5.10.2006

Interview

Sie sagten, du bist von al Qaida,
und wenn ich nein sagte,
schlugen sie zu

Interview mit Murat Kurnaz im 'stern' 41/06 (5.10.06)

 

Was bedeutet Guantánamo für Sie?

Das ist ein Ort auf einer Karibikinsel. Der US-Stützpunkt ist das Problem, das Lager. Nicht Guantánamo, nicht die Natur und nicht die Tiere. Iguanas, so nannten wir die großen Geckos, haben uns besucht, da konnten die Amerikaner machen, was sie wollten. Die Iguanas kamen zu den Essenszeiten, die haben sie sofort gelernt, und ich habe sie manchmal gefüttert, obwohl das verboten war. Dann wurde ich halt bestraft, mußte in die Isolationszelle.

Isolationshaft? Wie lange denn?

Zehn Tage.

Dafür?

Das ist eine leichte Strafe. Weniger als zehn Tage gibt's nicht.

Was sind dann schwere Strafen?

Einmal kam ich für drei Monate und fünf Tage in die Isolationszelle, weil mein Vernehmer mit meiner Aussage nicht zufrieden war. Oft gab es Strafen, für die kein Grund zu erkennen war. Guantánamo ist ein Ort ohne Gesetze, dafür wurde es geschaffen.

Ist auch mal einer der Eingreiftrupps in Ihre Zelle gekommen?

Einmal? Wenn du gefesselt werden sollst, aber deine Hände nicht gleich hinhältst, oder wenn du vielleicht am Schlafen bist, stürmen sie in deine Zelle. Bis zu acht Mann, weitere stehen vor der Tür, Schilde, Stiefel bis über die Knie, Handschuhe, Helme, stich- und kugelsichere Westen.

Und dann, wie läuft so ein Einsatz ab?

Ich wurde mal beschuldigt, ich hätte meinen Plastiklöffel nach dem Essen nicht abgegeben. Ich sagte: "Kommt rein, seht nach, ich habe keinen Löffel." Nein, sagten sie, wahrscheinlich hast du ihn scharf gemacht und hast jetzt eine Waffe. Ich bot an, meine Hände durch die Essensklappe zu stecken, damit sie mir Fesseln anlegen konnten, aber das lehnten sie ab. Stattdessen kam der Trupp. Zuerst sprühten sie Pfefferspray in die Zelle. Dann wird das Wasser abgestellt im ganzen Block, damit auch keiner aus einem Nachbarkäfig dir etwas geben kann, um die Augen auszuwaschen. Sie warten fünf bis zehn Minuten, bis du nichts mehr siehst, dann kommen sie rein, springen auf dich, du wirst zu Boden geworfen, geschlagen und getreten, Füße werden gefesselt, Hände auf den Rücken gebunden. Dann kommst du für 30 Tage in Isolationshaft.

Was hatten Sie in dieser Situation empfunden? Hatten Sie Todesangst?

Ich habe gelernt, daß Schmerzen ein Teil des Lebens sind.

Was haben Sie so lange allein in der Zelle gemacht?

Man ist schon etwas beschäftigt. In der Isolationshaft wird man mit Kälte bestraft. Dann setzt man sich in die Ecke, versucht, dem Strom der Kaltluft auszuweichen. Man muß sich bewegen, vor allem die Finger. Aber nicht zu viel, man bekommt ja nur drei Scheiben Toast am Tag, mit ein paar Gurken und Tomaten. Oder man wird mit Hitze bestraft, dann ist es am besten an der Tür. Am schlimmsten ist es, wenn die Lüftung ganz abgeschaltet wird. Dann muß man sich hinlegen, sonst kippt man um.

Und woran haben Sie dann gedacht?

