30.06.2009

Bundesverfassungsgericht:
Ja, aber
zum Lissabon-Vertrag

(der neuaufgelegten europäischen Verfassung)

Vetorecht für Deutschland durch die Hintertür

Der neoliberale, demokratiefeindliche und militaristische Lissabon-Vertrag wurde heute vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Karlsruhe als mit dem deutschen Grundgesetz vereinbar erklärt. Eine kleine Hüde vor dessen Unterzeichnung hat das BVerfG jedoch aufgerichtet: Das im Zusammenhang mit dem Lissabon-Vertrag stehende Ratifizierungsgesetz, in dem angeblich die Rechte von Bundestag und Bundesrat gestärkt werden sollten, sei verfassungswidrig. Realsatirisch war dieses Ratifizierungsgesetz als "Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates" bezeichnet worden. Mit dem neuen Ratifizierungsgesetz soll nun nach dem Willen der BVerfG-RichterInnen ein Vetorecht für Deutschland durch die Hintertür eingeführt werden.

Die Bundesregierung wird nun versuchen, mit Hilfe von Sondersitzungen in der parlamentarischen Sommerpause das Ratifizierungsgesetz entsprechend den Vorgaben des BVerfG neu zu fassen. Bundespräsident Horst Köhler darf also das von Bundestag und Bundesrat bereits 2008 verabschiedete verfassungswidrige Ratifizierungsgesetz nicht unterschreiben, sondern muß auf eine grundgesetzkonforme Neufassung warten.

Nach dem Scheitern der EU-Verfassung bei Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden im Jahr 2005 wurde diese nur unwesentlich verändert als Lissabon-Vertrag neu aufgelegt. Dennoch erlitt das neoliberale Projekt auch beim Referendum 2008 in Irland Schiffbruch. Die europäischen "Eliten" zogen daraus keine Konsequenzen und gaben ihre demokratiefeinlichen Pläne keineswegs auf. Die irischen WählerInnen sollen nach einigen rein kosmetischen Veränderungen nochmals zur Urne gebeten werden und in allen anderen 26 EU-Staaten soll die Zustimmung der Parlamente ausreichen.

Laut BVerfG sind die entsprechend dem deutschen Ratifizierungsgesetz vorgesehenen sogenannten Vorrats-Beschlüsse nicht verfassungskonform und so wird die Bundesregierung etwa bei europäischen Militäreinsätzen eine gesonderte Zustimmung des Bundestages einholen müssen. Im Lissabon-Vertrag ist jedoch vorgesehen, daß einzelne EU-Staaten kein Veto mehr gegen Entscheidungen des EU-Ministerrats einlegen können, sondern daß mit gewissen "qualifizierten" Mehrheiten entschieden werden soll. Die deutsche Bundesregierung wird nun mit Hilfe des Ratifizierungsvertrages festlegen, daß der Bundestag in wichtigen Politik-Bereichen wie Krieg, Strafrecht und Polizei, Einnahmen und Ausgaben, Bildung, Medien und Religion gegenüber EU-Beschlüssen das letzte Wort behält. Dies bedeutet nichts anderes als die Festlegung eines Veto-Rechts durch die Hintertür. Es ist daher zu erwarten, daß auch andere EU-Staaten in Zukunft keine "qualifizierten" Mehrheitsentscheidungen auf EU-Ebene akzeptieren werden, die eigenen Interessen widersprechen.

Eine gewisse Schlitzohrigkeit ist dem deutschen BVerfG nicht abzusprechen. Indem es die Bestimmung des Lissabon-Vertrages, daß im EU-Ministerrat das Votum einzelner EU-Staaten überstimt werden kann, akzeptiert, erklärt es indirekt: Wenn andere Staaten sich durch diese Regelung übertölpeln lassen, muß dies Deutschland nicht interessieren. Ob das verdeckte deutsche Vetorecht allerdings in der Praxis letztlich funktioniert, wird sich erst noch erweisen müssen. Denn entweder wird in Zukunft hinter den Kulissen vorher ausgemauschelt, daß nur solche EU-Vorhaben mit "qualifizierter" Mehrheit durchgedrückt werden, denen auch der deutsche Bundestag rechtzeitig und mit hoher Wahrscheinlichkeit zustimmen wird - oder es kommt zum Eklat. Der Fall, daß der EU-Ministerrat eine mehrheitliche Entscheidung trifft, die der Deutsche Bundestag ablehnt, ist nicht vorgesehen.

