8.10.2007

Neue Fakten
über atomaren Unfall
von 1957

Brand in britischer WAA Sellafield setzte doppelte Menge an Radioaktivität frei

50 Jahre nach dem Brand in der britischen Plutoniumfabrik Sellafield, offiziell als Wiederaufarbeitungsanlage (WAA) bezeichnet und vor der Umbennung unter dem Namen Windscale berüchtigt, haben WissenschaftlerInnen aufgedeckt, daß der radioaktive Fallout rund doppelt so groß war wie bislang bekannt. Auch die Zahl der Krebsfälle, die das Unglück auslöste, sei deutlich höher als angenommen (Atmospheric Environment, Bd.41, S.3904, 2007).

Am 10. Oktober 1957 geriet der Reaktor Windscale Eins in Brand. Am frühen Nachmittag fingen nach fehlerhaften Manipulationen der 2000-Tonnen-Block Graphit mit zehn Tonnen Uran in Brennelementen Feuer. Erst gegen Mittag am 11. Oktober hatten die Bedienungsmannschaften den Brand im Griff. Eine strahlende Wolke entkam durch den Schornstein der Anlage und legte sich über England und große Teile Nordeuropas.

John Garland, ehemaliger Mitarbeiter der britischen Atomaufsichtsbehörde, und Richard Wakeford von der Universität Manchester überprüften alte Aufzeichnungen, um Aufschluß über das wahre Ausmaß der Reaktorkatastrophe zu erhalten. Der Wind war am 10. Oktober 1957 vor Ort wechselhaft. Daher mußten sie exakt rekonstruieren, wann welche Menge Radioaktivität freigesetzt worden war. Nützlich hierbei waren moderne Computermodelle, die sonst der Wetter- und Klimavorhersage dienen. Garland und Wakefield konnten so die Verbreitung der strahlenden Wolke simulieren und daraus auf die Menge der Radioaktivität zurückschließen.

Der überwiegende Teil der radioaktiven Wolke bestand laut ihren Ermittlungen aus Jod-, Tellur- und Xenon-Isotopen, die nach wenigen Wochen weitestgehend zerfallen waren. Obwohl die britische Regierung den Unfall zu vertuschen suchte, kam sie nicht umhin, Milch aus der betroffenen Region in der unmittelbaren Folgezeit aus dem Handel verbannen und vernichten zu lassen. Doch noch heute belasten Cäsium und Plutonium die Umgebung von Windscale-Sellafield. Die freigesetzte Menge an Polonium wurde als Staatsgeheimnis behandelt, da hierüber Rückschlüsse auf die verwendeten Techniken hätten gewonnen werden können.

Die beiden Atomreaktoren von Windscale hatten eine noch relativ einfache Konstruktion. Auf ein Containment, einen Sicherheitsdruckbehälter, hatten die Konstrukteure verzichtet. Zur Kühlung des Graphitblocks wurde Umluft mit Hilfe von Ventilatoren genutzt. Vorrangiger Zweck der Anlage war keineswegs eine wie auch immer geartete Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennelemente sondern die Gewinnung von Plutonium zum Bau von Atombomben. Die Erzeugung von Strom war uninteressant und die heiße Abluft wurde über einen 120 Meter hohen Schornstein wieder nach draußen geblasen. Der Einbau von Filtern für radioaktive Stoffe war in der ersten Planung nicht einmal vorgesehen.

In diesen Filtern wurde dann am 10. Oktober 1957 steigende Strahlungswerte gemessen. Bald waren die Zeiger am oberen Ende der Skala angelangt. Eigentlich hätte dies als Hinweis gewertet werden müssen, daß es im Reaktor zu heiß geworden war. Offenbar war der Bedienungsmannschaft eine Wartungsmaßnahme außer Kontrolle geraten. Der Reaktorkern mußte regelmäßig ausgeheizt werden, um unerwünschte Veränderungen in der Graphitstruktur zu vermeiden.

Bedingt durch den Neutronenbeschuß aus den Uranbrennstäben und die Veränderung der Graphitstruktur, die damit einhergeht, bauen sich unkontrollierbare Energien im Material auf. Dieses Phänomen war bei Inbetriebnahme der ersten Militär-Reaktoren Großbritanniens, die ab 1950 Plutonium für die britische Bombe produzierten, noch unbekannt. Dementsprechend wußte niemand, wie der Ausheizprozeß genau funktionierte. Die Sicherheitsingenieure hatten den Graphitmoderator schon ein paar Mal erfolgreich "nach Gefühl" erhitzt. Diesmal allerdings verursachten die freihändigen Wartungsarbeiten einen der schwersten Störfälle der Geschichte der unfriedlichen Nutzung der Atomenergie.

