Diskussion zum Thema:
Parlamentarismus / Basisdemokratie / Perspektiven alternativer Politik

 

Diskussionsbeitrag (2) von Klaus Schramm

12.01.2001

Nischen oder Vernetzung

Hallo Paul !

Ich bin Dir sehr dankbar (das ist keine Ironie !) für einen Hinweis. Er ist in folgendem Satz enthalten:
Die Vorstellung allerdings, man könnte auf diesem Weg nach und nach zu einer völlig neuen Gesellschaft kommen, so wie der Kapitalismus von innen heraus den Feudalismus zersetzt hat, ist mir zu abstrakt.
Theorien über irgendwelche geschichtlichen Vorgänge können abstrakt sein ! Die Vorgänge selbst sind konkret und wirken allenfalls dann abstrakt, solange sie nicht näher untersucht werden. Wenn ich an die Entwicklung des Kapitalismus in seiner Frühphase, also z.B. an die Entstehungsgeschichte der Manufakturen, denke, und wie diese die handwerklich organisierte Wirtschaftsstruktur und wie später auch industrielle Agrar-Wirtschaftsformen (als ein wichtiger Teil der gesamten industriellen Wirtschaft) die bäuerliche Agrarstruktur abgelöst haben, so sind diese Prozesse keineswegs abstrakt. Und als wesentlicher Faktor fällt mir auf, daß Manufakturen eben nicht isoliert in Nischen zu einem Veränderungsfaktor wurden, sondern gerade dadurch, daß sie sich "asslimilierten" wie Marx das nannte: also daß sie sich in den gesamten wirtschaftlichen Zusammenhang einbrachten und gerade erst durch diesen Austausch - oder wie wir das heute unter Betonung des strukturellen Aspekts nennen: durch die Vernetzung und die dadurch gewonnene Synergie erstarkten und das alte System ablösen konnten. Interessant ist auch, daß etliche Grundprinzipien der Produktion, die das Wesen der Manufakturen ausmachen, wie z.B. Arbeitsteilung, Zerstückelung des Produktionsprozesses in verschiedene Phasen und die Kombination verschieden- artiger Handwerke an einem Ort etc. keine neuen Erfindungen waren, sondern bereits lange zuvor in einzelnen Klöstern mit lokalem Erfolg praktiziert worden waren, eben in Nischen.

Es dürfte sehr interessant sein, dies noch genauer zu untersuchen und daraus Lehren zu ziehen, wie eine Gesellschaftsform von innen heraus durch eine neue zersetzt und abgelöst werden kann.

Weiter möchte ich einige Mißverständnisse versuchen zu korrigieren.
Du schreibst in Bezug auf die "Grünen":
Es gab in der Anfangsphase so gut wie keine Verbindungen mit der Wirtschaft. >>Landschaftspflege<< oder offene Bestechung sind mir schlechterdings nicht bekannt. (...) Die "inneren Kräfte" für die Veränderung reichten aber völlig aus, Einfluß der Konzerne war gar nicht nötig.

Ich hatte in meinem Text eben gerade geschrieben: "Die Wirtschaft, die großen Konzerne, werden jede nur denkbare Möglichkeit und als letztes Mittel neben allen Formen der legalen Bestechung auch "finanzielle Zuwendungen" und "Landschaftspflege" nutzen, um die Länderparlamente und den Bundestag als Herrschaftsmittel in ihrer Hand zu behalten."
Also nochmals: "Landschaftspflege" und Bestechung sind nur "letztes Mittel", die Spitze des Eisberges. Der weit überwiegende Teil des Einflusses wird durch vielfältigste legale Korruption ausgeübt.

