6.12.2009

Kundus-Massaker:
US-Bomberpiloten fragten 5 mal
wegen Tiefflügen

Oberst Klein behauptete "Feindberührung"

Über den genauen Hergang des Kundus-Massakers sind neue Informationen an die Öffentlichkeit gelangt. Wie der 'spiegel' unter Berufung auf den bislang nicht veröffentlichen NATO-Untersuchungs-Bericht schreibt, hat es vor der Bombardierung der beiden Tanklaster offenbar Meinungsverschiedenheiten zwischen der deutschen Einsatzleitung unter Oberst Georg Klein und den US-amerikanischen Bomberpiloten gegeben. Aufzeichnungen des Funkverkehrs zeigen, daß diese nicht nur ein- oder zweimal, sondern fünfmal vor der Bombardierung einen warnenden Tiefflug vorschlugen. Oberst Klein hat offenbar nicht nur dies zurückgewiesen, sondern zudem wahrheitswidrig "Feindberührung" gemeldet, was zwingende Voraussetzung für eine Bombardierung war.

Der 'spiegel' berichtet in seiner neuen Ausgabe, daß die Besatzung der beiden US-amerikanischen F-15-Jagdbomber, die auf Befehl des deutschen Oberst Klein am 4. September zwei in einer Furt festgefahrene Tanklaster bombardierten und bis zu 178 Menschen töteten - darunter eine große Anzahl ZivilistInnen und Kinder - , diesen Befehl stärker hinterfragten, als bisher öffentlich bekannt war. Alles deutet darauf hin, daß es Oberst Klein nicht um einen "militärisch angemessenen" Einsatz ging, sondern um Rache für die von Aufständischen getöteten und verletzten Soldaten seiner Einheit. So geht aus der Aussage von Oberstleutnant Lance Bunch bei dessen Vernehmung im Zuge der internen Untersuchung hervor, daß es vor dem Einsatz auch um die Zahl der abzuwerfenden Bomben ging. Oberst Klein, der den Luftangriff befohlen hatte, habe ihn aufgefordert, sechs Bomben auf die Tanklaster abzuwerfen, die von zahlreichen Menschen umringt waren. Die Besatzung habe dem ausdrücklich widersprochen: "The crew told him that this was not going to happen." (Die Mannschaft erklärte ihm, dies werde nicht passieren.) Es seien nur zwei Bomben nötig.

Darüber hinaus belegen laut 'spiegel' die Aufzeichnungen des Funkverkehrs zwischen dem US-Piloten und dem deutschen Fliegerleitoffizier, Codename "Red Baron", daß die Besatzung nicht nur ein- oder zweimal, sondern fünfmal vor der Bombardierung einen Tiefflug vorschlugen, um die sich um die Tanklastzüge versammelten Menschenmenge zu warnen: "F-15 recommended a SHOW OF FORCE five times throughout the mission in order to disperse the people." (F-15 empfahl im Verlauf des Einsatzes fünfmal eine Machtdemonstration, um die Leute auseinanderzutreiben.) Doch "Red Baron" antwortete: "Negativ. Das Ziel soll sofort angegriffen werden."

Laut 'spiegel' ist in den Protokollen die Aussage eines der Piloten zu finden, wonach diese ihre zögerliche Haltung erst aufgegeben hätten, nachdem Oberst Klein eine akute Bedrohung behauptet habe. Die Piloten hätten nicht beurteilen können, ob es diese gab: "The guy on the ground, he has the full picture." (Der Junge am Boden hat das genaue Bild.) Die behauptete "Feindberührung", die zwingende Voraussetzung für das Eingreifen der F-15-Jagdbomber gewesen wäre, war jedoch nur vorgeschoben. Die Bedingung für eine Luftnahunterstützung (Close Air Support) war daher real nicht gegeben. (Siehe auch unseren Artikel v. 10.09.09)

Die vom 'spiegel' aktuell veröffentlichten Informationen lagen dem seit der Bundestagswahl als Kriegsminister amtierenden Karl-Theodor zu Guttenberg mit Sicherheit bereits vor dem 6. November vor, als dieser noch öffentlich behauptete, die Bombardierung am 4. September sei als "militärisch angemessen" zu bewerten. "Nach Lektüre dieser Passagen hätten bei Guttenberg durchaus Zweifel aufkommen können, ob Oberst Klein am 4. September in Kundus die richtige Entscheidung getroffen hat," kommentiert dies der 'spiegel' reichlich wohlwollend.

