrieren gegen Stuttgart 21
      Merkel warnt vor "Unregierbarkeit" (9.10.10)

      100.000 demonstrieren gegen Stuttgart 21
      "Mappus muß weg!" (2.10.10)

      Stuttgart 21 - "Mappus läuft Amok"
      Hunderte Verletzte im Stuttgarter Schloßgarten (30.09.10)

      Stuttgart 21
      Stern enthüllt Chaos-Planung (29.09.10)

      Weiter Zehntausende gegen Stuttgart 21
      30 Festnahmen nach Demo (25.09.10)

      69.000 demonstrieren gegen Stuttgart 21
      Bahn-Chef Grube schließt höhere Kosten
      für das Mega-Projekt nicht mehr aus (11.09.10)

      Stuttgart 21: Polizei beendet Baumbesetzung
      "S"PD plötzlich für Volksentscheid (7.09.10)

      Stuttgart 21
      Spaltungsversuch der Pseudo-Grünen gescheitert (6.09.10)

      60.000 demonstrieren gegen Stuttgart 21
      Baumbesetzung im Schloßgarten (3.09.10)

      Forsa-Umfrage: Absolute Mehrheit gegen Stuttgart 21
      Pseudo-Grüne versuchen Widerstand zu spalten
      865 Millionen Euro neue Kosten für Ba-Wü (2.09.10)

      Stuttgart 21 - 40.000 protestieren
      Erster Durchbruch am Bauzaun gescheitert (27.08.10)

      Stuttgart 21 - Abriß begonnen
      Hilft nur noch Bauplatzbesetzung? (25.08.10)

      30.000 protestieren:
      "Stoppt Stuttgart 21" (21.08.10)

      Millionen-Schmiergeld für Stuttgart 21?
      'spiegel' berichtet über heimlichen Deal (16.08.10)

      21.000 bei Menschenkette
      gegen Stuttgart 21 (14.08.10)

      Studie des Umweltbundesamtes
      Stuttgart 21 provoziert Nadelöhr (12.08.10)

      Immer mehr Menschen protestieren
      16.000 gegen Stuttgart 21 (7.08.10)

      Wachsender Protest gegen "Stuttgart 21"
      Tausende legen Verkehr lahm (2.08.10)

      Protestival der Parkschützer
      Zehntausende gegen "Stuttgart 21" (10.07.10)

      'stern' veröffentlicht geheime Studie
      zu "Stuttgart 21" / Steilvorlage für GegnerInnen (8.07.10)

      Europäische Nachbarn bauen Eisenbahn aus
      In Deutschland wird das Schienennetz abgebaut (29.04.10)

      Verkehrssicherheit
      Bahn weit vor Konkurrenten (30.03.10)

      'Robin-Wood'-Aktion gegen "Stuttgart 21"
      "Stuttgart verscherzt es sich - Zug um Zug" (2.02.10)

      Investitionen in Schienenverkehr:
      BRD ist ganz hinten in der EU (21.01.10)

 

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