Lord Steyn wirft Washington "äußerste Gesetzlosigkeit"
im Umgang mit den Gefangenen vor
Lord Steyn, der dritthöchste der zwölf Londoner Law Lords, die das Oberste Gericht
der Insel bilden, warf der US-Regierung vor, die Gefangenen auf
Guantánamo in einem Zustand "äußerster Gesetzlosigkeit" zu halten
und Militärverfahren gegen sie vorzubereiten, die einem
"Femegericht" alter Zeiten gleichkämen. In einer Rede vor Juristen
beschuldigte der Lord-Richter die US-Regierung eines "monströsen
Rechtsbruchs".
Die USA hielten die Guantánamo-Gefangenen offenkundig fest "in der
Absicht, sie jenseits von Recht und Ordnung zu stellen, jenseits allen
Schutzes durch die normale Gerichtsbarkeit, dem reinen Willen der
Sieger ausgeliefert". Die geplanten Militärverfahren erfüllten "nicht
einmal minimale internationale Standards für faire Prozesse" und
würden sich, so es zu ihnen komme, als "Schandfleck" für die
US-Justiz erweisen.
Diese in Aussicht genommenen Verfahren nämlich, erklärte Lord
Steyn, sähen das US-Militär als Verhörpersonal, als Ankläger, als
Verteidiger, als Richter und als Henker. Die Prozesse würden hinter
verschlossenen Türen stattfinden. Der einzige, der auf den Verlauf
Einfluß nehmen könne, sei der US-Präsident - der die Gefangenen
bereits als "Killer" bezeichnet habe.
Die eigene, britische Regierung forderte Lord Steyn auf, den USA
gegenüber "öffentlich und in unzweideutiger Weise klar zu machen,
wie sehr wir diese äußerste Gesetzlosigkeit verurteilen". Premier
Tony Blairs Bemühungen, für die neun britischen
Guantánamo-Häftlinge eine Sonderbehandlung zu erwirken, und die
anderen 650 Gefangenen zu ignorieren, bezeichnete er als "unmoralisch".
Der Ausfall des prominenten Richters löste in London höchste
Verwunderung aus. Britischen Gepflogenheiten zufolge halten sich
hohe Richter des Königreichs in politischen Fragen zurück, und
greifen schon gar nicht die eigene Regierung oder fremde
Regierungen an. An möglichen künftigen Verfahren, die die
Guantánamo-Gefangenen betreffen, wird Lord Steyn nun jedenfalls
nicht mehr teilnehmen können. Der als liberal bekannte 71-jährige
Richter sah sich aber, wie er einräumte, "nach langer
Gewissensprüfung" zu seiner Intervention genötigt.
In Kriegszeiten oder zu Zeiten vermeintlicher nationaler Bedrohung,
meinte Lord Steyn, komme es leider allzu häufig vor, daß sogar
demokratische Staaten Bürgerrechte in einer Weise einschränkten,
die "völlig unproportional" zur betreffenden Krise sei. Richter aber
erwiesen sich häufig, selbst in Friedenszeiten, als "allzu unterwürfig"
gegenüber ihrer jeweiligen Exekutive.
Unterdessen wurde bekannt, daß Washington die Regeln für die
geplanten Militärtribunale für die Gefangenen von Guantánamo
überprüfen will. Das teilte das US-Verteidigungsministerium mit.
Zuvor hatte es im Streit um zwei Australier Konzessionen
eingeräumt, die auf Guantánamo als mutmaßliche Terroristen
festgehalten werden. Das Pentagon sagte der australischen Regierung zu,
daß die Gefangenen im Falle einer Verurteilung nicht hingerichtet würden.
Eine entsprechende Zusage hatte die US-Regierung bereits im Juli
gegenüber der britischen Regierung wegen ebenfalls zwei gefangen
gehaltenen Staatsangehörigen abgegeben. Ob derlei Konzessionen
auch gegenüber weiteren Regierungen für Gefangene der jeweiligen
Staatsangehörigkeit zustande kommen werden, ist fraglich.
Menschenrechtsanwälte verweisen auf die daraus resultierende
Konsequenz, Gefangene je nach Staatangehörigkeit zu töten.
Peter Nonnemacher