Ans Essen, an die nächste Scheibe Toast. Man denkt auch viel übers Leben nach, über Dinge, die man früher hatte, aber nie beachtete. Socken zum Beispiel. Warme Socken, wie wunderbar die sind in der Kälte. Und ich habe an den Propheten Joseph gedacht, den haben seine Brüder aus Neid in einen Brunnen geworfen, ihn als Sklaven verkauft und mit falschen Beschuldigungen ins Gefängnis gebracht. Ihn habe ich mir zum Vorbild genommen, er war zwölf Jahre unschuldig in Haft.

In welchem Camp sind die Isolationszellen?

Für die Gefangenen in Camp X-Ray waren sie auf Schiffen des Stützpunkts. Später hatte jeder Block in jedem Camp Isolationszellen, von Camp 1 bis Camp 4. Camp Echo und Camp 5 bestehen nur aus Isolationszellen. Ich bin in allen Camps gewesen, habe keines ausgelassen.

Weshalb tragen Sie diesen mächtigen Bart?

Der einzige Grund ist die Sunna.

Die Sunna, das ist die Überlieferung vom Leben Mohammeds.

All dem, was unser Prophet getan hat, sollen wir Muslime nacheifern. Viele Propheten haben einen Bart getragen, auch Prophet Jesus.

Wurden Ihnen während der Gefangenschaft Bart und Haare geschnitten?

Ja, zweimal, in Kandahar.

Was bedeutet es für einen Muslim, rasiert zu werden?

Der Bart ist ein Symbol des Glaubens. Ich habe einen alten Mann gesehen, er war 80, dem wurde in Kandahar sein weißer Bart rasiert. Er fing an zu weinen.

Durften die Gefangenen in Guantánamo Bart und Haare wachsen lassen?

Nicht alle. Manche wurden zur Strafe rasiert.

Warum Sie nicht?

Ich weiß es nicht. Die Amerikaner stellten uns als Terroristen dar. Jeden einzelnen von uns, ohne Prozeß, ohne Beweise. Da paßten lange Bärte den Militärkameraleuten gut ins Bild: "Seht, sie lassen sich die Haare wachsen, weil sie Osama lieben." Wer sich auskennt, weiß, daß wir seit 1400 Jahren Bärte tragen, da gab's noch keinen Osama.

Sind Sie in Guantánamo noch gläubiger geworden?

Das kann ich nicht sagen. Ich bin immer noch derselbe wie vorher. Aber den Koran kann ich jetzt auf Arabisch lesen.

Sie haben Arabisch gelernt?

Und Usbekisch. Und richtig Englisch.

Wissen Sie, wie viele Tage Sie gefangen waren?

Nein, das habe ich nie ausgerechnet, aber man hat mir gesagt, es waren 1663 Tage in Guantánamo, davor 62 Tage in Pakistan und in Afghanistan.

Weshalb sind Sie im Herbst 2001 ausgerechnet in diese Länder gereist?

Ich bin nicht nach Afghanistan gereist, nur nach Pakistan.

Und weshalb?

Dort wollte ich mehr über meinen Glauben lernen, das war schon länger mein Plan.

Die Anschläge vom 11. September hatten Sie mitbekommen?

Natürlich. Ich war in der Schule, da hieß es, in New York seien Flugzeuge abgestürzt. Zu Hause sagte meine Mutter, guck mal im Fernsehen, ein Erdbeben in Amerika. Nach zehn Minuten habe ich begriffen, daß das ein Angriff war. Meine erste Vermutung: Das waren die Japaner, aus Rache oder so. Von al Qaida hatte ich noch nie gehört.

Empfanden Sie so etwas wie klammheimliche Freude, daß gegen die verhaßten Amerikaner ein spektakulärer Schlag gelungen war?

Ich sah das als großes Unglück. Ich wußte nicht mal, daß das World Trade Center ein Symbol sein sollte, ich dachte, da wurden die Familien getötet, die darin wohnten. Bis zu meinem 19. Lebensjahr hatte ich nie mit Nachrichten zu tun gehabt oder mit Politik.

Aber Sie wollten nach Pakistan?

