... und beileibe nicht nur dieses Land.
Gedanken zum Amoklauf in Winnenden
Peinlich wird das Wort vermieden: "Selbstmordattentäter"; "Amokläufer"
suggeriert einen ganz anderen Problemhintergrund als
"Selbstmordattentäter". Dabei gibt es verblüffende Parallelen. Es sind
ausschliesslich junge Männer (bis auf wenige Ausnahmen im Nahen Osten).
Sie töten indem oder bevor sie sich selbst töten. Ihr eigener Tod ist Teil
ihrer Aktion, damit setzen sie ihre Tat absolut; keine Strafe, keine
Bewertung, kein Leid der Opfer wird sie mehr erreichen und in der Lage
sein, ihre Tat zu relativieren. Sie sagen: ich bin absolut im Recht.
Ihre Tat richtet sich gegen die, die nach ihrer Meinung schuld sind:
Israel oder der Westen, die Ungläubigen, die Schule und gar nicht so
selten die Frauen. Und immer ist irgendwas an der Schuld dran, immer gibt
es Verletzungen, die subjektiv als so tief empfunden werden, dass sie über
den Weg eines grenzenlosen Hasses in diesen Taten münden dürfen. Wir aber
stehen fassungslos vor der fehlenden Verhältnismässigkeit dieses
Ausbruchs. Dem Tod, dem Mord, dem Massenmord, dem anonymen Mord, denn es
kommt nicht darauf an, wer dran glaubt, fehlt jede Verhältnismässigkeit.
Und gerade das ist beabsichtigt. Und gerade das macht uns das Verstehen
schwer. Die Reaktionen der Medien, der Politik, der Betroffenen zeigt das.
Die Fragen, ob es das Elternhaus war, die Schule, die Berufstätigkeit der
Mütter, letztere wird mit schöner Regelmässigkeit bemüht, all diese Fragen
bleiben in Ratlosigkeit hängen. Irgendetwas von alldem, aber es ist keine
Erklärung, klärt nicht unsere Fragen. Es entsteht aber sofort ein anderes
Bild, wenn wir es durch die Brille der Geschlechterverhältnisse ansehen:
Wir sehen junge Männer.
Die Parallelität zu den Selbstmordattentaten kann uns auf die Spur
bringen. Die palästinensischen Selbstmordattentäter, die jungen Männer
Palästinas leben ein Leben der Zukunftslosigkeit, Aussichtslosigkeit, der
Sackgassen, der Erniedrigung und Verachtung. Sie leben ein Leben, das sie
täglich ihrer Selbstachtung und ihrer Würde beraubt. Das trifft auch
Frauen, auch ihre Würde wird mit Füssen getreten. Selbstachtung von
Männern ist aber verschieden von der Selbstachtung von Frauen. Sie hängt
bei beiden eng mit ihren Rollen zusammen, die ihnen sehr verschiedenes
abverlangt, Scheitern unterschiedlich definiert und bewertet. Und die
Rollen - und das verkompliziert das ganze - sind in einem dramatischen
Wandel begriffen.
Im Vorkriegsjugoslawien zum Beispiel, waren die Männer für Nationalismus,
als Rekruten für Seperatisten wie die UCK, leicht zu gewinnen, weil sie im
Zusammenbruch des Sozialismus nicht auf Ersatzrollen zurück greifen
konnten wie die Frauen. Dies muss erklärt werden. Frauen und Männer haben
damals massenhaft ihre Arbeitsplätze verloren. Frauen hatten dabei eine
alte, aber taugliche und hilfreiche Rolle zur Verfügung, in die sie
schlüpfen konnten. Ohne Job sind Frauen immer noch Mütter und
Organisatorinnen des häuslichen Lebens. Sie verlegten ihren Schwerpunkt
auf die Subsistenzarbeit, ihre familiären und nachbarschaftlichen
Netzwerke wurden wichtig und fruchtbar. Ihr Ansehen stieg.
Nicht so bei den Männern. Der Verlust ihrer Erwerbsarbeit, ihres
Einkommens, das ja höher war, als das ihrer Frauen und ihnen dadurch in
den Familien eine dominante Rolle sicherte, bedeutete den Verlust ihres
alten Ansehens; sie wurden nicht nur arbeits- sondern bedeutungslos,
spielten, tranken, gaben Geld aus - unnütze Esser. So demoralisiert waren
sie für den nationalistischen und seperatistischen Amoklauf brauchbar,
benutzbar. Er gab ihnen Bedeutung, Macht, Männermacht, die sich auch gegen
die eigenen Frauen richtete, vor allem aber gegen die Frauen des
"Feindes". Der nationalistische Amoklauf war auch weniger gefährlich, man
konnte mit dem Leben davon kommen; es ersparte den individuellen Amoklauf,
der für einen selber ja immer tödlich endet.
Daran wird deutlich, welch enorme gesellschaftliche Sprengkraft in der
plötzlichen Veränderung von Geschlechterrollen liegen kann, in ihrer
Prekarisierung. Dies ist weitgehend nicht untersucht, z.B. für den
deutschen Faschismus, die Kriegseuphorie vor dem Ersten Weltkrieg, die
Schlachten oder das Schlachten in Afrika und auch nicht für die diversen
Befreiungsbewegungen.
