Dokumentation

Einem Pulverfaß keine Lunte geben

 
 

IM GESPRÄCH MIT »LE SOIR«
Der Dalai Lama über Kosovo und Tibet,
Augusto Pinochet und die Beharrlichkeit des Vergebens

Tenzin Gyatso, das geistige Oberhaupt der Tibeter, hat stets für einen Weg des gewaltfreien Widerstandes geworben, um das Selbstbestimmungsrecht seines Volkes gegenüber der chinesischen Zentralmacht durchzusetzen. Gegenüber der belgischen Tageszeitung Le Soir (Ausgabe vom 6. Mai) empfahl der Dalai Lama, auch im Kosovo-Konflikt im Geiste von Versöhnung und Vernunft zu handeln, da nur so eine Lösung jenseits der zügellosen Gewalttätigkeit eines Krieges denkbar sei. Wir dokumentieren in Auszügen.

LE SOIR: Im Kosovo haben einige wenige so wie Sie den Weg der Gewaltlosigkeit verteidigt, um die Unabhängigkeit zu erringen, zumindest aber eine Autonomie, ehe sie von radikaleren und kriegsfreudigeren Akteuren verdrängt wurden. Glauben Sie, daß sich in dieser Region Ähnliches wie in Tibet abspielen wird?

DALAI LAMA: Ich hoffe, es wird nicht dazu kommen. Warum? Wenn man mit Gewalt vorgeht und gewalttätige Methoden anwendet, mag man auf emotionaler Ebene sehr schnell zu einem Gefühl der Befriedigung gelangen und sagen: »Ich habe das oder jenes zerstört. Ich habe so und so viele Menschen getötet.« Der Gegner wird ähnliche Erwägungen anstellen. Und der eine wie der andere werden die Konsequenzen zu tragen haben. Wenn man eine Frage mit Gewalt löst, die auch Gegenstand von Verhandlungen sein könnte, wird ein friedlicher Ausweg zusehends verbaut.

Die Begriffe Wechselbeziehung und universelle Verantwortung fußen auf wesentlichen Lehren des Buddhismus. Sie sagen oft, daß Europa - im Weltmaßstab gesehen - politisch ein gutes Beispiel organisierter Wechselbeziehungen biete. Aber ist das Drama auf dem Balkan nicht ein Indiz für deren Scheitern?

Nein! Das glaube ich wirklich nicht. Die EU und der besondere Geist dieser Gemeinschaft zeigen, daß Nationen in Anerkennung des Umstandes kooperieren können, daß alles miteinander in Verbindung steht - die Ökonomie und alles andere. Da sie sich dessen bewußt sind, aber auch aufgrund ihrer Vergangenheit, die von schmerzlichen Erfahrungen geprägt ist, verteidigen die Europäer ehrlich den Frieden. Ich erinnere mich, daß schon zu Titos Zeiten mehrere Experten vorausgesagt haben, Jugoslawien könnte in Schwierigkeiten geraten. Tito war daraufhin sehr darum bemüht, das Vertrauen der jugoslawischen Völker zu gewinnen. Dann aber hat er ein totalitäres System entwickelt, um die Situation unter Kontrolle zu halten. Wenn ich heute an das Drama in Bosnien denke, beschleicht mich immer das Gefühl: Dies war das Resultat einer Verkettung von Ursachen und Wirkungen aus Jahrzehnten der Feindschaft. Aber gerade wenn es eine angestaute Feindseligkeit gibt, müssen die Anstrengungen verdoppelt werden, das zu entschärfen. Wenn man zu den nötigen Methoden greift, um zu erreichen, daß zum ersten Grund für Ressentiments kein zweiter und dritter kommen, bis das Pulverfaß explodiert, dann bleibt eine Situation kontrollierbar. Aber Nachlässigkeit und Ignoranz genügen, und die Verkettung unglücklicher Umstände wird unbeherrschbar. Das ist in Bosnien passiert und passiert gerade im Kosovo.

Kosovo oder Tibet - all diese Dramen haben Tausende ins Exil getrieben. Sie selbst sind seit 40 Jahren Flüchtling. Was halten Sie von der Tendenz, in westlichen Staaten Asylsuchende kaum noch als Flüchtlinge anzuerkennen?

Ich habe das Gefühl, daß den Europäern vornehmlich die Dramen wichtig sind, die auf ihrem eigenen Kontinent stattfinden. Das ist mit Blick auf andere Weltregionen recht problematisch. Angefangen bei Afrika. Man ist der Auffassung, die Situation dort entstehe aus sich selbst heraus. Man könne daher eben nicht viel tun. Ein bedauerlicher Umstand.

Sie sind als das geistige Oberhaupt der Tibeter anerkannt und werden durch die westlichen Regierungen entsprechend behandelt, aber Tibet scheint oft völlig vergessen zu werden, wenn es darum geht, ökonomische Verträge mit China auszuhandeln. Fühlen Sie sich durch den Westen ausreichend unterstützt?

Es gibt immer einen kleinen Graben zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Selbst wenn wir uns als Buddhisten von der großen Weisheit erleuchtet glauben, gemessen daran ist die Realität immer ein wenig in Verzug. Ich denke aber, daß die Öffentlichkeit und viele westliche Führer mehr tun wollen, ums uns zu helfen, als sie können. Der Schritt vom Vorsatz zum aktiven Handeln ist oft nicht einfach. Man muß der Tatsache Rechnung tragen, daß die Tibet-Frage schon seit langem besteht. Einer aktuellen Situation wird eben mehr Aufmerksamkeit geschenkt, das liegt in der Natur des Menschen. Im übrigen ist Tibet nicht Kuwait, das viel Erdöl besitzt. Dennoch bleibt die moralische Unterstützung des Westens enorm wichtig. Wenn ich an die sechziger Jahre zurückdenke, dann war unter denen, die uns unterstützten, auch die CIA. Selbstverständlich empfanden viele ihrer Mitarbeiter eine wirkliche Sympathie für uns, aber diese Unterstützung gab es vor allem aus politischen, antichinesischen, antikommunistischen Gründen. Das war nicht gesund. Heute gibt es ein wirkliches Interesse der Öffentlichkeit, der Medien, der Regierungen - und angesichts der Bedeutung Chinas in ökonomischer und politischer Hinsicht müssen die Regierungen eine Position zu den Menschenrechten oder zum Schutz der tibetanischen Kultur beziehen.

Mit Blick auf einen möglichen Prozeß gegen Chiles Ex-Diktator Pinochet haben Sie erklärt, es wäre vielleicht besser gewesen, die Vergangenheit zu vergessen. Das hat die Leute im Westen ungemein schockiert.

Man hat meine Überlegungen dazu nicht wahrheitsgetreu wiedergegeben. Ich sagte, daß man diese unglückliche Periode natürlich nicht vergessen kann. Es sei wichtig, sie in Erinnerung zu behalten. Aber wenn die Erinnerung an diese schmerzhafte Erfahrung einem Gefühl der Revanche diene, dann sei das schlecht. Besser wäre ein Geist des Verzeihens. Und was Pinochet angeht, so muß jeder vor dem Gesetz gleich sein. Was im Namen des Gesetzes entschieden wird, müssen wir akzeptieren. Das ist es, was ich gesagt habe.

 

Übersetzung Gabriele Schmidt/Lutz Herden

 
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