Ich war, wie soll ich sagen, nachdenklich geworden. Ich hatte als Jugendlicher wilde Zeiten, mit viel Party und so. Ich habe viel trainiert. Erst Judo, dann Karate, Kickboxen und Boxen. An den Wochenenden habe ich neben meiner Schiffbauerlehre gutes Geld verdient, bei Discos und Konzerten, als Türsteher oder Bodyguard. Viele Frauen stehen auf so was. Aber das war immer nur für ein paar Wochen oder Monate, nie zum Heiraten, das hat nie geklappt. Und meine Freunde aus Kindertagen wurden immer weniger, sie nahmen Drogen, wurden kriminell, wurden abgeschoben.

Und da kam ein Imam und hat Sie auf den rechten Weg gebracht?

Nein, ich bin schon selber darauf gekommen, daß mein Glauben all das bietet, was ich suchte. Aber ich wußte so vieles nicht, nicht einmal, wie man richtig betet.

Sie gingen in die Moschee.

Ja, aber da kann man nur mitbeten. Man lernt nichts.

Warum gingen Sie in die Bremer Abu-Bakr-Moschee, die vom Verfassungsschutz beobachtet wurde?

Davon wußte ich nichts. Auf dem Heimweg von der Schule konnte ich da zum Freitagsgebet gehen.

Und dort haben Sie Mitglieder von Tabligh-i-Jamaat kennengelernt?

Die waren freundlich und hilfsbereit.

Was haben die gepredigt?

Die haben viel von der Schule in Pakistan erzählt, dem Mansura-Center bei Lahore, in einem Naturgebiet ohne Autos, wo man den Islam studieren kann, ohne Ablenkung und nicht wie bei ihren Seminaren in Deutschland nur am Freitag, Samstag, Sonntag. Eine perfekte Schule. Da habe ich mir in den Kopf gesetzt, daß ich da hin will.

Und das mußte kurz nach Nine-Eleven sein?

Ich dachte nicht, daß es Krieg geben würde, sondern, daß die Amerikaner höchstens Sondereinsatzkommandos nach Afghanistan schicken würden. Außerdem hatte ich im Sommer in der Türkei geheiratet. Im Dezember sollte meine Frau ein Visum für Deutschland bekommen. Zwei Monate dauert so ein Islamstudium an der Schule in Pakistan, das wollte ich bis dahin durchziehen.

Wußten Ihre Eltern davon?

Nein, sie hätten versucht, mich zurückzuhalten. In der Nacht vor dem Flug habe ich meine Mutter geweckt. Ich sagte, ich hätte Rückenschmerzen, und bat sie, mich zu massieren. Dann hätte ich sie zum Dank umarmen können, so wollte ich mich verabschieden. Aber sie sagte: "Es ist mitten in der Nacht, laß uns das morgen früh tun."

Da waren Sie schon weg?

Ja, aber von Frankfurt aus habe ich angerufen, bevor ich in den Flieger stieg.

Und wie war Pakistan?

Ich wußte, daß es dort warm ist. Ich dachte, so wie in der Türkei. Ich hatte eine dicke Jacke an und einen Pullover. Aber es war heiß, selbst mitten in der Nacht. Und als ich in Karachi ankam, habe ich gesehen, daß ich am Meer war. Da dachte ich, daß ich die Schule noch etwas verschieben kann, und bin mit dem Taxi in der Stadt rumgefahren, das ist dort extrem billig. Und der Fahrer hat mir dann eine Unterkunft besorgt.

Wann kamen Sie in der Islamschule an?

Das weiß ich nicht mehr genau. Ich bin in Pakistan umhergereist. Das hat mir gut gefallen, auf den Märkten gibt es Gaukler und Schlangenbeschwörer. Kung Fu ist sehr populär, die Schulen machen Shows draußen, mit Saltos, Schwerterwerfen. Als ich in Lahore zu der Schule kam, führte man mich in einen Raum zum Ausruhen. In der Nacht wurde wohl Afghanistan bombardiert. Als ich am nächsten Mittag ins Schulbüro kam, wollten sie keine fremden Schüler mehr. Vielleicht haben sie um meine Sicherheit gefürchtet, es gab in Pakistan gleich viele Demos gegen die Amerikaner, und ich sah mit meinen kurzen Haaren und der hellen Haut sehr westlich aus. Ich war total enttäuscht.