Außerdem:
Entscheidend in Deinem Satz ist das Wort "Verbindung". Keine Verbindung ist etwas anderes als: keine direkte Verbindung ! Eben das Parlament ist die Verbindung. Auch Jutta Ditfurth stellt die Vorgänge in ihrem Buch 'Das waren die Grünen' wunderbar plastisch dar, ohne die treibende Kraft zu erkennen. Sie stellt präzise und akkurat dar, wie Joschka Fischer und die Spontis und später die Realos in seinem Gefolge aufstiegen und die Macht gewannen. Aber eben weil Juttas Antiparlamentarismus nur abstrakt und ein Lippenbekenntnis war (Sie versuchte wieder eine Partei - Ökolinx - aufzubauen und heute tritt sie wieder mit einer Liste zu den Wahlen zum Frankfurter Kommunalparlament an.), nimmt sie die Entwicklung nur auf der persönlichen, moralischen Ebene wahr und hieraus erklärt sich teilweise auch ihre Verbitterung und ihr Haß auf Joschka Fischer. So ist schon lange bekannt, daß Joschkas Kumpels 1982 bei ihrem kollektiven Eintritt offen erklärten, ihr Ziel bei den Grünen sei, Joschka zu einem Bundestagsmandat zu verhelfen. So entfaltet das Parlament seine Wirkung nicht erst, wenn Vertreter einer Partei in ihm angelangt sind, sondern spült bereits in einer Art Sogwirkung das entsprechende Personal in eine Partei, deren anfängliche Mitglieder gar keine Möglichkeit haben, Neumitglieder etwa auf charakterliche Qualitäten zu überprüfen...
(Diesen Teil hatte ich noch im letzten Jahr geschrieben und zu den "neuen" alten Geschichten über Joschka Fischer möchte ich nur anmerken, daß ich auch zweimal bei der Besetzung von Häusern mitgemischt habe, mir allerdings schon damals diese pseudo-radikalen Halbstarken und Steinewerfer aus gutem Elternhause auf den Keks gingen. Ich hatte schon damals den Eindruck, daß es vielen dabei mehr um eine kurzfristige Revolte gegen das eigene Elternhaus vor dem endgültigen Einschwenken auf die Karriereschiene, denn um politische Radikalität ging. Diese Lebensläufe sind so geradlininig wie die des Alten Fritz. Und hier wurde eben aus einem Steinewerfer ein Bombenwerfer.)

Ditfurth ('Das waren die Grünen') beschreibt eindringlich und in vielen Details wie billig die Grünen zu haben waren: ">>Von den Inhalten der Koalitionsvereinbarungen her dürfte es sie eigentlich nicht geben. Börner hat die Grünen mit Koalitionsbedingungen >abgespeist<, zu denen nicht einmal die marode FDP bereit gewesen wäre<< (taz, 18.10.85). Für viele Spontis, darunter auch taz und 'Pflasterstrand'- AutorInnen, hatte sich der Mitgliedsbeitrag wie ein Lottogewinn ausgezahlt: Posten, Ämter und Geld für ihre Projekte." (S. 122)

Ebenso eindringlich beschrieb Verena Krieger in ihrem bereits 1991 erschienen Buch 'Was bleibt von den Grünen' die charakterlichen Deformationen, die eine erschreckend hohe Anzahl von Parlamentsneulingen bereits nach wenigen Wochen zeigte und ergänzt: "Es gehört zur Ironie der Geschichte, daß der deformierenden Wirkung von Parlament und Parteiapparaten auch diejenigen zum Opfer fallen, die sie am schärfsten kritisieren." (S. 12) (...) Unglaubliche Blüten trieb grüne Doppelmoral erst so richtig nach dem Einzug in die Parlamente. Schnell zeigte sich das wirkliche Gesicht all der >>neuen Menschen<<, die die Grünen hervorzubringen geglaubt hatten. Es ist unfaßbar, welche Veränderungen ein Mandat mit sich bringen kann. Bescheidene, unauffällige Menschen fangen an, nach Öffentlichkeit, Anerkennung und Macht zu gieren. Zugleich werden sie zu peinlichen Gestalten, denn die Diskrepanz zwischen der sich selbst zugeschrie- benen Wichtigkeit und der schnöden Realität ihrer Kompetenzen, ihres Einflusses und ihrer Unersetzbarkeit ist gewaltig. (...) Diese Eitelkeit ist nicht einfach nur ein unerfreulicher, aber unvermeidlicher Zug Politik machender Menschen. Sie wird strukturell erzeugt. (S. 17,18).
Weit mehr als in Jutta Ditfurths Buch werden hier die Ursachen beleuchtet. Die Medien, Du sprichst diesen Punkt selbst an, und die durch Selektion und Aufstiegschancen (allein die taz liefert dutzende an Karrierebeispielen) getrimmten Journalisten ("Schere im Kopf") sind unter den vielfältigen Einflußinstrumenten der Wirtschaft, nur einer der augenscheinlichsten Hebel. Leider (und vermutlich nicht zufällig) ist dieses wertvolle Buch von Verena Krieger heute nicht mehr erhältlich und nur noch in guten Bibliotheken zugänglich.

