2.05.2009

Kann der DGB
einen Umsturz organisieren?

NETZWERK REGENBOGEN zum 1. Mai

DGB-Chef Michael Sommer und "S"PD-Präsidentschafts-Kandidatin Gesine Schwan wurden in den vergangenen Wochen in den deutschen Mainstream-Medien heftig angefeindet, weil sie vor der Gefahr von sozialen Unruhen noch in diesem Jahr warnten. In dem Fall gilt zwar nicht das alte Sprichwort "Unter den Blinden ist der Einäugige König" - aber immerhin zeigen die Äußerungen von Sommer und Schwan, daß sie im Gegensatz zu weiten Teilen der deutschen "Elite" nicht völlig realitätsblind sind. Sie zeigen jedoch auch, daß sie nach wie vor unverbrüchlich zur kapitalistischen Ordnung stehen. Denn sonst sähen sie wohl keinen Grund zu warnen.

Noch in diesem Jahr ist mit dem Anstieg des Arbeitslosenheeres um mehrere Millionen zu rechnen. Und allein auf der Grundlage der offiziell vorliegenden Wirtschaftsdaten läßt sich nach volkswirtschaftlichen Standard-Verfahren ohne allzu großen Aufwand und unter durchweg konservativen Abschätzungen berechnen, daß der Rückgang des BIP nicht etwa - wie in den vergangenen Wochen offiziell eingestanden - bei 6 Prozent, sondern bei 13 Prozent für das Jahr 2009 und bei rund 17 Prozent für das Jahr 2010 liegen wird.

Wenn heute in den Mainstream-Medien behauptet wird, niemand habe noch vor einem Jahr die Weltwirtschaftskrise vorhersehen können, ist dies schlicht eine Lüge. Wir können hier nicht allein auf die Reihe unserer ausführlichen Veröffentlichungen zum Thema seit Juli 2007 verweisen, sondern beispielsweise auch auf den konservativen Ökonomen Max Otte, Professor für Ökonomie in Worms, der in Princeton promoviert hat und der bereits im Sommer 2006 ein Buch mit dem Titel 'Der Crash kommt' publizierte. Dieses Buch hielt sich über mehrere Monate in den Bestseller-Listen von 'manager magazin' und 'Handelsblatt'. Es kann also niemand behaupten, dessen Analysen, die sich zu großen Teilen mit unseren decken, seien nicht zugänglich gewesen. Tatsache ist jedoch, daß eine Mehrheit von über 90 Prozent der universitären ÖkonomInnen nicht in der Lage war, die geistige Hegemonie des Neoliberalismus zu durchbrechen und eine davon abweichende Analyse überhaupt zur Kenntnis zu nehmen.

Zur Zeit wird in den Mainstream-Medien eine reichlich irrationale Diskussion darüber wiedergegeben, ob die wirtschaftliche Entwicklung eher dem Zeichen V oder dem Zeichen L entsprechen wird, ob also ein baldiger Aufschwung zu erwarten oder ob mit einer länger anhaltenden Stagnation ("Nullwachstum") zu rechnen sei. Der "Boden", von dem so oft geredet wird, ist jedoch noch längst nicht erreicht und die gegenwärtige globale wirtschaftliche Situation gleicht dem eines freien Falls ohne Sicht auf die Erdoberfläche. Es dürfte also eher realistisch sein, für mehrere Jahre mit einer wirtschaftlichen Entwicklung zu rechnen, die durch das Zeichen \ ("Backslash") beschrieben werden kann - also dem an der Horizontalen gespiegelten Emblem der Deutschen Bank.

Sommer in Bremen DGB-Chef Sommer ließ dem leeren Gerede von Ende März ("Wir zahlen nicht für eure Krise"1) in seiner Rede in Bremen konkrete Forderungen folgen. An der "zentralen" Mai-Veranstaltung in Bremen beteiligten mit rund 5000 Leuten (Polizei: 3000) beschämend Wenige. Die Mainstream- Medien unterschlugen diese Zahl, während die relativ guten TeilnehmerInnen-Zahlen in anderen Städten häufig genannt wurden. Die Beteiligung an den 1.-Mai-Kundgebungen des DGB war mit insgesamt rund 480.000 gegenüber 460.000 im Jahr 2008 allerdings durchaus erfreulich.