Also Urlaub oder Abreise?

Es gibt auch Gruppen, die von Moschee zu Moschee ziehen, bei denen man fast so gut lernen kann wie in der Schule. Ich lernte jemanden kennen, Mohammed, der sprach Englisch, der kannte solche Gruppen. Mit dem bin ich mitgegangen.

Wohin? Nach Afghanistan?

Nein. In welche Städte wir kamen, weiß ich nicht genau. Aber eine Grenze haben wir mit Sicherheit nicht passiert.

Wie kam es zu Ihrer Verhaftung am 1. Dezember 2001?

Wir waren in Peshawar. Ich hatte schon Souvenirs für die Heimreise gekauft. Auf dem Weg zum Flughafen wurde ich an einem Checkpoint aus dem Bus geholt. Ich dachte nicht, daß ich verhaftet sei, ich dachte, das klärt sich alles. Ich wurde ins Polizeirevier gebracht, dann in eine Villa, dann zu einem Gefängnis. Überall stellte man mir dämliche Fragen: ob ich Kameramann sei, ob ich von der Polizei sei. Und immer hieß es, "no problem, wir fahren dich morgen zum Flughafen".

Und stattdessen?

Am nächsten Morgen bekam ich einen Sack über den Kopf, mir wurden Handschellen angelegt. Wir fuhren einige Stunden zu einem sehr ruhigen Ort, man hörte keine Autos, keine Stimmen. Viele Metalltüren wurden nacheinander geöffnet. Als ich wieder sehen konnte, war ich in einem Raum ohne Fenster, ohne Toilette, nur ganz oben ein Loch, durch das Licht fiel, von einer Lampe, die man nicht sah.

Was war das für ein Gefühl? Angst?

Es war mehr Wut, ohnmächtige Wut. Nach Stunden kam ein Pakistaner, stellte ein paar Fragen, versprach, ich dürfe telefonieren, sagte, man würde mich in die Türkei schicken. Ich habe protestiert, ich wollte nach Deutschland.

Sie waren offenbar verhaftet worden, die Amerikaner zahlten für Terrorverdächtige ein Kopfgeld. Wußten Sie davon?

Erst viel später. Ein Vernehmer in Guantánamo beschwerte sich mal, daß ich keine neuen Informationen lieferte, sondern immer das Gleiche aussagte. "Sie haben sich wohl mehr erwartet für die 5000 Dollar", sagte ich zu ihm. "3000", antwortete er. "Wir haben nur 3000 für dich bezahlt."

Wie ging es in Pakistan weiter?

Natürlich durfte ich nicht telefonieren. Etwa zehn Tage war ich in der Zelle. Dann kamen die wieder mit dem Kartoffelsack. Nach langer Autofahrt ging es viele Treppen hinunter zu Zellen voller Ungeziefer. Dort war ich auch etwa zehn Tage. Häftlinge aus Kuwait und Bahrain, die Englisch sprachen, sagten mir, daß sie von den Amerikanern als Terrorverdächtige verhört wurden.

Von der Türkei war keine Rede mehr?

Doch, wir mußten blaue Overalls anziehen, für den "Heimflug", bekamen Ohrenschützer und Augenmasken, wurden am Boden des Flugzeugs gefesselt. Noch in der Luft fingen die Wachsoldaten an, uns zu treten und zu schlagen.

Sie wurden in ein US-Lager nach Kandahar in Afghanistan geschafft. Wie sah das aus?

Ein Platz am Flughafen. Aufgeteilt in Gruppen von 10, 20 Mann, lagen wir hinter Rollen von Stacheldraht im Freien.

Das muß kurz vor Weihnachten gewesen sein.