Im von mir bereits einmal genannten Buch von Bernhard Badura u. Jürgen Reese 'Jungparlamentarier in Bonn - ihre Sozialisation im deutschen Bundestag' werden diese praktischen Erfahrungsberichte durch exakte soziologische Studien untermauert. Es besteht kein Zweifel in welche Richtung sich die allermeisten Menschen verändern, wenn sie in die mittelbare oder unmittelbare Einwirkung der Parlamente geraten - es mag nur noch als eine Frage offen bleiben, ob sie sich rein zufällig in Richtung rechts und politische Anpassung an das herrschende gesellschaftliche System verändern...

All diese Beschreibungen und Untersuchungen zeigen deutlich, daß der "politische Sektor" kein Eigenleben führt und daß manche Unstimmigkeiten und kleinen Widersprüchlich- keiten einerseits damit zu erklären sind, daß unsere Wirtschaft und diese als Teil der globalen Wirtschaft kein monolithischer Block ist und andererseits - und da hat Agnoli das Verdienst darauf hingewiesen zu haben - damit, daß es gerade "nützlich" ist, immer wieder "Musterbeispiele" der bürgerlichen Einflußnahme vorweisen zu können, um den Nimbus der Parlamente als realexistierende Demokratie aufrecht zu erhalten. Diese Beispiele sind ja nun mal gerade solche, die "die Regel bestätigen".

Ich vermeide im übrigen auch ganz bewußt den Begriff 'Kapital', der zudem durch die verschiedensten Begriffsbildungen der Linken in den letzten Jahrzehnten nicht gerade erhellender geworden ist. Ebenso ziehe ich i.d.R. den Begriff Industriezeitalter (oder Moderne) dem Begriff Kapitalismus vor.

Noch mal ein kleiner Ausflug in die Geschichte:
In den Zeiten des Absolutismus hatten nur die allerwenigsten Menschen eine "Verbindung" mit dem Monarchen im Sinne eines direkten Kontakts - nichts desto trotz wird wohl heute niemand mehr ernsthaft leugnen wollen, daß alles in einer absolutistischen Monarchie auf den Willen und die Interessen (bzw. dessen, was diese Person in ihrer Deformation als ihre Interessen wahrnahm) des Monarchen ausgerichtet war. Auch mußte sich der Monarch (oder mal gelegentlich: die Monarchin) nicht um jede Einzelheit ("Bremer Straßenbahn- netz") kümmern, damit diese i.d.R. in seinem Sinne gehandhabt wurde.

Eine kleine Frage zum Schluß dieses Abschnitts:
Wie kommst Du nur auf die Idee, die taz zähle zu "kapitalfernen" Medien ? Die taz mag sich ja immer noch selbst für ein solches halten, nur ist dies allein ja wohl kein Kriterium. Die taz machte genau dieselbe Verwandlung wie die "Grünen" durch - fast zeitgleich ! Ich hatte sie von Anfang an bis ca. 1989 abonniert - und seitdem konnte mich keine der regelmäßig wiederkehrenden Rettungsaktionen überzeugen, daß da noch etwas geblieben wäre, das sich zu retten lohne.