Angesichts der Weltwirtschaftskrise forderte Sommer in Bremen nun eine "Zwangsanleihe für Reiche", um angeschlagene Unternehmen zu retten. "Die Verursacher müssen zahlen und auch mit ihrem Privatvermögen." Das Geld aus der verzinsbaren Anleihe solle in einen staatlichen Lastenausgleichsfonds fließen und für Bürgschaften und Beteiligungen verwendet werden. Wenn die Regierung bereit sei, einen dreistelligen Milliardenbetrag für "den Giftmüll" der Banken bereit zu stellen, müsse sie auch einen dreistelligen Milliardenbetrag für die Arbeit ausgeben können. Um die Wirtschaft anzukurbeln, forderte Sommer weitere Investitionen in Verkehr, Energienetze, Krankenhäuser, die Telekommunikation und in den Bildungsbereich. Allein für die Bildung seien mindestens 30 Milliarden Euro nötig. Darüber hinaus forderte Sommer die Bundesregierung auf, "sofort mit der Regulierung des Banken- und Investmentsektors Ernst zu machen" und noch bis zur Wahl entsprechende Gesetze zu verabschieden.

Sommer ist also immerhin so realistisch, anzunehmen, daß von der von Merkel und Co. Ende März in London angekündigten international abgestimmten Regulierung der Finanzmärkte nichts als heiße Luft bleiben wird, wenn die Bundestagswahl im Herbst - gleichgültig mit welchem Ergebnis - herum ist. Und vermutlich ist ihm zugleich klar, daß auch die Forderung des DGB nach einem "Rettungsschirm" in dreistelliger Milliarden-Höhe zur Erhaltung von Arbeitsplätzen solange illusionär ist, solange die im Deutschen Reichtag beschlossene Politik weiterhin vom Kapital bestimmt wird.

Gegenüber der völlig zahnlosen Parole "Wir zahlen nicht für eure Krise" weist die nun aufgestellte zentrale Forderung wenigstens darauf hin, daß es Alternativen zur gegenwärtig in allen Industrienationen exekutierten Politik gäbe - und gegen wen sich eine alternative Politik richten müßte. Doch solange der DGB die kapitalistische Wirtschaftsordnung nicht in Frage stellt, bleibt seine Forderung angesichts der realen Kräfteverhältnisse nicht mehr als ein frommer Wunsch. Gegenüber den bisherigen Äußerungen von Sommer und anderen führenden Gewerkschafts-Funktionären sind sie aber immerhin als positiver Schritt in die richtige Richtung zu werten. Die Diskussion über eine alternative Politik wird in breite Bevölkerungskreise getragen.

So darf denn nicht überraschen, wenn Schreiberlinge der Mainstream-Medien recht giftig darauf reagierten. Sommers zentrale Forderung wurde beispielsweise als "unverantwortliche Parole" gegeißelt. In den nach wie vor durchweg neoliberal orientierten Redaktionsstuben wird halsstarrig der Irrglaube gepflegt, mit den hunderte von Milliarden Euro teuren "Rettungsmaßnahmen" für die deutschen Banken könne die "Finanzkrise" eingedämmt und der "wirtschaftliche Totalabsturz verhindert" werden. Völlig ignorant blenden diese geistigen Wiederkäuer strikt jeglichen Hinweis darauf aus, daß die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise nicht etwa auf einer Banken-Krise beruht, sondern strukturelle Ursachen hat. Die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise kann nur als Überproduktionskrise begriffen werden. Doch eine solche Sichtweise würde das Dogma, daß der Kapitalismus nicht in Frage gestellt werden darf, verletzen.

Auf einer falschen Grundlage kommen neoliberal orientierte Schreiberlinge nun dennoch ("ex falso sequitur quodlibet") zum durchaus realistischen Schluß, daß die Forderungen des DGB "kein Politiker erfüllen kann". Die im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien sind durchweg fest in der Hand von Neoliberalen und OpportunistInnen. Die Linkspartei ist - durch die Blockadehaltung der "S"PD - zumindest mittelfristig von einer möglichen Einflußnahme auf Regierungskoalitionen ausgeschlossen. Das Gerede von Lafontaine, die Linkspartei "regiert längst mit", ist bestenfalls Selbsttäuschung. Denn auch wenn die ein oder andere Forderung der Linkspartei aufgegriffen (und als eigene Erfindung ausgegeben) wird, heißt dies noch lange nicht, daß den Worten vor der Wahl ausnahmsweise einmal Taten nach der Wahl folgen werden.

Regierungen in Deutschland sind - ob "schwarz-gelb", "rot-grün" oder "schwarz-rot" - seit den 80er Jahren mehr und mehr und mittlerweile nahezu ausschließlich von den Interessen des Kapitals bestimmt, während in den 60er und 70er Jahren noch ein gewisser Interessenausgleich zwischen Kapital und Arbeit in der Regierungspolitik zu erkennen war.