Es war sehr kalt. Die erste Nacht waren wir nackt., die Overalls hatten sie uns weggenommen, und wir trugen ja nichts darunter. Das Wachpersonal hatte Deutsche und Belgische Schäferhunde, die ließen sie hin und wieder auf uns los. Am Morgen bekamen wir neue Overalls, wieder nichts drunter, nichts drüber. Nur kurze Zeit hatten wir mal Decken. Aber wir lagen weiter im Freien, mein Atem gefror an meiner Kleidung.

Gab es niemanden, der sich für Sie einsetzte?

Nach ein paar Tagen kam einer vom Roten Kreuz. Er war aus Deutschland, lange Haare, Schnurrbart, Brille. Er hat für mich einen Brief an meine Familie geschrieben. Noch in der Nacht wurde ich aus der Zelle geholt. Ein Wächter hielt mir eine Pumpgun an den Kopf. "Sie sind Terrorist, was schreiben Sie da für dummes Zeug über Ihre Behandlung?", schrie er. Ich war an Händen und Füßen gefesselt, jemand trat mich von hinten, ich stürzte, der Vernehmer zog mich an den Haaren wieder hoch.

Liefen Verhöre häufig so ab?

Sie sagten: "Du bist von al Qaida", und wenn ich "nein" sagte, schlugen sie zu, mit der Hand ins Gesicht, auf den Kopf, traten mir in den Rücken. Aber in Kandahar erfuhr ich wenigstens, was mir vorgeworfen wurde: Mein Visum sei gefälscht, und ich sei ein Freund von Mohammed Atta, dem Terrorpiloten. Sie fragten, wo Osama sei, wo ich ihn gesehen hätte. Sie behaupteten, sie wüßten schon alles, ich sollte aussagen, um meine Lage zu verbessern.

Hatten die wirklich Informationen über Sie?

Sie wußten eine Menge, zum Beispiel, daß ich vor der Reise meine Digitalkamera und mein Handy verkauft hatte und an wen. Ich hatte keinen Zweifel, daß die mit deutschen Behörden zusammenarbeiteten.

Kamen Deutsche ins Lager?

Ich war noch keine zwei Wochen dort, da wurde ich abends hinter zwei Lastwagen geführt. Es hieß, zwei deutsche Soldaten wollten mich sehen. Sie trugen Camouflage-Uniformen, das Tarnmuster war aus kleinen Punkten zusammengesetzt, wie vom Computer gemacht, und sie trugen die deutsche Flagge am Ärmel. Ich mußte mich hinlegen, die Hände auf dem Rücken gefesselt. Der eine zog mich an den Haaren hoch. "Weißt du, wer wir sind?" Der wollte angeben. "Wir sind die deutsche Kraft."

KSK? Kommando-Spezialkräfte waren damals die einzigen deutschen Soldaten in Kandahar.

Kann sein. Er hat jedenfalls meinen Kopf auf den Boden geschlagen, und die Amerikaner fanden das lustig.

Wurden Sie noch auf andere Weise gequält?

Die haben es "duschen" genannt. Man mußte sich kaltes Wasser über den Kopf gießen. Mich habe sie jeden Tag dazu rausgenommen. Zum Verhör haben sie mich mit Elektroschocks an den Füßen vorbereitet. Sie haben mich stundenlang an den auf dem Rücken gefesselten Händen aufgehängt. In verschiedenen Positionen, dann Pause, dann wird man wieder umgehängt. Ein Arzt schaut, ob man noch lebt. Der Vernehmer kam jeden Mittag, dann wurde man kurz runtergenommen.

Hatten Sie Hoffnung, da je rauszukommen?

Irgendwann schon. Nach etwa zwei Monaten in Kandahar wurden alle paar Tage Leute aufgerufen. Es hieß, sie würden nach Hause geflogen, sie hätten ausgesagt. Schließlich war ich dran, mit noch vier Türken und fünf Algeriern. Ich glaubte wirklich, es geht in die Türkei. In der Nacht wurden wir fertiggemacht.

Was heißt das?

