24.12.2007

Weihnachten,
Sentimentalität
und der Verlust einer Illusion

Was ist schlecht an Sentimentlität? Ist nicht Sentimentalität immer noch besser als völlige Gefühlskälte?
Sentimentalität ist der Ausdruck psychischer Erkrankung. Völlige Gefühlskälte würde den psychischen und physischen Tod nach sich ziehen. Der Mangel an echtem Gefühl wird ersetzt durch aufgesetztes, künstliches, letztlich geschauspielertes Gefühl. Dies ist selbstverständlich nicht zu hundert Prozent Heuchelei. Wie jede gute Schauspielerei und wie jeder Betrug funktioniert Sentimentalität am besten mit einem gehörigen Schuß Selbstsuggestion oder Selbstbetrug.

Wozu das Ganze?
Ebenso wie der Konsum von Drogen ist Sentimentalität eine Flucht vor der brutalen Realität der heutigen Welt und zugleich eine Flucht vor der Erkenntnis der eigenen emotionalen Abstumpfung, der Zurichtung des Menschen im Kapitalismus, der diesem erst das Funktionieren ermöglicht. Und ebenso wie beim traditionell in gesellschaftlichen Konventionen eingeübten Gebrauch von Drogen wie dem Alkohol ist der Gebrauch der Sentimentalität ein Balance-Akt auf der Messers Schneide: Einerseits sollen sich die Menschen nicht zu sehr von der Realität verabschieden, sonst wären sie nicht mehr funktionsfähig, andererseits sollen sie ja gerade die Realität nicht unverstellt wahrnehmen, sonst wäre der Schmerz zu groß - und die Bereitschaft, einen Zustand zu ändern, der auf die Dauer sowieso unhaltbar ist, würde systembedrohende Ausmaße annehmen. Es ist ein Spiel mit einer Art selbstinduzierter Schizophrenie.

Wer noch - wie ein Kind - die Fähigkeit hat, Emotionen wahrzunehmen, empfindet gerade an Weihnachten ein starkes Unbehagen. Hermann Hesse beschrieb dies 1917 so: "... bekam ich an Weihnacht je und je leise Widerstände, bekam einen etwas unangenehmen Geschmack auf der Zunge zu fühlen, wie bei einer Sache, welche zwar hübsch, aber nicht ganz echt ist, welche zwar allgemein Vertrauen genießt, welcher man aber heimlich doch ein wenig mißtraut."

Zu keinem Zeitpunkt des Jahres ist der Gegensatz zwischen Anspruch und Realität eklatanter als an Weihnachten: Pro forma beansprucht dieses Fest immer noch, ein "Fest der Liebe" oder ein "Fest der Familie" zu sein. Erich Fromm stellt in seinem 1956 erschienen Buch "Die Kunst des Liebens" gleich zu Beginn klar, daß Liebe in den konsum-orientierten Gesellschaften ein relativ seltenes Phänomen geworden ist und richtet die Frage an seine LeserInnen, wie viele Menschen sie wohl kennen, die wirklich voll und echt zu lieben fähig sind.

Und weiter schreibt Erich Fromm: "Wenn die Liebe eine Fähigkeit des reifen und schöpferischen Charakters ist, folgt daraus, daß die Fähigkeit des Liebens in jedem Menschen, der in einer bestimmten Gesellschaft lebt, von dem Einfluß abhängig ist, den diese Gesellschaft auf den Charakter des Betreffenden ausübt. Wenn wir von der Liebe in der zeitgenössischen westlichen Gesellschaft sprechen, wollen wir damit die Frage stellen, ob die gesellschaftliche Struktur der westlichen Zivilisation und der aus ihr resultierende Geist der Entwicklung der Liebe förderlich ist. Diese Frage zu stellen, bedeutet, sie im negativen Sinn zu beantworten."

Hermann Hesse (1917):
"... die Weihnacht und das Fest der Liebe und Kindlichkeit ist für uns alle schon längst nicht mehr Ausdruck eines Gefühls. Es ist das Gegenteil, ist längst nur noch Ersatz und Talmi - Nachahmung eines Gefühls. Wir tun einmal im Jahre so, als legten wir großen Wert auf schöne Gefühle, als ließen wir es uns herzlich gern etwas kosten, ein Fest unserer Seele zu feiern. Dabei kann die vorübergehende Ergriffenheit von der wirklichen Schönheit solcher Gefühle sehr echt sein; je echter und gefühlvoller sie ist, desto mehr ist sie Sentimentalität. Sentimentalität ist unser typisches Verhalten der Weihnacht und den wenigen anderen äußeren Anlässen gegenüber, bei denen noch heute Reste der christlichen Lebensordnung in unser Tagesleben eingreifen. Unser Gefühl dabei ist dieses: "wie schön ist doch dieser Liebesgedanke, wie wahr ist es, daß nur Liebe erlösen kann! Und wie schade und bedauerlich, daß unsere Verhältnisse uns nur einen einzigen Abend im Jahr den Luxus dieses schönen Gefühls gestatten, daß wir sonst jahraus jahrein durch Geschäfte und andere wichtige Sorgen davon abgehalten sind!" Dies Gefühl trägt alle Merkmale der Sentimentalität. Denn Sentimentalität ist das Sich-Erlaben an Gefühlen, die man in Wirklichkeit nicht ernst genug nimmt, um ihnen irgendein Opfer zu bringen, um sie irgend je zur Tat zu machen."

Hesse schrieb dies unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs. Nun ist Deutschland nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg erneut in Kriege verwickelt. Und auch wenn der Krieg (noch nicht) auf deutsches Territorium zurückgekehrt ist, sind seine Folgen bereits jetzt in einer weiteren Steigerung der Verrohung der Menschen spürbar. Merkwürdigerweise ist zugleich laut Umfragen mit rund 70 Prozent ein großer Teil der Deutschen gegen die Beteiligung am Afghanistan-Krieg. Doch im Gegensatz zu Zeiten wie 1914, als es in Deutschland gegen die geschürte Kriegs-Euphorie zu Massenstreiks kam, oder beispielsweise zum 11. Mai 1952, als in Essen spontan 30.000 überwiegend junge Menschen gegen Wiederbewaffnung und drohenden NATO-Beitritt Deutschlands protestierten, ist heute Lethargie und Resignation weit verbreitet. Dies ist zugleich Zeichen einer Desillusionierung. Denn heute glaubt kaum mehr jemand, daß mit Menschenmengen - sei es in fünf- oder sechsstelliger Zahl - noch Einfluß auf die Politik ausgeübt werden könnte.

Dieser Verlust an Illusion ist zunächst lediglich mit dem aufgebrochenen Schloß an einer Tür vergleichbar. Erst ein Blick auf die Welt, die sich jenseits der Tür verbirgt, könnte die zerbrochene Illusion fruchtbar machen für einen neuen Aufbruch. Doch um die Tür einen Spalt zu öffnen und hinaus zu schauen, bedarf es ein wenig Mut.

 

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