Zum Ausheizen des Graphitkerns werden die Gebläse des luftgekühlten Atommeilers abgeschaltet. Zunächst fällt die Temperatur. Der Reaktor wird deshalb weiter angeheizt. Als die Temperatur ungewöhnlich ansteigt, stoppen die Sicherheitsingenieure den Vorgang nicht. Sie vermuten defekte Meßinstrumente und agieren nach der Regel, daß nicht sein kann, was nicht sein darf: Dieses Phänomen hatte laut Analyse kritischer WissenschaftlerInnen weltweit noch eine Reihe weiterer Unfälle der Nuklearindustrie zur Folge.

Erst als außerhalb der Anlage zehnfach erhöhte Strahlenwerte festgestellt werden, merkt die Betriebsmannschaft allmählich, daß etwas nicht stimmt. Drei Tage nach Beginn der scheinbar harmlosen Routinearbeiten entdecken die Techniker Feuer im Reaktorkern: Als sie zur Kontrolle eine Revisionsklappe öffneten, sahen sie Brennelemente rot glühen und Flammen am hinteren Rand des Graphit lodern. Die Brennelemente hatte sich bereits verzogen, ließen sich nicht mehr einfach aus dem Block entfernen. Teilweise benutzen die Arbeiter Vorschlaghämmer, wie britische Medien in ihren Berichten zum Jubiläum schreiben. Doch bis heute arbeiten britische Behörden daran, den Unglücksreaktor abzubauen.

Erst am darauffolgenden Tag kann der Reaktor in einem hochriskanten Manöver unter Einsatz von Wasser gelöscht werden. Das Löschen mit Wasser hätte eine noch größere Katastrophe auslösen können, denn der entstehende Dampf drohte die Halle zu sprengen.

Bei der Reaktorkatastrophe von Windscale wurden nach offiziellen Angaben radioaktive Stoffe in der Größenordnung von 20.000 Curie über Europa freigesetzt. Im Vergleich zu der beim Super-GAU in Tschernobyl freigesetzten Menge an Radioaktivität scheint das wenig. Auf der siebenstufigen Skala der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) kam Windscale aber immerhin auf Stufe fünf. Eine Evakuierung der Bevölkerung erachtete die britische Regierung damals nicht für nötig.

Politisch kam der Brand der Regierung unter dem damaligen Premierminister Harold Macmillan höchst ungelegen. Sie verhandelte gerade mit den USA über die Aufnahme einer nuklear-militärischen Kooperation. Daher wurde der Untersuchungsbericht über das Windscale-Feuer für geheim erklärt, nur eine bereinigte Zusammenfassung erreichte die Öffentlichkeit. Erst seit 1989 wurden Akten über das Unglück allgemein zugänglich.

Spuren der Radioaktivität wurden damals in vielen Ländern Europas gemessen, jenseits der Nord- und rund um die Ostsee. 90 Prozent des strahlenden Materials aber sind damals über England niedergegangen, so die neue Studie. Nach offiziellen Schätzungen starben bis zu 40 Menschen an den unmittelbaren Folgen des Windscale-Unfalls. Untersuchungen ergaben, daß in den vergangenen Jahrzehnten bei der örtlichen Bevölkerung deutlich mehr Leukämiefälle auftraten als im Landesdurchschnitt. Aus der Plutoniumfabrik Sellafield fließen jährlich 3.300 Millionen Liter radioaktiver Flüssigmüll in die Irische See. Nach Berichten der EU wurden bislang rund 250 Kilogramm Plutonium in die Irische See abgeleitet. Noch bei Kanada und in antarktischen Gewässern, bis in 200 Meter Tiefe, läßt sich Sellafields Radioaktivität nachweisen.

Heute heißt die Anlage Sellafield. Auf dem Gelände gibt es unter anderem zwei Plutoniumfabriken, die wiederholt wegen ihrer Einleitungen in die Irische See in die Schlagzeilen gerieten. Seit dem Brand des Windscale-Reaktors wurden über 300 Störfälle bekannt, der letzte größere im Mai 2005. Noch heute gehören die britischen Anlagen zu den Atom-Dinosauriern Europas. Die meisten sind über 40 Jahre alt. Doch nach offiziellen Angaben soll Sellafield erst 2010 stillgelegt werden.

 

REGENBOGEN NACHRICHTEN

 

Anmerkungen

Siehe auch unsere Artikel:

      Signifikant erhöhtes Leukämie-Risiko bei Atomkraftwerken
      Wissenschaftliche Studie über 136 Atomkraftwerke (21.07.07)

      Menschenversuche der britischen Atom-Mafia aufgedeckt
      Der 'Observer' veröffentlicht brisante Dokumente (23.04.07)

      Schwerer Unfall in der WAA Sellafield (9.05.05)

      WAA Sellafield: 30 Kilogramm Plutonium verschwunden
      Material für acht Atombomben (17.02.05)

      'British Energy' und der europäische Atom-Ausstieg
      Blair kämpft ums Überleben des Atom-Konzerns 'British Energy'
      (8.05.04)

      Noch sieben Jahre radioaktive Verseuchung?
      Sellafield soll 2010 stillgelegt werden (28.08.03)

      Sellafield - Völkerrechtlich bindende Verträge? (18.04.01)

 

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