Aus dem Umfeld des zurückgetretenen Generalinspekteurs der Bundeswehr Wolfgang Schneiderhan wird die Information verbreitet, Kriegsminister Guttenberg sei vom stellvertretenden Generalinspekteur Johann-Georg Dora noch vor seiner Pressekonferenz sehr wohl über alternative "Deutungsmöglichkeiten" des ISAF-Berichts aufgeklärt worden. Guttenberg habe das nicht interessiert. Laut 'spiegel' erscheint es Bundewehr-Insidern wenig plausibel, daß der Generalinspekteur dem Kriegsminister Informationen oder Berichte vorenthalten habe. Als Guttenberg vor wenigen Tagen vor dem Bundestag seine Einschätzung zurücknahm, und nunmehr erklärte, die Bombardierung am 4. September sei nicht militärisch angemessen gewesen, vermochte er nicht dazulegen, welche neuen Informationen ihn zu dieser Kehrtwende bewogen haben.

Zweifelhaft ist auch, ob Informationen über das Kundus-Massaker vor der Bundestagswahl dem "roten" Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier und dem Auswärtigen Amt vorenthalten wurden. Steinmeier behauptete gegenüber der 'Welt am Sonntag', daß der Feldjägerbericht zum Hergang des Angriffs, der bereits vor dem 7. September vorlag und in dem von zivilen Opfern die Rede ist, dem Auswärtigen Amt erst am 27. November zugestellt worden sei. In dem mittlerweile einberufenen Untersuchungsausschuß müsse, so Steinmeier, nun geklärt werden, "was das Kanzleramt wann wußte".

Am 10. Dezember soll der Bericht einer Arbeitsgruppe im Hause von Kriegsminister Guttenberg über das Kundus-Massaker vorgelegt werden. Bislang ist der Ablauf der Ereignisse am 3. und 4. September wie im folgenden chronologisch dargestellt zu rekonstruieren:

3. September, gegen 20 Uhr
Ein afghanischer Informant meldet dem Bundeswehr-Camp (PRT) in Kundus die Entführung zweiter Tanklaster aus einem NATO-Versorgungskonvoi bei Aliabad südlich vom Feldlager der Bundeswehr.

21:14 Uhr
Auf Anforderung des deutschen Camps trifft ein B1-Bomber (Einsatzname "Bone 22") über der Region Kundus ein, der zuvor eine andere Operation mit deutscher Beteiligung im Norden der Region unterstützt hat.

21:14 Uhr
Ein B-16-Bomber der US-Luftwaffe, der mit Nachtsichttechnik ausgerüstet ist, entdeckt die beiden Tanklaster auf einer Sandbank im Kundus-Fluß. Damit ist klar, daß sich die Aufständischen mit den beiden gekaperten Tanklastern vom Camp weg- und nicht etwa auf dieses zubewegt haben. Die Möglichkeit eines Selbstmord-Kommandos mit Hilfe der beiden Tanklaster auf das Camp kann aufgrund der vorliegenden Informationen nicht mehr als akut bezeichnet werden.

Gegen 22 Uhr
Der Informant der Bundeswehr meldet sich erneut und gibt an, die beiden Tanklaster steckten auf einer Sandbank fest.

22:30 Uhr
Laut anderen Darstellungen kann der B1-Bomber ("Bone 22") die beiden Tanklaster nicht finden. Der afghanische Informant habe eine unklare Angabe des Orts durchgegeben.

4. September, gegen Mitternacht
Der B-16-Bomber verläßt den Luftraum, weil der Treibstoff knapp wird.

"Bone 22" lokalisiert die beiden Tanklaster auf einer Sandbank im Kundus-Fluß und sendet die ersten Schwarz-Weiß-Videobilder an die Kommandozentrale im deutschen Camp. Dort sitzen der Chef des Lagers, Oberst Georg Klein, und Oberfeldwebel W., der im Funkverkehr mit dem Einsatznamen "Roter Baron" auftritt. Die beiden Deutschen hocken vor einem "Rover"-Sichtgerät, einer Art Laptop mit Verbindung zur Kamera des Flugzeugs und verfolgen die Bilder. Auch wenn diese unscharf waren, ist deutlich eine wachsende Zahl von Menschen bei den Tanklastern zu erkennen.

0:48 Uhr
"Bone 22" meldet sich bei der Einsatzzentrale (Funkcode "Trinity") der NATO. Der Bomber benötigt neuen Treibstoff. Die Zentrale gibt Erlaubnis für die Rückkehr zur Basis ("RTB").

0:50 Uhr
Aus dem deutschen Camp fragt "Roter Baron" erneut bei der NATO-Luftzentrale nach Luftunterstützung an. Von dort wird zurückgefunkt, daß eine direkte Feindberührung Voraussetzung für den Einsatz eines Kampfflugzeugs über Kundus sei. Der deutsche Oberfeldwebel erklärt daraufhin per Funk, es bestehe Feindkontakt, im NATO-Jargon "troops in contact" oder TIC genannt, obwohl sich gar keine NATO-Soldaten oder afghanische Kräfte in der Nähe der beiden Tanklaster befinden.