Und noch ein Nachtrag zur Überschrift Deines 1. Abschnitts "Eigentlich ist das Kapital schuld":
Mir ist zwar klar, daß Du diese ironisch und mit Absicht ein wenig flapsig formuliert hast - ich möchte allerdings hier noch auf den Begriff 'Schuld' eingehen. Ich bin zwar der Ansicht, daß die gesellschaftliche Macht primär in der Wirtschaft liegt. Damit meine ich, daß von den mittelständischen Unternehmen über die nationalen bis hin zu den internationalen Konzernen aus einem Druck heraus, die Profite zu steigern, alle gesellschaftlichen Bereiche weitgehend so bestimmt werden, daß dieses Ziel der Profitmaximierung erreicht werden kann. Dies ist ein insofern unbewußter Prozeß, als fast alle gesellschaftlichen Entwicklungen durch 'try and error' und nicht durch bewußte Entscheidungen in Konzernetagen zustande kommen. Eine solche Entwicklung ist z.B., daß die frühindustriellen Klassengesellschaften sich um die Mitte des letzten Jahrhunderts in halbwegs durchlässige Schichtengesellschaften transformierten. Es hatte sich einfach auf dem großen Markt der Weltgesellschaften herausgestellt, daß diejenigen Gesellschaften einen Vorsprung herausarbeiten konnten, die das gewerkschaftliche "Angebot" des gesellschaftlichen Stillhaltens gegen Teilhabe am Profit annahmen und das Proletariat gewissermaßen in den Trikont auslagerten. Durch die immer größere Teilhabe "breiter" Schichten am "Volksvermögen" und Einkommen wurde gleichzeitig Egoismus, Gier und soziale Desintegration immer mehr angeheizt. Was in den USA durch "breite" Streuung des Aktionbesitzes schon seit vielen Jahren zu beobachten war, hat sich hierzulande erst in den letzten Jahren ("Hausfrauen- spekulation") zur vollen Blüte entwickelt. Die Wirtschaft - von den großen Konzernen bis hinunter zu den kleinsten Zulieferern - wird nur noch formell von Managern gesteuert. Diese haben einen immer schmaleren Entscheidungshorizont, da z.B. strategisch richtige Entscheidungen, die zu kurzfristig enormen Kurseinbußen führen können, einen Manager "den Kopf" kosten können. So gesehen ist es also - überspitzt gesagt - die gesamte Bevölkerung, die die Wirtschaft steuert, indem sie letztlich immer höhere und höhere Dividende fordert. Es wäre also nicht ganz unberechtigt analog zum Spruch "Jedes Volk hat die Regierung die es verdient", zu formulieren, "Jedes Volk hat die Wirtschaftsordnung, die es verdient." - und: "Das Volk ist eigentlich an der ganzen Misere schuld".
Tatsächlich bin ich der Auffassung, daß es sich in Wahrheit um eine Wechselwirkung handelt. Ebenso wie über eine vielfältige kulturelle Vermittlung (nicht allein die Börse !) die Wirtschaft das Bewußtsein der Bevölkerung - und damit jedes Einzelnen formt, bestimmt das Bewußtsein auch wiederum das (gesellschaftliche und wirtschaftliche) Sein.

