11.08.2003

Diskussionsbeitrag

Demokratisierung
statt Reformierung

Antwort auf den Beitrag von Jürgen Grahl
'Reformieren statt Deformieren'

Vorbemerkung

Da in der heutigen Diskussion über den Erhalt oder die Schaffung von Arbeitsplätzen der Wert von "Arbeit" unkritisch als selbstverständlich vorausgesetzt wird, möchte ich hier zunächst einige Vorbemerkungen vorausschicken. Die Widersprüchlichkeit von Parolen wie "Recht auf Arbeit und Arbeitszeitverkürzung" wird kaum mehr jemandem bewußt. Arbeit und Lernen sind beides menschliche Grundbedürfnisse. Aber wie befremdlich klänge doch eine Parole wie "Recht auf Lernen und Lernzeitverkürzung" in unseren Ohren.

Zu einfach macht es sich, wer die vordere Hälfte der Parole "Recht auf Arbeit..." so erklärt, damit sei das "Recht auf Erwerbseinkommen" gemeint, für das gerne jede (zumutbare) Arbeit in Kauf genommen werde. Angesichts steigender Arbeitslosenzahlen mag es als verwegen erscheinen, das Thema >Qualität der Arbeit< wieder ins Spiel bringen zu wollen. Wenn wir uns jedoch nicht im aussichtslosen Kampf gegen das Schrumpfen des gesamten gesellschaftlichen Arbeitsvolumens aufreiben wollen, sondern für einen Kampf um Demokratisierung des Wirtschaftssystems entscheiden, bietet sich zugleich eine positive und motivierende Perspektive.

Demokratisch bestimmte und daher selbstbetimmte, nicht-entfremdete und zugleich höherwertige Arbeit kann bei geringerer Gesamtzahl an Arbeitsstunden auf eine größere Zahl von Menschen verteilt werden. Die Parole "Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich" ist dann - und nur dann - bei einer grundlegenden Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums möglich.

Menschliche Selbstverwirklichung ist nicht mit fremdbestimmter Arbeit vereinbar. Die heutige nicht-demokratische Organisation der Wirtschaft und insbesondere der Arbeit verkrüppelt den Menschen. Arbeit ist nichts anderes als das menschliche Grundbedürfnis, sich mit seiner Umwelt in Beziehung zu setzen, diese zu gestalten, sich zu "assimilieren" (Karl Marx) und sich zugleich als gestaltender Mensch selbst zu erschaffen. Sobald sich der Mensch in dieser Aneignung nicht mehr als Handelnder erfährt, wird die Arbeit ihm zur "entfremdeten" Arbeit, tritt sie ihm als fremder Gegenstand entgegen. "Entfremdung heißt, die Welt und sich selbst im wesentlichen passiv, rezeptiv, in der Trennung von Subjekt und Objekt zu erfahren." (Erich Fromm)

"Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion. Wie der Wilde mit der Natur ringen muß, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduzieren, so muß es der Zivilisierte, und er muß es in allen Gesellschaftsformen und unter allen möglichen Produktionsweisen. Mit seiner Entwicklung erweitert sich dieses Reich der Naturnotwendigkeit, weil die Bedürfnisse; aber zugleich erweitern sich die Produktivkräfte, die diese befriedigen. Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehen, daß der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen zu vollziehen. Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben (...) beginnt das wahre Reich der Freiheit.(...) Die Verkürzung des Arbeitstages ist die Grundbedingung (Karl Marx, Das Kapital, Bd. 3, S. 828).

Die erhellenden Aspekte des Beitrags von Jürgen Grahl

1. Implizit stellt Jürgen Grahl alle Fakten zusammen, die belegen, daß bei Beibehaltung der bisherigen Wirtschaftsweise, ob nun kapitalistisch, marktwirtschaftlich oder wie auch immer benannt, ohne eine grundlegende Demokratisierung, ohne grundlegende Eingriffe keine Chance besteht, das insgesamt vorhandene (Erwerbs-)Arbeitsvolumen, das auf rund 37 Millionen Erwerbstätige aufgeteilt ist, zu vermehren, um auf diese Weise zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen.

2. Er stellt klar, daß die Ursache der gegenwärtigen Krise nicht etwa in steigenden Kosten ("Explosion") der Sozialsysteme zu suchen ist, sondern bei einer seit drei Jahrzehnten nahezu konstanten Sozialleistungsquote in der Finanzierung der Sozialsysteme über die Lohnnebenkosten, die auf diese Weise in die Höhe getrieben wurden.

