18.08.2008

Sozialabbau und Obdachlosigkeit

Das Thema Obdachlosigkeit ist in der öffentlichen Diskussion weitgehend ausgeblendet. Symptomatisch hierfür ist, daß nicht einmal eine regierungsamtliche Statistik existiert, wie viele Menschen in Deutschland von Obdachlosigkeit betroffen sind.

Doch die Bundesregierung gelobt Besserung:
"Der Bundesregierung liegen keine bundesweiten Daten zur Wohnungslosigkeit aus dem Bereich der amtlichen Statistik vor, aus der sich die Gesamtzahl wohnungsloser Kinder und Jugendlicher ablesen läßt. Die im Bericht angegebene - von der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe geschätzte - Größenordnung (S. 96 des Berichts) erscheint angesichts der Statistiken aus einzelnen Ländern und vorhandener Untersuchungen zu diesen Fragen aus Sicht der Bundesregierung deutlich überhöht.
Zur Vervollständigung der Erkenntnisse im Bereich Wohnungs- und Obdachlosigkeit ist die Bundesregierung um eine Verbesserung der Grundlagen für eine Wohnungslosenstatistik bemüht."

Dieses Zitat stammt aus der Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage im Jahr 1998 - seitdem ist die deutsche Bundesregierung bemüht.

Es ist auch beschämend, wenn aus den Reihen der Erwerbslosen, die nicht - oder noch nicht - von Obdachlosigkeit betroffen sind, abfällige Bemerkungen über "Penner" zu hören sind. Da schwingt dann ein Art seltsamer Stolz mit, so tief seien sie selbst noch nicht gesunken. Es hat weniger mit Stolz als mit dem gerade in Deutschland so verbreiteten "Radfahrer-Syndrom" zu tun: Nach oben buckeln und nach unten treten.

Daß es durchaus möglich ist, eine Statistik über Obdachlose zu führen, beweist das Bundesland NRW. Dort wird seit den 60er Jahren die Zahl jährlich veröffentlicht. Sie liegt dort bei 21.000 bis 22.000 Menschen. Nach Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft für Wohnungslosenhilfe e.V. in Bielefeld waren bundesweit im Jahr 2004 etwa 345.000 Menschen in Deutschland wohnungslos. Rund 20.000 bis 30.000 davon leben auf der Straße. Andere Schätzungen gehen von insgesamt 800.000 bis 900.000 Wohnungslosen in Deutschland aus.

Obdachlose fallen meist nicht groß auf, wohl auch deshalb, weil noch heute Kindern in Deutschland subtil antrainiert wird, an diesen Menschen vorbeizuschauen. Sie finden sich in der Nähe von belebten Einkaufsstraßen, Bahnhöfen - wo sie allerdings immer rigoroser vertrieben werden -, Sehenswürdigkeiten, in Parks oder auf öffentlichen Plätzen.

Manche betteln, manche nicht, manche sind aufdringlich, manche betrunken, manche völlig in sich versunken. Manche verkaufen auch eine der vielen Straßenzeitungen, die es in Deutschen Städten gibt.

Nach einer Definition des Deutschen Städtetages ist wohnungslos, wer nicht über eigenen, mietvertraglich abgesicherten Wohnraum verfügt. Aktuell von Wohnungslosigkeit betroffen sind demnach Menschen ohne eigene Unterkunft, auch wenn sie etwa bei Verwandten oder Freunden vorübergehend wohnen. Darunter fallen auch Menschen, die sich in Heimen, Anstalten, Notübernachtungen, Asylen oder Frauenhäusern aufhalten, weil keine Wohnung zur Verfügung steht.

Eine Hamburger Studie aus dem Jahr 2002 belegt, daß wohnungslose Menschen nur innerhalb der ersten sechs Monate nach Beginn der Wohnungslosigkeit eine nennenswerte Chance haben, dieser Situation dauerhaft auch wieder zu entkommen. Für alle anderen gilt: Je länger die Wohnungslosigkeit dauert, desto geringer die Chance, wieder heraus zu kommen. Und damit verfestigt sich eine Lebenslage.