Weiter schreibst Du:
Ich wehre mich dagegen, alles und jedes auf >>das Kapital<< zurückzuführen, weil diese Auffassung dazu verleitet, bestehende Handlungsmöglichkeiten zu vernachlässigen.
Diese Formulierung könnte leicht dahingehend mißverstanden werden, daß Du eine Theorie, Beschreibung der Wirklichkeit, nur deshalb ablehnst, weil sie Dir zu pessimistisch erscheint. Ich denke, das wäre kein sinnvolles Beurteilungslkriterium...
Da ich nun allerdings in einem gewissen (oben näher erläuterten) Sinne die Theorie vertrete, daß wir es mit der geballten Wirtschaftsmacht zu tun bekommen, wenn wir Veränderungen erreichen wollen, die einen grundlegenden wirtschaftlichen Wandel bedingen - und darüberhinaus auch mit dem Widerstand großer Teile der Bevölkerung, die sich ideologisch und materiell mit diesem Witschaftssystem verbunden fühlen und identifizieren, denke ich, daß wir uns überlegen müssen, wie wir gegen einen solch übermächtigen Gegner kämpfen wollen.
Ich hatte dazu bereits in meinem e-mail v. 17.12. kurz angedeutet:
"Wenn die Linke etwas aus dem Vietnam-Krieg hätte lernen können, wäre es das gewesen, daß ein vom Material her stärkerer Gegner nicht frontal, sondern nur durch eine Guerilla-Taktik, und das heißt nichts anderes als dezentral mit Aussicht auf Erfolg bekämpft werden kann. Und wie schon Gandhi gelehrt hat, unterscheidet sich der gewaltfreie Kampf im Hinblick auf Strategie und Taktik in nichts vom Krieg."
Und:
"Genau diesen Gedanken der Vernetzung und der organisatorischen Struktur in kleinen Gruppen gilt es wieder aufzugreifen und weiterzuentwickeln."
Offensichtlich war das ein wenig zu komprimiert und leider kam zu diesem Gedanken bisher keine Resonanz.
Im Gegensatz zum Agieren in Nischen, was ja bedeutet, daß keiner vom anderen weiß oder daß zumindest wenig Kommunikation vorhanden ist, ist die Kommunikation, gegenseitiger Erfahrungsaustausch und Absprache beim von mir angedeuteten Ansatz einer neuen politischen Praxis von entscheidender Bedeutung. Ähnlich koordiniert wie die Offensiven und die Zermürbungstaktik in einem Guerilla-Krieg muß diese Praxis die punktuellen Schwächen des Gegners finden. Bei Goliath war die empfindliche Stelle am Kopf, bei Achilles die Ferse und bei der Atommafia dürfte die Achillesferse bei den Castor-Transporten zu suchen sein. Gerade hier wird auch der entscheidende Vorteil des dezentralen Kampfes erkennbar. Schienen erstrecken sich übers gesamte Land und sind weit schwerer zu sichern als zentrale AKW-Blöcke. Es dürfte sich z.B. herausstellen, daß die Verwirklichung effektiver Nahverkehrssysteme aus den verschiedensten Gründen nicht in jeder Stadt und jedem Kreis gleich schwierig ist. Die vielen positiven Beispiele, die es bis heute gibt (vgl. den Artikel "So fahren wir richtig ab" auf www.netzwerk-regenbogen.de/oepnv.html), gilt es auszuwerten und herauszufinden, welche Orte vorrangig prädestiniert sind, um dort den Kampf fortzusetzen - die schwächsten Stellen des Gegners zu finden. Es ist herauszufinden, welche besonderen Bedingungen in Schönau und in Rottweil gegeben waren, die es ermöglicht haben, daß gerade dort wegweisende dezentrale Energieversorgung aufgebaut werden konnte. Daraus ist zu lernen und das Gelernte an andere potentielle "Gefahren- herde" weiterzuleiten. Warum ist es an manchen Orten gelungen, freie Schulen zu gründen und an anderen nicht ? Es hat sicher nicht allein am Engagement der InitiatorInnen gelegen... Überhaupt können wir, wenn wir die Grundkonzepte der genannten Initiativen genauer analysieren, sehr viel voneinander lernen. gerade der antiautoritäre Ansatz, der in den Initiativen für freie Schulen weiterverfolgt wurde, ist bei den "Grünen" bereits in der Anfangszeit verlorengegangen.

