Etwas stimmt nicht mit der Demokratie, wenn eine Industrie Leben und Gesundheit von Millionen bedroht - gegen deren mehrheitlich bekundeten Willen zu einem Atom-Ausstieg.
In anderen europäischen Ländern sind die Regierungen von der Bevölkerung gezwungen worden, sich - wie es in einer Demokratie zu erwarten wäre - nach dem Willen der Mehrheit zu richten: Norwegen, Dänemark und Portugal stiegen nicht in die kommerzielle Nutzung der Atomenergie ein. In Dänemark gab es in den 70er Jahren eine der stärksten europäischen Anti-Atom-Bewegungen. 1978 konnte die österreichische Bevölkerung noch während des Baus des ersten österreichischen Atomkraftwerks in Zwentendorf mit einer Volksabstimmung den Atom-Ausstieg gegen den Willen des damaligen SPÖ-Kanzlers Bruno Kreisky erzwingen. In Italien sprachen sich bei einer Volksabstimmung 1987 72 Prozent der ItalienerInnen für den Atom-Ausstieg aus. Drei Atomkraftwerke wurden noch 1987 stillgelegt und ein nahezu fertiggestelltes Atomkraftwerk wurde auf Gas-Öl-Betrieb umgerüstet.
Anders hingegen in Schweden: Dort wurde zwar bereits 1980 bei einer Volksabstimmung der Atom-Ausstieg beschlossen. Der schwedische Reichstag weichte diesen Beschluß alsbald jedoch wieder auf. Als bis 1997 immer noch keine Konsequenzen gezogen wurden, beschloß der schwedische Reichstag, einen der beiden Reaktoren des Atomkraftwerks Barsebäck bis zum 1. Juli 1998, den zweiten bis zum 1. Juli 2001 stillzulegen, hielt sich dabei jedoch ein Hintertürchen offen. Von 12 Reaktoren an 4 Standorten wurden bisher lediglich Basebäck 1 am 29.11.99 und Barsebäck 2 im Jahr 2005 stillgelegt. Auch ein früherer Beschluß über die Stillegung aller schwedischen Atomkraftwerke bis spätestens zum Jahr 2010 wurde aufgehoben.
Hat die deutsche Bundesregierung im Jahr 2000 den Atom-Ausstieg beschlossen?
Mit der als Atom-Ausstieg bezeichneten Vereinbarung zwischen "Rot-Grün" und den Energie-Konzernen wurden für jedes der 19 in Betrieb befindlichen deutschen Atomkraftwerke und für das wegen nachgewiesen unzureichendem Erdbebenschutz per Gerichtsentscheid stillgelegten AKW Mülheim-Kärlich - nicht etwa Restlaufzeiten, sondern - Reststrommengen festgelegt. Der zentrale Satz der Vereinbarung lautet: "Die Bundesregierung gewährleistet den ungestörten Betrieb der Kernkraftwerke wie auch deren Entsorgung." Die Betreiber von Atomkraftwerken wurde zugestanden, noch 2.623.300 Gigawattstunden Strom zu erzeugen. Dies ist ungefähr die Strommenge, die seit Inbetriebnahme des ersten Reaktors 1968 bis 2000 in deutschen Atomkraftwerken erzeugt wurde. Und dies bedeutete zugleich, daß den AKW-Betreibern eine Verdoppelung des bis zum Jahr 2000 aufgehäuften Berges an Atommüll zugestanden wurde. Die politischen Diskussionen orientierten sich während der Verhandlungen an den Restlaufzeiten. Im Vertrag selbst wurde jedoch kein Termin für die Abschaltung des letzten Atomkraftwerks festgeschrieben.