Konkret wird dies beispielsweise im Falle der "Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit" nach Protokoll 10 des Lissabon-Vertrags. Dort ist von Militäreinsätzen der 'EU-Battle-Groups' innerhalb von fünf bis 30 Tagen die Rede. Solche Einsätze wären nach dem aktuellen BVerfG-Urteil praktisch kaum durchführbar, denn der Deutsche Bundestag müßte jedes Mal erst einberufen werden, um aktiv - nicht per Stillschweigen - zuzustimmen. Es müßte also eine Regelung getroffen werden, den Bundestag notfalls auch in der Sommerpause kurzfristig einberufen zu können.

Die ausführliche und erstmalige Beschreibung von wesentlichen Staatsaufgaben im BVerfG-Urteil, die der deutschen Legislative und Exekutive vorbehalten bleiben müssen, ist beachtlich. Festgelegt wird zudem, daß die Deutschen zuvor befragt werden müssen, bevor ein europäischer Bundesstaat gegründet werden kann. Einem schleichenden Übergang - wie mit EU-Verfassung und Lissabon-Vertrag vorgezeichnet - ist damit ein Riegel vorgeschoben. In der BVerfG-Entscheidung findet sich zudem der Hinweis, daß eine neue europäische Verfassung, in der dann Deutschland nur noch ein Glied eines europäischen Staates wäre, das deutsche Grundgesetz ablösen kann. Einen solchen Verzicht auf die eigene staatliche Souveränität könnte aber nur unmittelbar das deutsche Volk leisten. Den Vorwurf, "europafeindlich" zu sein, den die PropagandistInnen des Lissabon-Vertrages allen KritikerInnen entgegenschleuderten, werden sie also dem BVerfG nur schwerlich machen können.

Befriedigt stellten die unterlegenen Kläger, Gregor Gysi für die Linkspartei und der eigensinnige CSU-Abgeordnete Peter Gauweiler, fest, daß das BVerfG-Urteil mit seiner Formulierung, es habe die Gefahr einer "Aushöhlung des demokratischen Herrschaftssystem in Deutschland" gedroht, der Mehrheit im Bundestag eine "schallende Ohrfeige" versetzt habe. Tatsächlich jedoch hat das BVerfG mit seinem aktuellen Urteil dem weiteren Ausbau der Festung Europa in einen neoliberalen, demokratiefeindlichen und militaristischen Super-Staat keinen entscheidenden Widerstand geleistet.

 

REGENBOGEN NACHRICHTEN

 

Anmerkungen

Siehe auch unsere Artikel

      "Europawahl": Sieg der NichtwählerInnen
      Erfolg für das demokratische Europa (8.06.09)

      Euratom
      Sicheres und friedliches Europa oder Atom-Supermacht? (22.04.08)

      Festung Europa:
      Mehr als 300 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken (31.03.09)

      Europa und die Linkspartei
      Warum die Journaille vor Wut schäumt (28.02.09)

      Festung Europa
      Menschenverachtende Politik gegen Flüchtlinge (20.06.08)

      Irland rettet Europas Zukunft
      Mainstream-Medien melden "Scherbenhaufen" (13.06.08)

      EU-Reformvertrag
      Wohin die Reise gehen soll (19.05.08)

      Bundestag nickt EU-Reformvertrag ab
      Wer hat wie abgestimmt? (24.04.08)

      Frontex und die toten Flüchtlinge
      Immer mehr Leichen im Mittelmeer (25.12.07)

      Weltmacht Europa auf dem Weg
      in weltweite Kriege (17.01.07)

      Bedankt, geachte vrienden!
      Zweiter Sieg für Demokratie in Europa (2.06.05)

      'Merci, chers amis!'
      Ein großer Sieg für die europäische Demokratie (30.05.05)

      'Medien-Propaganda pro EU-Verfassung' (21.05.05)

      'Nein zur EU-Verfassung!'
      Aufruf zur Demo am 19. März in Brüssel (16.03.05)

      'Nein zur EU-Verfassung!'
      Erklärung des 3. Friedenspolitischen Kongresses in Hannover
      (5.09.04)

      'Atomenergie, Atomwaffen und Militarisierung besiegelt' (19.06.04)

      'EURATOM und EU-Verfassung' (11.06.04)

      'Neue Atommacht EU?' (24.04.04)

      'EU-Verfassung vorerst gescheitert' (19.12.03)

      'Zur Ausrufung einer europäischen Verfassung' (14.06.03)

 

neuronales Netzwerk