Liebe Freundinnen und Freunde, Kolleginnen und Kollegen,
ich möchte euch heute einladen, radikaler zu werden…
Nicht im Sinne unnützer Gewalt, sondern im Sinne von entschlossenem Protest und Widerstand gegen den
Radikalismus der Globalisierung, der Konkurrenz und der Kriege - für das Überleben menschlicher Perspektiven.
Der Kampf der feindlichen Brüder
Man kann die Globalisierung durchaus als das gemeinsame politische Werk der Triadenmächte USA, Japan und
EU betrachten. Ein Werk mit verheerenden Folgen für die meisten ErdenbewohnerInnen Es beinhaltet einen gnadenlosen
Standortkampf in dem sich die reichen Länder wechselseitig und die "übrige Welt" noch mehr unter Druck setzen, um
den eigenen transnationalen Konzernen Wettbewerbsvorteile zu verschaffen und die Konkurrenten in die Verlustzone zu treiben.
Europa und die USA sind zwar gleichermaßen darauf angewiesen, Rohstoffe zu kontrollieren, Märkte offen zu halten und
profitable Anlagemöglichkeiten zu sichern, aber sie bedienen sich dabei unterschiedlicher Strategien, die sich durch
verschiedene politische Traditionen erklären lassen, aber vor allem durch unterschiedliche ökonomische
Ausgangsbedingungen und Problemlagen.
Die Unternehmen der EU haben ihren Anteil an den ausländischen Direktinvestitionen in den vergangenen 20 Jahren deutlich
steigern können - der Anteil der US-Konzerne ist im gleichen Zeitraum um die Hälfte gesunken. Der Dollar als Weltwährung
und Machtfaktor hat mit dem Euro echte Konkurrenz bekommen und gründet sich zudem auf einen einmalig hohen
Schuldenberg.
Die USA versuchen ihre Dominanz in der Runde der feindlichen Brüder zu behalten, indem sie ihre Militärmacht einsetzen.
Es geht nicht allein ums Öl, sondern mehr noch um die politisch-ökonomische Kontrolle eines Raumes, der weit über
den Irak hinausgeht und von zentraler Bedeutung für die Konflikte der Zukunft sein wird, nämlich für die Konkurrenz mit
China und einem sich irgendwann auch wieder erholenden Rußland. Für den Ausbau einer geostrategischen Machtposition
werden Menschenrechte und Völkerrecht niedergetreten - da gibt es für uns heute und künftig nur ein radikales NEIN !
Nur wenn wir solche Kriege verhindern, werden Wege zur friedlichen Konfliktlösung geöffnet.
Aber ich will nun den Bogen schlagen zu den unfriedlichen Entwicklungen, die wir auch nicht aus den Augen lassen dürfen:
Europa und dabei - in Vorreiterrolle - Deutschland, oder besser gesagt seine Konzerne, sichern ihre Dominanz nicht durch
politisch-militärische Macht, sondern "durch die schwere Artillerie der billigen Warenpreise" (Karl Marx). Zweifellos ist diese
Weltmarktstrategie weniger brutal, als die Bedrohung der Welt durch Krieg. Friedlich ist sie trotzdem nicht; sie wirkt sogar
als eine ausgesprochen aggressive Strategie, die Millionen Menschen weltweit die Aussicht auf ein besseres Leben raubt
und Verelendung vorantreibt.
Auch diese Art, den Konkurrenzkampf zu führen, fordert unschuldige Opfer - nicht nur in den armen Ländern, sondern
zunehmend auch hier.
Die "Agenda 2010" bedeutet eine neue Runde der Aufrüstung im Standortkampf
"Die angekündigte Schritte für einen Umbau der Sozialsysteme sind gerade vor dem Hintergrund des Irak-Krieges und der
dadurch verstärkten weltwirtschaftlichen Unsicherheit unerlässlich", hat Bundeskanzler Gerhard Schröder bei der Eröffnung
der Hannover Messe am 6. April gesagt.
Die konkreten Vorhaben sind nicht neu: Staatliche Leistungen kürzen -Eigenverantwortung fordern.
Seit mehr als zwei Jahrzehnten sinkt der Anteil der Löhne am Volkseinkommen, wird Sozialabbau betrieben und die
Verteilung von unten nach oben beschleunigt.
