Beitrag für ein internet-Forum der BZ


17.12.2000

Kitsch und Kälte

Datum: 12-17-2000 13:38

Hallo "dw", hallo "Agnostiker" !

Kitsch und Kälte - und mit Kälte meine ich die heutige Pseudo-Rationalität - sind nur zwei Seiten ein und derselben Medaille. Kitsch und Sentimentalität sind meilenweit von echtem Gefühl entfernt wie Hermann Hesse bereits Anfang des 20. Jahrhunderts in folgendem Beitrag über Weihnachten feststellte. Ich bin der Ansicht, daß heute, soviele Jahrzehnte danach, in denen es nur immer schlimmer mit Weihnachten wurde, nur noch ein Abschaffen dieses Klamauks helfen würde...

Ciao
    Klaus Schramm

Weihnacht

von Hermann Hesse (gekürzte Fassung)
Dezember 1917

Auch früher schon, ehe die große Mahnung an uns ergangen war, bekam ich an Weihnacht je und je leise Widerstände, bekam einen etwas unangenehmen Geschmack auf der Zunge zu fühlen, wie bei einer Sache, welche zwar hübsch, aber nicht ganz echt ist, welche zwar allgemein Vertrauen genießt, welcher man aber heimlich doch ein wenig mißtraut.

Jetzt, da die vierte Kriegsweihnacht kommt, ist der Geschmack auf der Zunge unüberwindlich geworden.

Unser Weihnacht ist, von ein paar wirklich Frommen abgesehen, ja schon sehr lange eine Sentimentalität. Zum Teil ist sie noch schlimmeres geworden, Reklameobjekt, Basis für Schwindelunternehmungen, beliebtester Boden für Kitschfabrikation.

Das kommt daher: die Weihnacht und das Fest der Liebe und Kindlichkeit ist für uns alle schon längst nicht mehr Ausdruck eines Gefühls. Es ist das Gegenteil, ist längst nur noch Ersatz und Talmi - Nachahmung eines Gefühls. Wir tun einmal im Jahre so, als legten wir großen Wert auf schöne Gefühle, als ließen wir es uns herzlich gern etwas kosten, ein Fest unserer Seele zu feiern. Dabei kann die vorübergehende Ergriffenheit von der wirklichen Schönheit solcher Gefühle sehr echt sein; je echter und gefühlvoller sie ist, desto mehr ist sie Sentimentalität. Sentimentalität ist unser typisches Verhalten der Weihnacht und den wenigen anderen äußeren Anlässen gegenüber, bei denen noch heute Reste der christlichen Lebensordnung in unser Tagesleben eingreifen. Unser Gefühl dabei ist dieses: "wie schön ist doch dieser Liebesgedanke, wie wahr ist es, daß nur Liebe erlösen kann! Und wie schade und bedauerlich, daß unsere Verhältnisse uns nur einen einzigen Abend im Jahr den Luxus dieses schönen Gefühls gestatten, daß wir sonst jahraus jahrein durch Geschäfte und andere wichtige Sorgen davon abgehalten sind!" Dies Gefühl trägt alle Merkmale der Sentimentalität. Denn Sentimentalität ist das Sich-Erlaben an Gefühlen, die man in Wirklichkeit nicht ernst genug nimmt, um ihnen irgendein Opfer zu bringen, um sie irgend je zur Tat zu machen.

Unser Verhalten gegen alle wirklichen Werte des Menschen ist von einer Barbarei und Rohheit, wie sie die Welt seit Jahrhunderten nicht mehr gesehen hat. Dies zeigt sich in unserem Verhalten zur Religion, in unserem Verhalten zur Kunst, in unserer Kunst selbst. Denn die beliebte Meinung, daß die Kunst des modernen Europa auf einer hohen Stufe stehe, ist ebenso ein Irrtum der Bildungsphilister wie die Meinung vom Vorhandensein einer hochstehenden und Respekt verdienenden "Kultur" unserer Zeit.

Der "Gebildete" von heute verhält sich zur Lehre Jesu so, daß er das Jahr hindurch an sie nicht denkt und nach ihr nicht lebt, daß er aber am Weihnachtsabend einer vagen wehmütigen Kindererinnerung nachgibt und ein wenig in zahmen, wohfeilfrommen Gefühlen schwelgt, ebenso wie er noch ein- oder zweimal im Jahr, etwa bei der Aufführung der Matthäuspassion, dieser zwar längst verlassenen, dennoch aber noch unheimlichen und im Verborgenen mächtigen Welt seine Reverenz macht. Ja, das alles gibt man zu, jedermann weiß es, und jeder weiß auch, daß es traurig ist.

Schuld an unserem Elend, schuld an der Nichtigkeit und rohen Verödung unseres Lebens, schuld am Krieg, schuld am Hunger, schuld an allem Bösen und Traurigen ist keine Idee und kein Prinzip, schuld daran sind wir, wir selber. Und auch nur durch uns, durch unsere Erkenntnis, durch unseren Willen kann es anders werden.

Ob wir dann die Lehre Jesu wieder aufnehmen und uns neu zu eigen machen, oder ob wir andere Formen suchen, das ist einerlei. Die Lehre Jesu und die Lehre Lao Tse, die Lehre der Veden und die Lehre Goethes ist in dem, worin sie das ewig Menschliche trifft, dieselbe. Es gibt nur eine Lehre. Es gibt nur eine Religion. Es gibt nur ein Glück. Tausend Formen, tausend Verkünder, aber nur ein Ruf, nur eine Stimme. Die Stimme Gottes kommt nicht vom Sinai und nicht aus der Bibel, das Wesen der Liebe, der Schönheit, der Heiligkeit liegt nicht in der Antike, nicht bei Goethe, nicht bei Tolstoi - es liegt in dir, in mir, in dir und mir, in jedem von uns. Dies ist die alte, einzige, immer in sich gleiche Lehre, unsere einzige ewig gültige Wahrheit. Es ist die Lehre vom "Himmelreich", welches wir "inwendig in uns" tragen.

Zündet euren Kindern die Weihnachtsbäume an! Lasset sie Weihnachtslieder singen! Aber betrügt euch selber nicht, seid nicht immer und immer wieder zufrieden mit diesem ärmlichen, sentimentalen, schäbigen Gefühl, mit dem ihr eure Feste alle feiert! Verlangt mehr von euch! Denn auch die Liebe und Freude, das geheimnisvolle Ding, das wir "Glück" nennen, ist nicht da und nicht dort, sondern nur "inwendig in uns".

Geistes-Blitz-Werk