Bei Frauen und Mädchen verlaufen die Rollenänderungen oft undramatischer,
wie oben gezeigt. Sie sind überdies gewandt im Anpassen. Das ist der
Grund, warum sie in unseren Schulen besser überleben. Schlauer werden,
flexibler. In diesen Schulen, denen durch Pisa schon ein so schlechtes
Zeugnis ausgestellt wird. Aber sind es die Schulen? Oder das Schulsystem?
Oder nicht vielmehr diese Gesellschaft, die es nicht schafft, der jungen
Generation ein Bildungssystem zu geben und ein Leben und Lernen zu
ermöglichen, in dem sie sich entwickeln kann. Sondern an einem festhält,
das sie zurecht stutzt? Ein System, das ignoriert, in welch
unvorstellbarem Mass Zukunft in Frage gestellt ist durch Klimakatastrophe,
Irrsinn der Ökonomie und Massenarbeitslosigkeit. Zukunftslosigkeit also
bei weitem nicht nur in Palästina! Die Alten, die nur noch wenig Zukunft
haben, können sich darüber hinweg trösten. Opa kauft einen neuen Off-Road
für sein Ego, für ihn wird's ja noch reichen. Und die Enkel? So wenig wie die Klimakatastrophe zum Handeln zwingt, so
wenig das Dauerleid der Schülerinnen und Schüler. Aber Banken müssen
gerettet werden. Und natürlich die Autoindustrie.
Die Jungs versagen massenhaft in den Schulen. Bei ihnen steht aber auch
noch mehr auf dem Spiel. Ihre Rollen waren machtbesetzt. Macht per Geburt.
Ihr Scheitern ist nicht nur Scheitern, sondern Machtverlust. Und ihr
Scheitern ist vorprogrammiert, weil gerade die Machtbesetztheit ihrer
Rolle einem flexiblen Weg entgegen steht. Frauen und Mädchen steht sogar
mit geringem Verlust die Opferrolle offen; selbst diese Rolle verschafft
ihnen noch eine fragwürdige Anerkennung. Nicht so bei den Jungs. "Du
Opfer!" ist eine ernst gemeinte Beleidigung, ein Schimpfwort, schlimmer
als "Arschloch", "schwule Sau". Opfer sein, heisst kampfloses, feiges,
unterwürfiges Versagen. Eine Schmach - und das ist die bittere Ironie -
die nur durch das Selbst"opfer" abzuwenden ist.
Dieses Land hat ein Männerproblem, steht zu Anfang. Die Aussage wäre durch
ein paar Selbstmordattentäter oder Amokläufer nicht gerechtfertigt, selbst
wenn sie im Augenblick noch so grosses Entsetzen hervor rufen. Doch wenn
wir der Spur weiter folgen, auf der wir begonnen haben, spüren wir
problemlos die anderen Dramen auf. Jung-Nazis in Ostdeutschland sind
gescheiterte Männer. Der Nationalchauvinismus ersetzt ihnen das verlorene
Selbstwertgefühl. Der übrig gebliebene, kaum angefochtene
Alt-Männer-Chauvinismus rettet sich in Vereine, Schützenvereine zum
Beispiel. Auch in Parteien. Gewaltexzesse bei der Bundeswehr, Komasaufen.
Selbstmord ist die zweithäufigste Todesursache bei jungen Männern, nach
Unfällen. Raserei mit Autos, Risiko-Sportarten. Gewalttaten in der Familie
und dem Freundeskreis gehen zum übergrossen Teil von Männern aus.
Dieses Land hat ein Männerproblem.
Und doch dürfen wir nicht übersehen, dass dem grössten Teil der jungen
Männer der Rollenwechsel gelingt, vielen fällt er sogar leicht, sie
empfinden ihn als Befreiung. Das ist dann der Fall, wenn er bewusst,
reflektiert vollzogen wird, wenn er durch schönere, reichere Beziehungen
belohnt wird. Warum soll den jungen Männern des beginnenden neuen
Jahrtausends nicht gelingen, was den Frauen der zweiten Hälfte des letzten
Jahrhunderts gelang? Sie müssten allerdings begreifen, was auch die Frauen
erst begreifen mussten: dass die individuelle Emanzipation nicht
vollständig sein kann, sondern gemeinsam vollzogen werden und die
Gesellschaft kämpfend verändern muss. Begreifen, dass das Private
politisch ist und zu Politik werden muss. Sich von der Vorstellung
befreien, dass sich männliche Würde und Selbstwertgefühl auf Kosten
anderer Frauen und Männer herstellen liessen, dass Allmachtsphantasien den
Prozess der Emanzipation ersetzen könnten, dass Herrschaft über andere die
eigene Zukunft absichere.
Eine Witzboldin der 70er-Jahre-Frauenbewegung formulierte mal: "Frauen,
wir haben nichts zu verlieren, als unsere Staubsauger, aber eine Welt zu
gewinnen!" Auf die Männer heute bezogen, müsste es heissen: "Männer, wir
haben nichts zu verlieren als unsere beschissene Rolle, die uns krank
macht und viele Jahre unseres Lebens kostet, aber wir haben eine Welt
voller unbekannter Emotionen und Möglichkeiten zu gewinnen!"
So do it! Yes, you can!
Gastbeitrag von
Christel Buchinger
für
REGENBOGEN NACHRICHTEN
redaktionelle Anmerkung
Siehe auch unseren Artikel zum Thema:
Nachbetrachtung zum Amoklauf in Winnenden
Mainstream-Medien kaschieren eigenen Fehler (13.03.09)