11.03.2001

Die kleinen Helfer
des großen Bruders

Satellitenortung, Datenbankabgleiche und Personen- spotting erleichtern die Überwachung.

Wer unter Verfolgungswahn leidet, sollte die britische Hauptstadt meiden. Durchschnittlich dreihundertmal am Tag wird man in London von einer der mehr als 200.000 fest installierten Überwachungskameras aufgenommen. Alle drei Minuten gerät ein Besucher im Herzen der Westminster- Demokratie - statistisch gesehen - in das Visier eines Systems, das Kritiker an einen optischen Wachhund erinnert. Was in London, das 1974 zur Überwachung der großen Straßenkreuzungen die ersten 145 Kameras aufstellen ließ, heute niemanden mehr stört, hält schleichend in vielen Regionen der Erde Einzug. So entging Ende Januar nicht einer der 75.000 Zuschauer des amerikanischen Football-Endspiels Super Bowl in Tampa den elektronischen Augen von zwanzig Kameras, die am Eingang des Stadions aufgestellt worden waren und automatisch die Gesichtszüge jedes Besuchers mit Bildern aus der Verbrecherkartei verglichen. Die Herstellerfirma Graphco Technologies - sie überließ der Polizei die neuen Geräte kostenlos zum Test - hatte allen Grund zum Feiern: Immerhin neunzehn Personen waren als Kriminelle registriert. Dutzende Bilder eines jeden Besuchers wurden mit einem von Visage Technologies entwickelten Softwareprogramm auf bis zu 128 individuelle Gesichtsmerkmale verglichen, vom Winkel der Backen- knochen bis zur Dicke der Nase.

Was in den achtziger Jahren noch zu einem Aufschrei von Bürgerrechtsgruppen geführt hätte, scheint heute vom tibetanischen Lhasa (wo es trotz geringen Autoaufkommens Verkehrsüberwachungskameras gibt) bis ins amerikanische Tampa weitgehend akzeptiert zu werden: eine Überwachung, die sich langsam auf alle Felder des Lebens erstreckt. Vieles spricht dafür, daß die behutsame Einführung neuer Überwachungstechniken zu einer Anpassung und Gewöhnung führt, bei dem sich Menschen ähnlich wie Amphibien verhalten: Wirft man diese in heißes Wasser, so werden sie ihm umgehend zu entkommen versuchen; setzt man sie jedoch in ein ihrer Körpertemperatur entsprechendes Bad und erhöht die Temperatur nur allmählich, so werden sie sich einlullen lassen.

In Vergessenheit geraten zu sein scheint ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes aus dem Jahre 1984, in dem es hieß: "wer unsicher ist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und Informationen dauerhaft gespeichert, verwendet und weitergegeben werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen." Über die flächendeckende Videoüberwachung, maschinenlesbare Ausweise, elektronische Fußfesseln, Datenbankabgleiche, Satellitenortung, Bewegungsmelder, DNA-Karteien und Stimmanalysen scheinen viele Überwachungswege, die George Orwell wohl kaum für möglich gehalten und auch das Bundesverfassungsgericht 1984 noch nicht gekannt hat, heute zum Bestandteil der globalisierten Informations- gesellschaft geworden zu sein. Kreditkartenunternehmen erstellen anhand der eingehenden Daten Kundenprofile, Mobiltelefone sind zugleich Peilsender, weil sie Bewegungsprofile liefern, und selbst im Internet surft man weniger anonym, als den meisten bewußt sein dürfte. Die nächsten Schritte sind schon vorgezeichnet.

In den Vereinigten Staaten stellen manche Krankenhäuser ihren Angestellten Arbeitskleidung zur Verfügung, die mit einem Chip ausgestattet ist, über den der Aufenthaltsort jederzeit festzustellen ist. Was in Notlagen Sinn hat, kann unliebsame Folgen haben: Jeder Toilettengang und jede Überschreitung einer Pause werden unweigerlich aufgezeichnet. Die Grenzen zwischen Privatheit und den Interessen des Arbeitgebers verschwimmen. Und für die Privatkleidung bietet ein Bochumer Unternehmen in der neuen Kollektion nicht nur Modisches mit integrierten Solarzellen, die ein Mobiltelefon aufladen, sondern zusätzlich ein Satelliten-Navigationssystem an, mit dem etwa eifersüchtige Ehemänner oder Ehefrauen ihren Partner überall ausfindig machen könnten. Eine "Kindersuchweste", die es Eltern ermöglichen soll, ihre Jüngsten über Funk ausfindig zu machen, konnte hingegen bei der Düsseldorfer Modernesse nicht vorgestellt werden; sie wurde, am Frankfurter Flughafen beschlagnahmt, weil die dortigen Sicherheitssysteme Fahnder auf den Plan riefen. Ein amerikanisches Unternehmen entwickelt Schuhe, die mit jedem Menschen, dessen Hand man schüttelt, elektronische Visitenkarten austauschen. Der Abstand zwischen Mensch und Computer wird bald nicht größer sein als jener zwischen Jacke und Träger. Und Überwachungstechnik könnte dann so allgegenwärtig sein wie heute der Sauerstoff.