Ein Grundrecht auf Wohnen - wie von einigen Interessenverbänden gefordert - existiert im deutschen Grundgesetz nicht. Ein wichtiges Argument, ein solches Grundrecht nicht einzuführen, war, daß wohnungslose Menschen dann auf die Idee kommen könnten, die Bundesrepublik Deutschland zu verklagen, ihnen eine Wohnung zur Verfügung zu stellen. Und dies, so die Argumentation, könne der Staat nicht in jedem einzelnen Fall gewährleisten. Deshalb sollte ein solches Recht nicht im Deutschen Grundgesetz verankert sein.

Wer sich für den Lebenslauf von Obdachlosen interessiert, weiß, daß der Verlust der eigenen Wohnung nicht die Ursache von Wohnungslosigkeit ist, sondern vielmehr den letzten, sichtbaren Schlußpunkt darstellt. Stationen wie der Verlust des Arbeitsplatzes, Beziehungskrisen, Scheidung, Schulden, Suchterkrankungen, psychische Störungen und Erkrankungen, familiäre Konflikte, häusliche Gewalt, finanzielle Schwierigkeiten und Weiteres mehr sind nicht in erster Linie individuelle Defizite, sondern gleichsam Wegmarken bis hin zur Wohnungslosigkeit.

An solchen Wegmarken wird sichtbar, wie gesellschaftliche Ausgrenzungsprozesse und individuelle Handlungsmuster und Handlungsstrategien ineinander verschränkt sind. Der Verlust der Wohnung ist damit Endpunkt eines langen Prozesses der sozialen und individuellen (Re-)Produktion von Armut und Wohnungslosigkeit.

Die staatliche oder kommunale Unterbringung von Wohnungslosen geht auf einen Kontrollwunsch des Staates zurück. Der Aufenthaltsort soll bestimmbar sein. Lange Zeit galten umherwandernde MitbürgerInnen als Sicherheitsrisiko. Wohnsitzlosigkeit galt in früheren Zeiten nicht selten auch als Straftatbestand. Aus diesen Gründen ist auf der Ebene der einzelnen Länder in Deutschland eine Gesetzgebung verankert, welche die Behörden verpflichtet, wohnungslosen Menschen - sofern diese sich melden - eine Unterkunft zuzuweisen. Diese Wohnungslosenunterkünfte haben einen geringen Standard, sie sind häufig außerhalb gelegen, es handelt sich in der Regel um zwangsgemeinschaftliche Unterkünfte - also: mehrere Menschen in einem Zimmer - mit Gemeinschaftsräumen. Die BewohnerInnen haben keine Rechte, wie sie beispielsweise MieterInnen haben, und oftmals handelt es sich um Massenunterkünfte.

Diese Strategie führt dazu, daß aus wohnungslosen Menschen untergebrachte Wohnungslose werden. Sie müssen nicht draußen schlafen. Eine gewisse Zahl von Wohnungslosen lehnt diese Art von Unterbringung ab und zieht es statt dessen vor, auf der Straße zu bleiben.

Die staatliche Hilfe durch Wohlfahrtseinrichtungen entsprechend der Sozialgesetzgebung wird auf Antrag gewährt. Der Antrag wird in der Regel von der Einrichtung gestellt, die Wohnungslosen eine solche Hilfe geben will. Grundlage dafür ist, daß wohnungslose BürgerInnen sehr genau Auskunft geben müssen über persönlichen Lebensumstände, über Probleme und über die eigene Lebensgeschichte.

Ob nun begründet oder nicht, manche wohnungslosen Menschen wollen das nicht oder haben Angst davor, daß etwas Unangenehmes aus der Lebensgeschichte zum Vorschein kommt oder empfindet diese Behandlung als zu entwürdigend. Sie ziehen es vor, auf der Straße zu bleiben.

Die Ausgrenzung und Vertreibung durch Rechtsmittel ist ein Phänomen, welches in den vergangenen Jahren zunehmend an Bedeutung gewinnt. Wohnungslose Menschen sind unerwünscht in Geschäftsstraßen und Einkaufszentren, an öffentlichen Straßen und Plätzen, auf Bahnhöfen und vor touristischen Zentren. Sie beschädigen angeblich das Image einer Stadt und die damit verbundenen Wirtschaftserwartungen. Teilweise indirekt, teilweise ganz unverhohlen wird versucht, Instrumente zu entwickeln, um wohnungslose BürgerInnen von solchen Orten fernzuhalten. So gibt es Straßensatzungen, die beispielsweise den Konsum von Alkohol in der Öffentlichkeit verbieten.

