11.09.2002

Kommentar

Guter Terror,
schlechter Terror

Santiago, New York

Es geschah am 11. September. Wichtigstes Ziel der Terroristen war ein symbolträchtiges Gebäude. Gegen 9.00 Uhr schlugen dort die ersten Raketen ein. Später wurden im ganzen Land Tausende ermordet. Den Terroristen zur Seite stand ein anderes Land - mit Ausbildungscamps, mit Waffen und mit einer Regierung, die den Terror aktiv förderte.

Die Parallelen sind unübersehbar, und doch werden sie kaum erwähnt. Würde für jede Nation dieser Erde dasselbe Recht gelten und wäre die herrschende Medienwelt nicht die Medienwelt der Herrschenden, hätte man im vergangenen Jahr nicht nur von einem einmaligen Akt gesprochen, der alles verändert, sondern auch von einer tragischen Fortsetzung der Geschichte, allerdings mit vertauschten Rollen. Damals, am 11. September 1973, zielten Terroristen der chilenischen Armee, geführt von General Augusto Pinochet, auf die Moneda, den Sitz des chilenischen Präsidenten Salvador Allende. Wie die Twin Towers war auch der Moneda-Palast ein Symbol - allerdings nicht für die Herrschaft von Geld und Kapital, sondern für die Unidad Popular, für die erste frei gewählte sozialistische Regierung Lateinamerikas. Und wie im vergangenen Jahr wurden die Terroristen von außen unterstützt, nicht von den Taleban und von saudischen Finanziers, sondern von der damaligen US-Regierung unter Richard Nixon.

Drei Jahre zuvor war das passiert, was aus Washingtons Sicht nie hätte passieren dürfen. Salvador Allende, Arzt und Volkstribun, gewinnt die Präsidentschaft in freier und geheimer Wahl. Noch schlimmer: Seine Koalition, in der Sozialisten und Kommunisten prominent vertreten sind, beginnt, ihr Wahlprogramm durchzusetzen und Chile zu verändern. Erstmals in einem Land Lateinamerikas bedient die Regierung nicht mehr die Interessen der Oligarchie und ihres Schutzherrn aus dem Norden, sondern kümmert sich um Nahrung, Arbeit und Bildung für das gemeine Volk, wagt den Versuch, politische Freiheit und soziale Gerechtigkeit zu versöhnen.

US-Außenminister Henry Kissinger ahnt, dass Chile zu einem Beispiel werden könnte und fordert Konsequenzen: "Ich kann nicht einsehen, weshalb wir einfach daneben stehen sollten, wenn ein Land wegen der Verantwortungslosigkeit seines eigenen Volkes kommunistisch wird." Nach dem 11. September wird klar, was es bedeutet, Verantwortung zu übernehmen. Panzer rollen durch die Städte, Fußballstadien werden zu Konzentrationslagern, gewählte Abgeordnete werden gefoltert und exekutiert. Bücher brennen. Die Preise für Nahrungsmittel steigen um ein Vielfaches. Washington zückt das Scheckbuch, damit die Junta des Terrors zahlungsfähig bleibt. Und Chile, nicht das demokratisch-sozialistische, sondern das mörderisch-diktatorische wird in der Tat zu einem Beispiel - für den "prophylaktischen" Terror, dem Mitte der siebziger Jahre Oppositionelle in Argentinien, Paraguay, Uruguay und Brasilien ausgeliefert sind. Aktiv beteiligt an dieser sogenannten "Operation Condor" waren wiederum die USA, mit Beratung, Logistik und mit einem Trainingszentrum für Foltermethoden, das sich zynisch "School of the Americas" nannte.

Auch wenn die Diktaturen aus Lateinamerika verschwunden sind, es bleibt dabei: Für die Mächtigen in den USA ist Demokratie kein Wert an sich. Nicht im eigenen Land, in dem nun ein Präsident regiert, der mit Industriespenden und manipulierten Wahlen ins Amt kam, und schon gar nicht in anderen Ländern, wenn sie beginnen, "verantwortungslos" ihre eigenen Interessen wahrzunehmen.

 

Hans Thie
aus der Wochenzeitung 'freitag', Nr. 37, 6.09.02

 

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