Inzwischen sind alle Mittel ausgereizt, der Massenarbeitslosigkeit Herr zu werden, die Finanzierung der sozialen
Sicherungssysteme immer weniger Beschäftigten auf die Schulter zu laden und gleichzeitig die Gewinn- und
Vermögenseinkommen von Steuern zu entlasten.
Das Hartz-Konzept wurde mit dem unglaubwürdigen Versprechen in die Welt gesetzt, zwei Millionen neue Arbeitsplätze
zu schaffen. Um diese Zahl ist es zwar still geworden, aber die Entsorgung der Arbeitslosen in Niedriglohnsektoren und
Scheinselbständigkeit schreitet zügig voran.
Und jetzt
- Kürzung der Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau
- Beschränkung des Arbeitslosengeldes und noch mehr Druck auf Erwerbslose
- Aushöhlung des Kündigungsschutzes für ältere ArbeitnehmerInnen
- weitere Privatisierung von Renten- und Krankenversicherungsleistungen
- Angriff auf den kollektiven Schutz der Flächentarifverträge
Auf diesem Weg werden Ältere, Arbeitslose, abhängig Beschäftigte, Kranke und sozial Schwache die Zeche zahlen, für
ausbleibende Gewinnsteigerung.
Auf der Strecke bleiben soziale Gerechtigkeit, neue sinnvolle Arbeitsplätze und gesellschaftliche Zukunftsperspektiven.
Bei allen Unterschieden werden sowohl von den Mächtigen in den USA, als auch von den Mächtigen in Deutschland
aggressive Strategien vorangetrieben, die beim Kampf um den Rest der Welt im Innern die Ausbeutung verschärft, Instabilität
produziert und menschliche Existenzen vernichtet.
Gewerkschaften werden dabei als potentielle Störer an der "Heimatfront" unter Androhung gesetzlicher Regelung zur
Aufgabe von kollektiver Schutzregelungen gedrängt und öffentlich diskreditiert. Mit den sogenannten Sicherheitsgesetzen,
die nach dem 11. September 2001 ruck zuck verabschiedet werden konnten, existiert darüber hinaus ein
Disziplinierungsinstrumentarium gegen allerlei Widerständige.
'attac' steht für Solidarität - zu Hause und weltweit
"Der Mensch vor dem Profit" … war ein Motto der Proteste gegen die WTO (Welthandelorganisation) in Seattle im Jahr
1999. Damit hatte die globalisierungskritische Bewegung die Weltbühne betreten und diese Parole sagt, von welcher Art
die "andere Welt" sein soll, die wir für möglich halten:
Wirtschaften nicht gegen die Konkurrenz, sondern für Bedürfnisbefriedigung der Menschen - ein Ziel, das über viele Wege
und Treppenstufen erreicht werden kann, wenn Menschen überall auf der Welt und international vernetzt unter ihren
jeweils konkreten Bedingungen darum ringen.
Binnenmärkte stärken, faire Handelsbeziehungen entwickeln, alle Einkommen gerecht besteuern, die öffentliche
Nachfrage erweitern und Reichtum zum gesellschaftlichen Wohlstand nutzen, ökologisch umbauen, Sozialsysteme
ausbauen, würdige Arbeitsplätze schaffen, Abrüsten und Rüstungsexporte verhindern … das sind Ziele und Forderungen,
für die wir uns hier einsetzen, um zu einer anderen Welt beizutragen.
Um diese andere Welt greifbarer zu machen, ist gemeinsamer und radikaler Widerstand gegen ihre weitere Zerstörung
durch Kriege, durch Ausgrenzung, und Verödung notwendig.
Wenn die Friedensbewegung, die Globalisierungskritiker und die Gewerkschaften ihre Kämpfe verbinden, kann richtig
Sand ins neoliberale Globalisierungsgetriebe kommen - dann ist es mögliche, die Richtung zu ändern.
Ich möchte euch aufrufen, nicht nur am 1. Mai dabei zu sein, sondern auch zusammen mit Attac und vielen anderen
Gruppen gegen den bevorstehenden G-8-Gipfel Anfang Juni in Evian zu protestieren.
Laßt uns radikal und gemeinsam die Menschenrechte auf Frieden, Selbstbestimmung, Nahrung, Bildung, Arbeit und
gesunde Lebensbedingungen der Weltmarkt-Macht- und Profitgier entgegenstellen !
Sabine Leidig
(Bundesgeschäftsführerin von 'attac')