3. Er beleuchtet das Verhältnis der Produktionsfaktoren Energie und Arbeit: Während Arbeit ohne (nennenswerte) Effektivitätssteigeung teurer wird, steigt zugleich die Produktionsmächtigkeit des Faktors Energie. Pro eingesetzter Kilowattstunde (ob nun Strom, auf diese Einheit umgerechnetes Heizöl oder was auch immer) kann mehr produziert oder mehr Dienstleistung angeboten werden. Es ist selbstverständlich, daß in einer profitorientierten Wirtschaft in energieeffizientere Verfahren investiert wird, statt in Arbeitsplätze. Selbst wenn es gelänge, Energie durch Besteuerung teurer zu machen, würde sich dieser Prozeß beschleunigen. Denn umso attraktiver wäre es, energieeffizientere Verfahren zu investieren und umso schneller ginge die Zahl der Arbeitsplätze zurück.

Der Vorwurf, das diskutierte Konzept Grahls sei maschinenstürmerisch rückwärtsgewandt oder wirke zumindest bremsend auf die technologische Entwicklung geht völlig in die Irre. Es sollen hier ja keinesfalls Maschinen besteuert werden, sondern der Energieeinsatz - und dieser kann durch einen Austausch zu energieeffizienteren Maschinen reduziert werden. Jedenfalls ist dieser Weg weit wahrscheinlicher als der, Maschinen wiederum durch Menschen zu ersetzen.

4. Die Kritik an den Maßnahmen der Agenda 2010 ist präzise und die darauf aufbauende Prognose, daß sich die Situation in deren Folge notwendig verschärfen muß, ist klar und prägnant.

5. Ebenso präzise ist aufgezeigt, daß die neo-keynesianischen Konzepte, mit Hilfe höherer Neuverschuldung die Konjunktur anzukurbeln und über Lohnerhöhungen die Binennachfrage zu stärken, an der Realität vorbeigehen und untauglich sind.

Die Illusionen

Sobald Jürgen Grahls Beitrag über die Analyse der wirtschaftlichen Zusammenhänge hinaus und zu Forderungen an die Politik übergeht, baut er auf Illusionen auf und fördert zudem die Illusion, daß im gegenwärtigen Wirtschaftssystem ein voluntaristisches Umsteuern durch die Politik möglich sei.

A Die Illusion der "ökologischen" (von J. Grahl selbst in Anführungszeichen gesetzt) Steuerreform. In den letzten Jahren erfolgten minimale Erhöhungen der Mineralöl- und anderer Energiesteuern. Diese wurden um ein Vielfaches durch gleichzeitige und mehrmalige Preiserhöhungen übertroffen. Trotzdem reichte dies (wie schon Untersuchungen in der Mitte der neunziger Jahre voraussagten) bei weitem nicht aus, um eine Lenkungswirkung zu entfalten. Entgegen der Erwartungen und der allgegenwärtigen Propaganda steigt die Kohlendioxid-Emission erstmals seit 1999 wieder Jahr für Jahr.

B Die fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts sind längst passé. Damals hatten die Regierungen noch die (aufgrund des vorhandenen gesellschaftlichen Kräfteparallelogramms geborgte) Macht, Industrie und Wirtschaft innerhalb gewisser Grenzen zu lenken. Die sozialen Errungenschaften von damals werden bereits seit Jahren scheibchenweise, inzwischen in immer größeren Tranchen, reduziert. Es ist eine Illusion zu meinen - aus Vernunftgründen, statt aufgrund gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse - könne noch draufgesattelt und die (längst aufgegebene) "soziale Marktwirtschaft" zur "öko-sozialen Marktwirtschaft" aufgestockt werden. Das dieses Wirtschaftssystem konstituierende "kurzsichtige Profitstreben" steuert die gesamte Weltwirtschaft (d.h. die verflochtene Wirtschaft der gegenwärtig zehn Industrie-Nationen) unweigerlich in den Kollaps. Ob dieser bereits in naher Zukunft oder erst in Jahrzehnten eintreten wird, bleibt der Spekulation überlassen.

Wenn eine Regierung eine Kapitalsteuer, Unternehmenssteuern (, die dann auch tatsächlich bezahlt werden müßten) oder Energiesteuern beschlösse, hieße das konkret, von den Unternehmen Millionen oder gar Milliarden abkassieren zu wollen. Und eine solche Regierung ist - in welcher Färbung auch immer - bei den heutigen gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen nicht in Sicht.

 

Klaus Schramm

 

 

Geistes-Blitz-Werk