Atom-Konsens:
Die Reststrommengen der Atomkraftwerke in Deutschland
Legende:
(1) bisherige Laufzeit in Jahren (gerundet)
(2) produzierte Strommenge in Terawattstunden* seit Betriebsbeginn bis 31.12.1999
(3) Reststrommenge (gezählt ab 1.1.2000). Jeweils auf andere Kraftwerke übertragbar
* 1 Terawattstunde (TWh) = 1 Milliarde Kilowattstunden (KWh)
|
Inbetriebnahme
|
Name
|
(1)
|
(2)
|
(3) |
10/1968
|
Obrigheim
|
32
|
76,0
|
8,70
|
1/1972
|
Stade
|
29
|
134,0
|
23,18
|
8/1974
|
Biblis A
|
26
|
179,5
|
62,00
|
4/1976
|
Biblis B
|
24
|
177,5
|
81,46
|
6/1976
|
Neckar-1
|
24
|
137,5
|
57,35
|
6/1976
|
Brunsbüttel
|
24
|
87,6
|
47,67
|
12/1977
|
Isar-1
|
23
|
127,2
|
78,35
|
10/1978
|
Unterweser-1
|
22
|
193,3
|
117,98
|
5/1979
|
Philippsburg-1
|
21
|
119,3
|
87,14
|
12/1981
|
Grafenrheinfeld
|
18
|
174,4
|
150,03
|
9/1983
|
Krümmel
|
17
|
137,8
|
158,22
|
3/1984
|
Gundremmingen B
|
16
|
142,9
|
160,92
|
11/1984
|
Gundremmingen C
|
16
|
134,1
|
168,35
|
9/1984
|
Grohnde
|
16
|
169,4
|
200,90
|
12/1984
|
Philippsburg-2
|
16
|
159,7
|
198,61
|
10/1986
|
Brokdorf
|
14
|
137,3
|
217,88
|
1/1988
|
Isar-2
|
13
|
125,7
|
231,21
|
4/1988
|
Emsland
|
12
|
128,3
|
230,07
|
1/1989
|
Neckar-2
|
12
|
118,5
|
236,04
|
3/1986
|
Mülheim-Kärlich
|
2*
|
11,3
|
107,25
|
* davon 13 Monate Stromlieferung;
seit 1988 aus juristischen Gründen außer Betrieb
|
2670,3
bisher insgesamt produziert
|
2623,30
vereinbarte Reststrom-
menge
|
Tabellen-Daten gemäß dpa-Grafik 3329
Unter der hypothetischen Voraussetzung, daß die Atomkraftwerke ohne Unterbrechung in Betrieb wären, ergäbe sich eine Gesamtlaufzeit von über 32 Jahren. Die wirkliche Verfügbarkeit beträgt jedoch im Durchschnitt nur 78 Prozent, womit sich die Betriebsdauer auf mindestens 35 Jahre erhöht. Konzipiert sind die deutschen Atomkraftwerke jedoch nur für eine Betriebsdauer von 25 Jahren.
Diese Berechnungen lassen die Alterung der Reaktoren und damit deren sinkende Verfügbarkeit außer acht. Infolge immer häufigerer Abschaltungen streckt sich die "Rest"-Laufzeit in unbekannte Länge. Dieser Irrsinn bedeutet faktisch, daß die Reaktoren um so länger betrieben werden dürfen, je maroder sie werden, da die Stillstandszeiten den Zeitpunkt des Abschaltens entsprechend hinauszögern. Den Betreiberfirmen bleibt es zudem freigestellt, die Strommengen von alten auf neue Meiler zu übertragen. Im Falle des AKW Obrigheim (Baujahr 1968), das entsprechend der veröffentlichten Vereinbarung im Oktober 2002 stillgelegt hätte werden sollen, kam es unter Berufung auf angebliche Geheimabsprachen zu einer Übertragung von neu auf alt und damit zu einer Laufzeitverlängerung bis 2005. Es wurde am 11. Mai 2005 nach knapp 37 Jahren Betriebszeit stillgelegt.
Die wirtschaftliche Lebensdauer von Atomkraftwerken war bisher wesentlich geringer als im Konsens vereinbart. So wurde das AKW Würgassen 1995 nach 20 Jahren Laufzeit abgeschaltet, weil sich der Weiterbetrieb nicht mehr rechnete. Auch der neu vereinbarte "Verzicht" auf den Neubau von Atomkraftwerken ist kein Erfolg der im Jahr 2000 geschlossenen Vereinbarung. Seit der Reaktor-Katastrophe in Tschernobyl 1986 sind keine neuen Atomkraftwerke in Deutschland beantragt worden. (Und 1989 ging mit Block 2 des AKW Neckarwestheim der letzte vor 1986 beantragte Reaktor ans Netz.)