Ich finde, daß Du die noch bestehenden Nischen- Übrigbleibsel, Fahrradläden, alternative Buchläden, eine Stadtzeitung, die sich den 'Stern' als Vorbild gewählt hat, den Biobauernhof, der vom BUND finanziert wird, zu abfällig abtust. Biobauernhöfe haben wir hier in Ba-Wü in ganz ordentlicher Zahl (ca. 3.700) und mit Sicherheit kaum fremdfinanzierte ! Die Krux sehe ich - außer in der Vereinzelung und dem fehlenden gemeinsamen Konzept einer Gegengesellschaft - in der alten, im schlechtesten Sinne traditionellen Aufspaltung zwischen Theorie und Praxis. Die wenigsten, die sich in eine dieser Nischen zurückgezogen haben, konnten - wegen der allbekannten Selbstausbeutung und zeitlichen Überlastung - weiter politisch tätig sein, zumal Politik ja weitestgehend mit Politik im herkömmlichen Sinne - also Parlamentspolitik - identifiziert wurde. Und andererseits haben die Menschen, die sich für die Politik - insbes. bei den Grünen - entschieden, die Praxis in aller Regel vernachlässigt. Eben auch ein Grund für mangelnde Synergie !

Sehr schade finde ich, daß bisher auch niemand auf den vorgestellten Text zum SprecherInnenrat von X-tausendmal- quer einging. Das ist, finde ich, ein vielversprechender Ansatz, Basisdemokratie abseits von Hilfsinstrumentarium wie Rotation, Verbot von Ämterhäufung etc. weiterzuetwickeln. Ich möchte hier - solange offensichtlich kein Diskussionsbedarf besteht - nichts weiteres dazu vortragen, aber schon mal darauf hinweisen, daß zu diesem Thema in den bald vorliegenden weiteren Teilen meines Essays zum Parlamentarismus auf den internet-Seiten von Netzwerk Regenbogen einiges zu diesem Thema zu lesen sein wird.

Noch einige Gedanken zu Punkt 2 aus Pauls e-mail "Volksentscheide":

1. Die Etablierung von Volksentscheiden ist nur auf verfassungsmäßige Weise, also auf dem Weg über die Zustimmung durch Parlamente zu erreichen. Auch wenn die überwiegende Anzahl der Parlamentarier vielleicht so blöd ist, nicht zu bemerken, daß sie mit einer mehr als verbalen Zustimmung zu dieser Form von "direkter Demokratie" die Parlamente "entmachten" würden, ist vorauszusetzen, daß die entscheidenden Leute, die Meinungsführer etc., dafür sorgen, daß niemals ernsthafte Gesetze zur Verankerung von mehr Volksabstimmungen eine Chance haben werden. Das Wort "entmachtet" steht im letzten Satz deshalb in Anführungs- zeichen, weil das Parlament eben nicht Machtzentrum, sondern Transformationsinstrument der Wirtschaftsinteressen ist. Schon Tucholsky sagte: "Sie glauben, sie seien an der Macht, dabei sind sie nur an der Regierung."
Welcher König hat schon freiwillig dem Bürgertum Machtkompetenzen überlassen. Komm mir bitte niemand mit "konstitutioneller Monarchie" - solche "Übergangsformen" sind allenfalls entstanden, wenn das Bürgertum sich als nicht stark genug erwies und einen Teil seiner Macht wieder an die Monarchie abtreten mußte. Noch ein hübscher Zitat aus Machiavellis 'Il principe', worbei er sich auf einen aus seiner Sicht vorbildlichen Staat bezieht: "Es gibt in ihm zahllose gute Verfassungseinrichtungen, auf denen die Freiheit und die Sicherheit des Königs beruht; an erster Stelle steht das Parlament..."
Es ist also m.E. völlig aussichtslos, die eigene Energie für irgendwelche Gesetzesinitiativen im Hinblick auf Volksabstimmungen einzusetzen.