Auch die zunehmende Privatisierung von öffentlichen Räumen - wie die bereits erwähnten Bahnhöfe - führt dazu, daß private Betreiber Hausordnungen erlassen können, die es untersagen, sich einfach nur aufzuhalten, zu betteln, Alkohol zu trinken oder zu schlafen. Auch diese Strategie ändert nichts an der Tatsache, daß wohnungslose Menschen wohnungslos bleiben. Sie sind aber immerhin nicht mehr sichtbar. Sie ziehen sich zurück in die Randlagen der Städte, meistens in Gegenden, wo ohnehin schon soziale Probleme stark vorhanden sind.

Eine wirkliche Integration Wohnungsloser in die Mitte der Gesellschaft findet nur zu einem kleinen Teil statt. Der Großteil der Hilfestrategien führt dazu, daß Wohnungslose wohnungslos bleiben, nur eben, daß sie weniger auffallen und den öffentlichen Betrieb nicht stören und daß sie überleben können, daß sie nicht hungern und nicht erfrieren müssen. Ihre Lebenslage ist nur verbessert, nicht verändert.

Die Menschen und Institutionen, die sich für Wohnungslose einsetzen, sind gegenwärtig in der Defensive. Sie haben alle Hände damit zu tun, dafür zu sorgen, daß sich die Rahmenbedingen der Hilfe nicht noch weiter verschlechtern.

Hinzu kommt: Die Angst, selbst zu verarmen, hat inzwischen Teile der deutschen Mittelschicht erreicht. Damit steht ein zunehmend zu beobachtendes Phänomen in Zusammenhang. Eine am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld unter Leitung von Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer vorgenommene repräsentative 10-Jahres-Querschnittsstudie zum Thema "Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" zeigt, daß die Ablehnung von wohnungslosen Menschen eine weitere Verbreitung und eine Zunahme erfährt. Immer mehr Menschen nämlich sind der Auffassung, daß Wohnungslose in den Städten unangenehm sind, daß bettelnde Wohnungslose aus den Fußgängerzonen entfernt werden sollten und daß Wohnungslose selbst Schuld sind, wenn man etwas gegen sie hat.

Wenig bekannt ist, daß in einer Gesellschaft, in der immer mehr zur Waren wird, für die bezahlt werden muß, auch ein Grab nicht für jede Leiche zur Verfügung steht. Viele Obdachlose erleben, daß ihre Freunde nach dem Tod auf ordnungsbehördliche Anweisung hin eingeäschert und anonym beigesetzt werden. Dieser aus finanziellem Kalkül praktizierten Lösung wird immer öfter durch Aktionen widersprochen. So fand sich in Köln 1997 eine Interessengemeinschaft Bestattung Obdachloser Menschen zusammen, die unter Leitung des Kölner Bestatters Thomas Kremer eine Grabstätte auf dem Südfriedhof kaufte und dort Urnen, die ursprünglich zur anonymen Beisetzung vorgesehen waren, beisetzte, für eine gärtnerische Grabpflege sorgte und Grabsteine mit Namen anfertigen ließ. "Wer im Leben schon wenig Spuren hinterlassen hat, soll wenigstens im Tod nicht spurlos verschwinden." Inzwischen sind in der durch Spenden finanzierten Grabstätte über 160 Urnen von Obdachlosen beigesetzt.

Wie schnell auch Menschen, die noch wenige Jahre zuvor als Gewerkschafter ihre eigenen Interessen zu vertreten wußten, in eine Lage geraten können, in der sie an Selbstmord denken, zeigt ein Vorfall, der sich in den vergangenen Wochen ereignete. Die Arbeitsgemeinschaft (ARGE) Rhein-Sieg droht nun einem 50-jährigen Arbeitslosen mit Abschiebung in ein Obdachlosenheim, weil er für den Mietanteil seines toten Mitbewohners nicht aufkommen kann.

Da sogenannter angemessener Wohnraum für Hartz-IV-Empfänger im Rhein-Sieg-Kreis rar ist, war der gelernte Bürokaufmann Achim H. Ende Juli beim zuständigen Amt in Troisdorf nahe Köln nach dem Tod des Mitbewohners mit der Bitte um eine vorübergehende Kostenübernahme für die Dauer der Wohnungssuche vorstellig geworden. Zunächst erhielt er dafür auch grünes Licht. Nach einer Auseinandersetzung mit der zuständigen Sachbearbeiterin im Verlauf des Antragsverfahrens erreichte ihn wenige Tage darauf eine Absage.