1:08 Uhr
Zwei F-15-Jagdbomber treffen über der Region ein. "Dude 15" und "Dude 16", so die Codenamen der Piloten, melden sich beim Kommandeur des deutschen Camps und liefern wieder Live-Bilder, welche die Deutschen auf dem "Rover"-Schirm verfolgen können. Einer der Piloten meldet: keine "friendly forces", also deutsche oder afghanische Truppen in der Nähe der Tanklaster. Nahe diesen sieht der Pilot rund 50 Aufständische, so seine Meldung. Der deutsche Oberfeldwebel fordert die US-Piloten auf, sechs Bomben fertig zu machen und in möglichst großer Höhe über dem Ziel zu kreisen. Antwort der F-15-Besatzung: "This is not going to happen." (Dies wird nicht passieren.) Es seien nur zwei Bomben nötig.

Der afghanische Informant bestätigt nach Bundeswehrangaben "mehrfach ausdrücklich", in der Nähe der Tanklaster befänden sich nur Aufständische. Im Nachhinein wird die Information verbreitet, es sei nicht klar gewesen, daß sich der Informant zu weit vom Ort des Geschehens entfernt aufgehalten habe, um eine solche Aussage treffen zu können.

1:30 Uhr
"Roter Baron" gibt Einsatzdetails zum Bombenabwurf weiter, erwähnt ausdrücklich, daß die Zeit dränge und keine alliierten Kräfte in der Nähe seien.

1:36 Uhr
Der F-15-Pilot fragt fünfmal per Funk an, ob er eine Schleife in niedriger Höhe über die Tanker fliegen soll, um "die Personen auseinander zu scheuchen". "Roter Baron" lehnt dies ab.
Laut einer im November verbreiteten Darstellung schlagen die F-15-Piloten den Abwurf einer 900-Kilo-Bombe vor. Statt dessen befielt Oberst Klein den Abwurf zweier kleinerer Bomben vom Typ GBU-38, "um die Schäden zu begrenzen." Laut NATO-Untersuchungs-Bericht (in der Darstellung des 'spiegel') fordert Oberst Klein den Abwurf von 6 Bomben. Die F-15-Besatzung widerspricht: Es seien nur zwei Bomben nötig.

1:46 Uhr
Der Pilot fragt per Funk, ob die Personen um die Tanker eine "unmittelbare Bedrohung" darstellen. Der Zustand des "imminent threat" ist die Voraussetzung für einen Bombenabwurf durch die NATO. Obwohl zu diesem Zeitpunkt weder NATO-Soldaten in der Nähe der Tanklaster sind und diese fast 15 Kilometer vom deutschen Camp entfernt feststecken, bestätigt "Roter Baron" die Anfrage und legitimiert damit den Angriff.

1:49 Uhr
Zwei Bomben vom Typ GBU-38 werden abgeworfen.

2:28 Uhr
Die beiden F-15-Jagdbomber fliegen erneut über den Tatort und melden 56 Tote, ohne jedoch weitere Details zu nennen. 14 Personen würden in Richtung Norden fliehen.

Nach dem 4. September wurde der verantwortliche Brigadegeneral für das deutsche Einsatzkontingent in Afghanistan zweimal ausgewechselt. Am 3. Oktober wurde General Jörg Vollmer abgelöst und von General Jürgen Setzer ersetzt, der bereits Ende November General Leidenberger wich. Leidenberger zeichnet sich vor allem dadurch aus, daß er jahrelang als Führungsoffizier beim Bundesnachrichtendienst (BND) gearbeitet hat. Wenn ein "Nachrichtendienst" ins Spiel kommt, deutet dies darauf hin, daß Informationen gegenüber der Öffentlichkeit unterdrückt werden sollten. Nicht nur hierbei zeigt sich eine Parallele zum Massaker von My Lai, das 1970 den wahren Charakter des Vietnam-Krieges deutlich werden ließ.

 

REGENBOGEN NACHRICHTEN

 

Anmerkungen

Siehe unsere Artikel zum Thema:

      Kundus-Massaker: Jung zurückgetreten
      - Aufklärung gestoppt? (28.11.09)

      Wird das Bundeswehr-Massaker von Kundus jetzt aufgeklärt?
      Der Generalinspekteur der Bundeswehr
      und ein Staatssekretär traten heute zurück (26.11.09)

      Massaker in Afghanistan?
      Regelverletzung bei Bombardierung? (10.09.09)

      Afghanistan-Krieg: ZivilistInnen getötet
      bei Bombardierung zweier Tanklaster? (7.09.09)

 

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