Im November 2003 feierte Atom-Minister Trittin mit viel Medien-Getöse und Sekt-Empfang die Stilllegung der AKW Stade als Realisierung des Atom-Ausstiegs. Tatsächlich hatte die Betreiber-Firma HEW - inzwischen im Energie-Konzern Vattenfall aufgegangen - bereits vor der Regierungsübernahme von "Rot-Grün" 1998 das AKW Stade in internen Beurteilungen als unwirtschaftlich bezeichnet. Eine Stilllegung und der Ersatz durch ein modernes Gaskraftwerk hätte HEW einen Kostenvorteil eingebracht. Daß diese Stilllegung dennoch nicht erfolgte, hatte allein den Grund, daß die Energie-Konzerne auf diese Weise eine defensive Position vermeiden konnten.
Suggestiv wurde die Stilllegung des AKW Stade mit Hinweis auf das AKW Mülheim-Kärlich gar als "zweiter Schritt" des phänomenalen Atom-Ausstiegs dargestellt. Doch auch die Stilllegung des 13 Monate Strom liefernden und per Gerichtsbeschluß 1988 - zehn Jahre vor dem Start der "rot-grünen" Bundesregierung - gestoppten AKW Mülheim-Kärlich kann nicht ernstlich als Erfolg des "rot-grünen" Atomkonsenses bezeichnet werden.
Betrachten wir beispielsweise die "Pannen"-Serie des AKW Gundremmigen im Jahr 2004. So war etwa am 13. August, erst acht Tage verspätet, von der offiziellen Homepage des AKW Gundremmingen zu erfahren, daß Block C des AKWs bereits am 5. August abgeschaltet worden war - nachdem er bereits mehrmals in den Monaten zuvor hatte abgeschaltet werden müssen. Allein in den Monaten Juli und August waren sechs meldepflichtige "Pannen" zu verzeichnen. Die beiden seit 1984 im Betrieb befindlichen Reaktorblöcke B und C, beides Siedewasser-Reaktoren mit einer Leistung von 1.244 MW, zeigen in ihrem zwanzigsten Betriebsjahr deutliche Alterungserscheinungen.
Um die "Rest"-Laufzeiten für beiden Blöcke B und C der AKW Gundremmingen abzuschätzen, müssen wir die bisherige jährliche Stromproduktion in die Zukunft fortrechnen. Block B hatte bis zum Stichtag 31.12.1999 in 16 Betriebsjahren insgesamt 142,9 TWh (Terawattstunden) Strom produziert. Als "Atom-Ausstieg" wurde eine "Rest"-Strommenge von 160,92 TWh für den Zeitraum ab 1.01.2000 vereinbart. Bei GLEICHBLEIBENDER Verfügbarkeit des Reaktors ergibt sich hieraus rein rechnerisch eine "Rest"-Laufzeit von 18 Jahren - also eine Gesamt-Laufzeit von 34 Jahren, die bis 2019 reichen würde.
Block C hatte bis zum Stichtag 31.12.1999 in 16 Betriebsjahren insgesamt 134,1 TWh Strom produziert. Als "Atom-Ausstieg" wurde eine "Rest"-Strommenge von 168,35 TWh ab 1.01.2000 definiert. Bei GLEICHBLEIBENDER Verfügbarkeit des Reaktors ergibt sich hieraus rein rechnerisch eine "Rest"-Laufzeit von 20 Jahren - also eine Gesamt-Laufzeit von 36 Jahren, die bis 2021 reichen würde.
Diese Vertrags-Vereinbarungen werden der deutschen Öffentlichkeit mit nahezu uneingeschränkter Unterstützung der Mainstream-Medien als "Atom-Ausstieg" präsentiert.
