28.01.2007

Interview

Brasilien
Atomkraft ohne Rücksicht

Norbert Suchanek sprach mit mit Rafael Ribeiro1, dem Leiter der brasilianischen Umweltschutzorganisation SAPÊ

Brasiliens Regierung unter dem gerade wieder gewählten Präsident Luis Ignacio Lula da Silva steht kurz davor, ein intensives Atomenergie-Ausbauprogramm zu beschließen. Was halten Sie von den aktuellen Aussagen von Lulas Staatssekretär Luiz Dulci oder von Lulas Minister für Wissenschaft und Technik, Sergio Machado Rezende, dass Brasiliens Wirtschaft mehr Energie brauche und die Fertigstellung von Angra 3, sowie der Bau mindestens drei bis sieben weiteren Atomkraftwerken zum "Wachstum" nötig seien?

Rafael Ribeiro:
Wir befinden uns in einer Erwartungshaltung. Ständig hören wir Nachrichten darüber, dass die Regierung am Bau von Angra 3 und sieben weiteren kleineren Atomkraftwerken in anderen Bundesstaaten im Süden und Nordosten interessiert ist. Diese Nachrichten werden von der Lobby der Nuklearindustrie und den mit dem Ministerium für Wissenschaft und Technologie verbundenen Institutionen und Baufirmen in die Welt gesetzt. Aber das Thema stößt noch auf Widerstand innerhalb der selben Regierung, angeführt von der Umweltministerin Marina Silva.

Sie leben seit 1992 in Angra dos Reis. Hat der Bau von Brasiliens Atomkraftwerken - Angra 1, 2 und die jahrelange Bauruine Angra 3 - zu Konflikten mit der indianischen Urbevölkerung geführt?

Rafael Ribeiro:
Die Gesamte Region der Bucht von Angra dos Reis beziehungsweise der Bucht von Ilha Grande war bis zum 17. Jahrhundert von verschiedenen Indianervölkern bewohnt, die aber "verschwanden". Zur Zeit des Baus der Atomkraftwerke befand sich das Küstengebiet in der Hand der Caiçaras, traditionellen Fischergemeinden, Nachfahren von ehemaligen Sklaven, Indianern und Europäern, die sich in der Region nach dem ökonomischen Abschwung Ende des 19. Jahrhunderts hier festsetzten und eine regionale, auf Selbstversorgung ausgerichtete Wirtschaftsweise praktizierten. Während der Militärregierung eigneten sich diese Gebiete mit dem Militär paktierende Agenten von Interessengruppen illegal an, und sie verliehen einer Serie von "Entwicklungs- oder Großprojekten" in der Region wie dem Bau der Strasse von Rio de Janeiro nach Santos, dem Bau von Tourismusressorts oder dem Bau der Hafenanlagen von Petrobas den Anschein der Legalität.

Neuere Studien von Anthropologen allerdings besagen, dass die bis heute in der gesamten Küstenregion Südostbrasiliens sowie in Paraguay, Nordargentinien und Uruguay lebenden Guarani Mbya tatsächlich - Zeit- und Saisonunabhängige - Nomaden sind und die Region rund um Angra in Wirklichkeit niemals wirklich aufgegeben oder verlassen haben. Beim jüngsten Indigenous World Uranium Summit in Window Rock, USA, kamen deshalb erstmals auch die Guarani Mbya als Betroffene der Atomindustrie zu Wort. Wie ist Ihr Kenntnisstand darüber?

Rafael Ribeiro:
Ende 1980er, Anfang der 1990er Jahre kehrten die Guarani Mbya in die Region zurück, und ihr Dorf von Bracui, 15 Kilometer vom Atomkomplex entfernt, wurde von der FUNAI (Indianerschutzbehörde) anerkannt.

Wurde die Lokale Bevölkerung vor dem Bau der Atomkraftwerke irgendwie berücksichtigt, ihre traditionellen Landnutzungsrechte respektiert? Wie war das Verhältnis zwischen den Einheimischen und den Bauherren der Kraftwerke?

Rafael Ribeiro:
Das Verhältnis war gänzlich von Respektlosigkeit geprägt. Weder die Landrechte der Einheimischen wurden anerkannt, noch gab es eine offene Diskussion mit der Bevölkerung. Was die Stadt Angra betrifft, so gab es keinerlei Infrastrukturhilfe, um die Tausenden von Menschen aufzufangen, die der Atomkraftwerksbau aus anderen Teilen Brasiliens angezogen hatte.

Wie ist das Verhältnis der Guarani Mbya mit dem staatlichen Atomkraftwerksunternehmen Eletronuclear heute?

Rafael Ribeiro:
Es gibt praktisch gar kein Verhältnis. Eletronuclear benutzt lediglich Fotos der Guarani im Austausch von "Glasperlen", Spenden in Form von Computern, der Finanzierung einer Ausstellung von Kunsthandwerk der Guarani oder der Ausbesserung der Erdstrasse zum Dorf. Das Indianerdorf von Bracui wurde nicht einmal über die Verhaltensweisen im Falle eines Atomunfalls unterrichtet.

Gibt es eine schleichende oder wie auch immer geartete radioaktive Verseuchung der Bucht von Angra durch die Atomkraftwerke?

Rafael Ribeiro:
Es gibt keine (unabhängige) Information, auch keine gesellschaftliche Kontrolle über eine mögliche radioaktive Verschmutzung. Alle Kontrollen, Untersuchungen werden von Eletronuclear und der CNEN (Nationale Atomenergiekommission) durchgeführt, und die Praxis dieser (staatlichen) Institutionen ist es, alle auftretenden Probleme zu verschleiern.

 

Quelle:
http://www.nuclear-free.com/deutsch/suchanek.htm

 

REGENBOGEN NACHRICHTEN

 

Anmerkungen

1 Rafael Ribeiro ist Leiter der brasilianischen Umweltschutzorganisation SAPÊ (Sociedade Angrense de Proteção Êcológica) und Mitglied der nationalen Anti-Atomkraft-Arbeitsgruppe 'Gt Energia'. SAPÊ wurde 1983 als Anti-Atomkraft-Initiative und zum Schutz des Ökosystems des Atlantischen Regenwaldes (Mata Atlântica) in Angra dos Reis gegründet, wo Brasiliens bislang einzige zwei fertig gestellten Atomkraftwerke, Angra 1 und 2, sowie die "Bauruine" Angra 3 stehen.

Vergangenen November war Brasilien auch beim Indigenous World Uranium Summit, Window Rock, vertreten.

Weitere Informationen zu Atomenergie, dem Indigenous World Uranium Summit, die Deklaration von Window Rock und informationen zum Nuclear Free Future Award:
www.nuclear-free.com
www.7genfund.org

 

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