Darin heißt es: "Sie sind allein lebend und bei drohender Wohnungslosigkeit wäre eine Unterbringung jederzeit möglich und von Ihnen in Kauf zu nehmen." Für Achim H. ist das eine "unmißverständliche Ansage, mich in irgendein Heim zu stecken." Am 26. Juli war sein langjähriger Freund tot in einer Garage aufgefunden worden. Wie sich herausstellte, hatte er sich drei Wochen zuvor das Leben genommen. Der ehemalige Betriebsratchef einer großen Maschinenbaufirma war bis zuletzt ebenfalls ohne Arbeit und teilte sich eine Wohnung mit Achim H. in Troisdorf. Die Mietkosten trug die ARGE.

Achim H. wußte, was ihm nach dem Tod seines Freundes von Amts wegen blühte, und stellte schon am 28. Juli einen Antrag auf vollständige Kostenübernahme. Nach seiner Darstellung traf er auf dem Flur der ARGE den Standortleiter Niederkassel an, der ihm kondolierte und versprach, seinem Anliegen zu entsprechen. "Meine jüngste Tochter und ein Beistand, die mich begleiteten, können das bezeugen", betonte der 50-Jährige. Dennoch kam alles ganz anders: Zur Vorlage aller nötigen Antragsunterlagen suchte Achim H. die ARGE Anfang August auf, fand aber keinen der für ihn Zuständigen vor. Deshalb warf er die Dokumente in den Briefkasten seiner Sachbearbeiterin.

Darüber geriet sie mit ihm bei dessen nächstem Besuch in Streit. "Die Sache eskalierte ein wenig, wir sind beide lauter geworden, am Ende hat sie mich sogar als dumm bezeichnet." Achim H. vermutet, der abschlägige Bescheid sei "eine Art Racheakt", auch für frühere Vorfälle.

Martin Behrsing vom Erwerbslosenforum Deutschland berichtete, hat sich Achim H. bereits "acht- oder neunmal" gegen negative Entscheidungen der ARGE Rhein-Sieg zur Wehr gesetzt. "Und jedes Mal bekam er vom Sozialgericht Recht zugesprochen." Man könne sich des Eindrucks nicht erwehren, "daß man den Mann mit aller Gewalt brechen will", so Behrsing. Auch jetzt werde Achim H. versuchen, eine sechsmonatige Mietübernahme durchzusetzen.

Achim H.: "Bereits im Jahr 2006 hat die ARGE Rhein-Sieg dafür gesorgt, daß ich meine Wohnung verloren habe, weil sie mir eine eheähnliche Gemeinschaft unterstellte. Eine Unterstellung, die im Nachhinein vor dem Sozialgericht nicht standhielt. Ich war damals froh, daß mir mein langjähriger Freund H.G. das Angebot machte, sich die Wohnung mit mir zu teilen. Sonst wäre ich damals schon obdachlos geworden, weil für die preislichen Vorstellungen des Rhein-Sieg-Kreises und in der Kürze der Zeit keine Wohnung zu finden gewesen wäre". Achim H. hat zwei Töchter, die ihn regelmäßig besuchen und die Ferien bei ihm verbringen. In einem Obdachlosenheim könnte er sein Umgangsrecht nicht mehr wahrnehmen.

In einer von Achim H. und dem Erwerbslosen Forum Deutschland veröffentlichten Stellungnahme heißt es: "Wir haben mit dem selbst gewählten Tod von G. einen lieben Menschen verloren, der sehr viel für die Gesellschaft getan hat, jedoch von dieser kaum etwas zurückbekam. Wir erinnern daran, daß er als Betriebsrat des Renova-Werks in Niederkassel-Mondorf für seine Kollegen im Jahr 2000 einen sehr guten Sozialplan durchgesetzt hat. Danach benötigte die Industrie den hochqualifizierten und talentierten Feinmechaniker allerdings nicht mehr... Seit dem letzten Jahr sprach er immer wieder davon, daß er keine Aussichten bei Hartz IV sehen würde und den Druck der ARGE nicht mehr standhalten wolle. Er habe schon genug gekämpft und würde sich was einfallen lassen. Leider ließ er sich im Alter von 50 Jahren nur den selbst gewählten Tod einfallen."

 

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