Einen neuen Weg auf dem Gebiet von Ortung und Identifizierung beschreiten biometrische Überwachungs- systeme: Im Gegensatz zur konventionellen Video- Aufzeichnung, die letztlich eine Verlängerung des menschlichen Auges ist, bedürfen ihre Bilder nicht mehr der Interpretation durch einen Menschen. Die Universität von Leeds entwickelt gemeinsam mit der Universität von Reading eine Software, die auf Videosequenzen "normales" von "verdächtigem" Verhalten unterscheiden kann. Diebe, Terroristen und Mörder, so die Annahme der Wissenschaftler, verhielten sich anders als "normale" Menschen. Wer künftig auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums scheinbar ziellos daherschlendert, könnte von der neuen Software im ungünstigen Fall schon vorbeugend als potentieller Autodieb entlarvt werden.

Biometrische Verfahren nutzen die physiologischen Merkmale eines Menschen, um ihn eindeutig zu identifizieren. Neben Bewegungsabläufen können das zum Beispiel Thermo- gramme, bei denen die Temperatur der Gesichtszonen gemessen wird, die Stimme oder der Augenhintergrund sein. Solange die mit Hilfe der Überwachungstechnik gesammelten Daten aus der anonymen Menschenmenge in einer Demokratie gewonnen werden, gibt es Kontrollmechanismen, die Mißbrauch verhindern. Anders als in China, wo amerikanische und deutsche Firmen vor 1989 die Hard- und Software zur Überwachung des Tiananmen-Platzes in Peking lieferten (ihre Aufnahmen dienten nach dem Massaker dazu, auch geflüchtete Demonstranten aufzufinden), ist die Gefahr des Mißbrauches in der freien Welt gering. Überwachung, Identifizierung und Vernetzung der gewonnenen Informationen erleichtern jedoch Massen- und Routine- überwachung, ohne Überwachungs- und Durchsuchungs- genehmigungen zu benötigen.

Militärische Anlagen, Gefängnisse, Kernkraftwerke, Banken und Industrieunternehmen werden schon in wenigen Jahren mit Hilfe der Biometrie neue Sicherungssysteme einführen. In Deutschland und in der Schweiz bieten Banken Kundenschließfächer an, die mit Fingerabdruck-Scannern arbeiten. Sie funktionieren aber nur, solange der Kunde keine Blasen oder Schwielen an den Fingern hat.

In einer Untersuchung der Universität Hull berichtete der Kriminologe Clive Norris, daß die vorhandenen automatischen Erkennungstechniken die britische Regierung in die Lage versetzen könnten, die Schritte eines jeden einzelnen zu kontrollieren. Möglich macht das eine Software, die auch in Deutschland von Polizeibehörden eingesetzt wird, das sogenannte Personenspotting. Aus einer Menschenmasse heraus können damit in jeder Sekunde zwanzig Menschen herausgefiltert werden, die sich schnell mit vorhandenen Datensätzen abgleichen lassen. Das System kann eine "gekennzeichnete" Person auch über mehrere Kameras hinweg verfolgen. Noch einfacher ist es, wenn auch das Fahrzeugkennzeichen einer Zielperson bekannt ist: Seit 1994 vertreibt das britische Unternehmen Talon Systems eine von Cambridge Neurodynamics entwickelte Technik, die Nummernschilder bei Tag und Nacht erkennt. Diese Kameras stehen etwa an den Ein- und Ausfallstraßen von London. Mit ihnen kann auch nach mehreren Tagen noch festgestellt werden, wer zu einem bestimmten Zeitpunkt in welche Richtung gefahren ist.

Deutsche Forscher haben das Personenspotting verfeinert: Selbst wenn Gesichter durch Haarschnitt, Bart oder Brille verändert wurden, sind sie angeblich zweifelsfrei auch in chaotischer Umgebung zu erkennen. Und nicht nur das: Liegen Vergleichsaufnahmen nicht vor, liefert die Software automatisch eine Analyse nach Rasse, Geschlecht und Alter.

 

Udo Ulfkotte

Kommentar:
Wenn der Autor der FAZ, Udo Ulfkotte, in seinem obigen Artikel die Bezeichnungen "westliche Demokratie" und "freie Welt" fast beschwörend verwendet, mutet mir dies ein wenig wie Selbstbeschwichtigung an. Denke ich zum Beispiel daran, in welch horrendem Maß unter der deutschen "rot-grünen" Bundesregierung allein die Telefonüberwachung gesteigert wurde (siehe Artikel vom 23.03.), erscheint mir das bei Ulfkotte zum Ausdruck kommende Vertrauen denn doch ein wenig leichtfertig.
Klaus Schramm

 

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