2. Die Perspektive, Volksabstimmungen durch die Parlamente und (damit zumindest in der vordergründigen Argumentation) neben den Parlamenten ist zudem in sich widersprüchlich. Wenn ich die Parlamente zur Verabschiedung von Gesetzen für mehr und leichter zu initiierende Volksabstimmungen in Anspruch nehmen will, kann ich schlecht damit argumentieren, daß sie nicht demokratisch seien. Wenn ich sie aber (wenn auch vielleicht nur verbal) als grundsätzlich demokratisch akzeptiere, gehe ich den Reformweg, den des "mehr Demokratie". Ich degradiere also meine Vorstellungen von Basisdemokratie - und dabei ist ja wohl die Volksabstimmung nur ein Mittel und kein Inhalt - und verwässere sie freiwillig zu einer Ergänzung des Parlamentarismus. Davon ist ja bereits oft genug die Rede, z.B. von "Formen der direkten Demokratie" als "Korrektiv" der Parlamente. Nicht zufällig gerät diese Argumentation dann in die Bredouille, wenn die Frage auftaucht, warum dann die Energie nicht direkt dafür eingesetzt werden soll, die demokratischen "Defizite" des Parlamentarismus direkt auszubessern...

3. Erst drittrangig gehe ich auf die Problematik der praktischen Umsetzung von Volksabstimmungen ein, die ja meist vorrangig diskutiert wird. Ich halte es für wenig sinnvoll über die Praxis einer Einrichtung zu diskutieren, deren Verwirklichung von vorneherein zum Scheitern verurteilt ist. Da es aber so häufig gewünscht wird und zudem ein weiteres Argument für die Aussichtslosigkeit des Unterfangens liefert, hier soviel. Mal abgesehen von Volks- oder hier besser: Bürgerabstimmungen auf kommunaler Ebene (Waldkirch war gerade ein aktuelles und sehr positives Beispiel für die diskussionsstimulierende Wirkung !) sind Volksabstimmungen auf Landes- und Bundesebene gerade wiederum der Versuch, den Kampf zentral statt dezentral zu führen: Sowohl die Formulierung der (höchstens 3 oder 4) Fragestellungen, die für die Abstimmung vorgelegt werden, als auch die Durchführung liegen - rein praktisch gesehen - bei einer kleinen Gruppe von Menschen, die damit ebenso wie die Parlamentarier, nicht nur im Vergleich zur Gesamtbevölkerung, sondern allein schon dem Heer der Lobbyisten gegenüber, den Medien gegenüber und allen weiteren Einfluß-Instrumenten der Wirtschaft gegenüber völlig unterlegen sind. Es ist schon soviel darüber diskutiert worden, mit welchen Regularien gewährleistet werden könne, daß z.B. Frageformulierungen direkt von Bürger verwendet werden müßten1. Na Pfeifendeckel: Ist z.B. Jürgen Schrempp nicht auch Bürger dieses Staates. Und wenn der eine "inhaltllich gleiche" Formulierung einbringt, müßte die ebenso berücksichtigt werden (und ein Jürgen Schrempp würde sicherlich auch jemanden unbekannten finden, der "seine" Formulierung einbringt...) Diese ganzen Regularien, die manche sich da schon ausgedacht haben, um den Einfluß "interessierter Kreise" auszuschalten, erinneren mich fatal an das basisdemokratische "Folterinstrumentarium" der Grünen der Anfangszeit, das sich ja nun mal als völlig wirkungslos erwiesen hat.

Ciao
  Klaus

1Kleine nachträgliche Anmerkung:
Ein köstliches Beispiel für manipulative Formulierungen bietet die aktuelle (7.02.2001) CASTOR-Umfrage des ZDF im internet:

  • Ja, ohne Transporte kein Ausstieg
  • Nein, die Transporte sind zu gefährlich

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