Wer also der durchaus realistischen Einschätzung zustimmt, daß Forderungen nach einer Politik zum Nutzen der unteren Zweidrittel dieser Gesellschaft "kein Politiker erfüllen kann", muß daraus den Schluß ziehen, daß eine solche Politik nur nach einem gesellschaftlichen Umsturz durchzusetzen ist. Die damit unmittelbar verknüpfte Frage "Was soll denn danach kommen?" führt meist dazu, daß solche Überlegungen mit einem Tabu belegt werden. Den Kopf in den Sand zu stecken, hat allerdings noch nie dabei geholfen, unliebsame Folgen zu verhindern. So wenig wie die unrealistische Einschätzung des französischen Königshauses dieses vor der französischen Revolution bewahren konnte, wird der unverbrüchliche Glaube an das Dogma von der Allmacht des Kapitalismus die heutigen Eliten vor ihrem Untergang schützen.

Nun haben die unteren Zweidrittel dieser Gesellschaft durchaus ein Recht darauf, sich Gedanken über ihre Zukunft zu machen. Denn bei einem Umsturz nach dem Vorbild der russischen Oktoberrevolution würde sich erneut eine kleine Minderheit an die Macht putschen, die die Interessen der Mehrheit mit Füßen tritt. Solange sich nicht die Mehrheit selbst organisiert, besteht die große Gefahr, daß eine selbsternannte "Avantgarde" in einer blutigen Revolution eine neue Diktatur errichtet. Eine wirklich demokratische Gesellschaftsordnung, in der auch die Wirtschaft dezentral und demokratisch gelenkt wird, kann nur mit Hilfe eines gewaltfreien Umsturzes erreicht werden.

So wie noch 1914 der Beginn des Ersten Weltkriegs mit einem Generalstreik in Deutschland hätte verhindert werden können, kann auch heute mit einem unbefristeten Generalstreik (nicht etwa mit eintägigen Generalstreiks wie in Frankreich) ein gesellschaftlicher Umsturz durchgesetzt werden. Die Bundesrepublik Deutschland hat abgewirtschaftet, denn der milliardenteure Rettungsschirm könnte tatsächlich nur auf dem Rücken der unteren Zweidrittel dieser Gesellschaft finanziert werden. Und für eine solche Politik wurde keine der heute im Bundestag vertretenen Parteien gewählt.

Um einen unbefristeten Generalstreik zu organisieren, bedarf es aber einer Organisation wie des DGB. Sicherlich ist kaum zu erwarten, daß die obere Funktionärsschicht des DGB sich in den Dienst eines gewaltfreien Umsturzes in Deutschland stellen wird. Diese zurecht als Gewerkschaftsbonzen bezeichneten Funktionäre sind nicht allein durch ihre Mitgliedschaft in Aufsichtsräten, sondern durch ihren gesamten Lebensstil und durch alles, was sie ein Leben lang gelernt haben, kaum in der Lage, innerhalb weniger Monate ihr gesamtes Weltbild umzukrempeln. Es steht jedoch realistisch betrachtet keine andere Organisationsform zur Verfügung, die in absehbarer Zeit die Rolle der im DGB zusammengefaßten Gewerkschaften übernehmen könnte. Nur der DGB kann einen Umsturz organisieren.

Also bleibt allein die Möglichkeit übrig, daß die Gewerkschaftsbasis zunächst innerhalb des DGB die Macht ergreift, um diesen zu einem Instrument einer eigenständigen Politik umzuformen und letztlich einen unbefristeten Generalstreik zu organisieren. Eine wichtige Voraussetzung, um diese Ziel zu erreichen, ist der Beitritt einer großen Zahl von Linken, die für die Perspektive einer gewaltfreien und demokratischen Umwandlung unserer Gesellschaft kämpfen wollen.

 

REGENBOGEN NACHRICHTEN

 

Anmerkungen

1 Siehe hierzu auch:

      Zehntausende protestieren gegen den G-20-Gipfel
      Motto von unfreiwilliger Komik (29.03.2009)

Siehe auch:

      Sozialabbau und Bildung für Eliten
      Der Kapitalismus zerstört seine eigenen Grundlagen (5.05.08)

      Sozialabbau und Niedriglohn-Sektor
      22 Prozent arbeiten in Deutschland für Niedriglöhne (28.04.08)

      Sozialabbau trifft Frauen härter
      Erklärung von NETZWERK REGENBOGEN
      zum Internationalen Frauentag (8.03.08)

      Wem gehört der Bundestag?
      (27.04.07)

      Demo gegen Sozialabbau in Berlin
      Optimismus ist nicht angesagt (3.06.06)

      Kapitalismus oder Demokratie?
      Erklärung von NETZWERK REGENBOGEN zum 1. Mai (1.05.05)

      Europaweite Solidarität
      Erklärung von NETZWERK REGENBOGEN zum 1. Mai (1.05.04)

      Solidarität gegen die Einschnitte
      Aufruf von NETZWERK REGENBOGEN zum 1. Mai (23.04.03)

      Solidarität mit den Metallern
      Aufruf von NETZWERK REGENBOGEN (30.04.02)

      Blühende Landschaften
      - die Fortsetzung einer Erfolgs-Story (16.04.01)

 

neuronales Netzwerk