Der Atom-Kritiker und Besteller-Autor Holger Strohm kommentiert dies so: "(...) Dabei waren Atomkraftwerke anfangs nur für 25 Jahre Betrieb ausgelegt. Seit über einem Jahrzehnt ist kein neues Atomkraftwerk mehr ans Netz gegangen. Das heißt, die Atomkraftwerke laufen länger als ursprünglich geplant, und das wird uns als Ausstieg verkauft. Wir werden arglistig getäuscht!"1
Wilhelm Simson, Vorstandsvorsitzender des VIAG-Konzerns, der an den Konsens-Gesprächen mit der Bundesregierung beteiligt war, sagte allerdings bereits im Jahr 2000 ganz offen, mit der Vereinbarung von Regierung und Atom-Industrie sei das "Ende der Kernkraft keineswegs besiegelt". Nicht der Atom-Ausstieg sei beschlossen worden, sondern "nur eine Laufzeitbegrenzung der existierenden Kraftwerke".
Und als bemerkenswerte Ausnahme im Einheits-Konzert der deutschen Medien, die den "Atom-Ausstieg" als Erfolg der Regierung feierten, schrieb W. Mauersberg, "Kernenergie-Befürworter" und Chefredakteur der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung, (HAZ) in einem Kommentar am 16.06.2000:
Falsches Etikett
In der Politik gibt es manchmal merkwürdige Signale. Sie zeigen das Gegenteil von dem an, was wirklich passiert. So verhält es sich auch mit dem so genannten Atomkonsens. Von freiwilliger Übereinkunft kann keine Rede sein. Die beiden Vertragspartner hatten einander erpreßt: Die Koalition von SPD und Grünen drohte mit einem Gesetz gegen Atomkraftwerke, und die Stromkonzerne drohten mit Klagen auf Entschädigung. Am Ende haben sich die Konzerne auf ganzer Linie gegen die rot-grüne Bundesregierung durchgesetzt.
Wenn die grüne nordrhein-westfälische Umweltministerin Bärbel Höhn sich für zufrieden erklärt, weil der Ausstieg nun wirklich in die Tat umgesetzt werde, dann ist das lediglich die Schutzbehauptung eines Verlierers. Es gibt keinen Ausstieg aus der Kernenergie. Die Nutzung der umstrittenen Energiequelle ist vielmehr auf Jahrzehnte festgeschrieben. Längere Laufzeiten als die jetzt vereinbarten hätte die Energiewirtschaft auch ohne "Konsens" nicht einkalkuliert, und seit Jahren ist kein neuer Atommeiler geplant und beantragt worden.
Regierung beurkundet Sicherheit
Mit den Stimmen der grünen Minister hat die Regierung zugesichert, daß sie alles in ihren Kräften Stehende tun werde, um den ungestörten Betrieb der Kraftwerke zu gewährleisten. Weil der Bund in der Atompolitik das letzte, entscheidende Wort hat, kann er die Bundesländer anweisen, entsprechend zu verfahren. Dazu ist er jetzt nach dem Vertrag sogar verpflichtet.
Nebenbei hat die rot-grüne Bundesregierung beurkundet, daß sie den Betrieb der Kraftwerke für verantwortbar und sicher hält, so daß keine wesentlichen neuen Sicherheitsvorkehrungen benötigt werden. Wenn die deutschen Kernkraftwerke so sicher sind, daß sie ohne Probleme noch Jahrzehnte betrieben werden können, leuchtet jedoch nicht ein, weshalb Deutschland in Zukunft überhaupt auf Kernenergie verzichten soll. Die Antwort auf diese Frage ist wohl nur noch mit Rechthaberei und Ideologie zu erklären.
Aus Sicht der Konzerne stimmt das Preis-Leistungs-Verhältnis. Außer verbalen Zugeständnissen, die sie außerdem noch mit einem Vorbehalt versehen haben, mußten sie auf so gut wie gar nichts verzichten, dürfen sogar ihre immensen Geldrücklagen behalten. Dafür, daß sie ihre Unterschrift unter ein Papier mit der Überschrift "Ausstieg" gesetzt haben, bekommen sie von der Regierung ein umfassendes Leistungspaket, das Roten und Grünen noch viel Ärger mit ihren eigenen Anhängern einbringen wird. Denn die werden sich von dem merkwürdigen Produkt nicht täuschen lassen, bei dem außen auf der Packung "Ausstieg" steht und innen ein ungestörter Weiterbetrieb der Atomenergie enthalten ist. (...)