Wir wurden rasiert, bekamen Fesseln angelegt, Augenmasken und alles.

Wurden Sie auch untersucht?

Maximum security.

Also auch rektal?

Jeder mußte das durchmachen, reden wir von was anderem.

Bekamen Sie Essen, konnten Sie während des langen Flugs zur Toilette gehen?

Sicher, als die uns anketteten, habe ich gleich gewußt, das wird ein Erster-Klasse-Flug... Im Ernst, wie sollte das gehen - mit den Fesseln?

Andere Gefangene haben erzählt, sie hätten in die Hosen gemacht.

Viele haben es gemacht, manche hatten auch Durchfall.

Ihre Eindrücke nach der Ankunft?

Es war warm. Ein US-Militärstützpunkt in der Türkei, dachte ich. Schon auf der Fahrt ins Camp haben sie uns viel geschlagen, als Willkommensgruß. Bei der Untersuchung steckte mir eine Frau so einen kleinen Stab in den Mund.

Ein Wattestab für eine Speichelprobe.

"Entspann dich", sagte sie. "Schau dich um, hier gibt's viele Bäume, hier habt ihr's gut." Aber da waren keine Bäume.

Wann wußten Sie, daß Sie auf Kuba sind?

Manche Gefangene hatten das gleich vermutet, aber ich hab's erst geglaubt, als ich nach zehn Tagen einen kubanischen Kolibri sah. Über den hatte ich früher was gelesen.

War es Camp X-Ray?

Die Käfige waren so klein, ich dachte erst, die seien nur zum Umziehen. Man war allem ausgesetzt, Sonne, Regen, Schlangen, Skorpionen. Vor meinen Augen wurde ein Gefangener von einem Skorpion in den Finger gestochen. Fette Ratten liefen einem auf Armen und Beinen herum.

Und wie war die Behandlung?

Schlecht. Wir wurden viel geschlagen, schikaniert. Und dann kam auch noch das mit dem Koran. Ein Militärpolizist, der eine Zelle durchsuchte, warf das Buch auf den Boden. Die Gefangenen haben geschrien. Als ich hinsah, hat er den Koran noch mit dem Fuß getreten. Alle haben angefangen, gegen die Türen zu treten, haben Wachen angespuckt. Dann kamen die Eingreiftrupps. Nachts wurden wir verlegt, morgens haben einige die Nahrung verweigert, fast alle haben dann mitgemacht.

Der erste Hungerstreik.

Der dauerte vier Tage, dann versprachen die Amerikaner, so etwas wie mit dem Koran würde nicht mehr passieren.

Wurden Sie auch sexuell gedemütigt?

Einmal sind da beim Verhör drei Frauen gewesen, eine in Uniform, zwei in Zivil, wenn man so sagen kann - die haben fast nichts angehabt. Nur ein Höschen aus ganz dünnem Stoff und ein knappes Top. Die haben gesagt, ich mag dich, ich möchte, daß wir das und das tun. Eine hat gesagt, ich will dich, ich hab dich beim Duschen gesehen... Aber das war eine Lüge, ich habe beim Duschen immer Shorts getragen. Sie hat sich dann von hinten an mich gepreßt, hat ihre Hand unter meine Kleidung geschoben und mich an der Brust berührt. Ich war ja gefesselt, aber ich habe mit dem Kopf nach hinten geschlagen und sie auf die Nase getroffen. Hinter der Tür haben die Wachen gewartet, sie stürzten gleich auf mich.

Sie kamen in eine Isolationszelle?

Da haben sie mich gefesselt liegen lassen. Vier, fünf Tage bekam ich kein Essen. Dann holten sie mich in einen Raum, der sehr schön war. Da hingen Wandteppiche mit Koranversen, da stand ein Fernseher, ein Sofa, ein Tisch mit Früchten, Nüssen, Muffins. "Ich hab gehört, was dir passiert ist", sagte der Vernehmer. "Das dürfen die nicht. Ich hab dir Essen mitgebracht." Ich sagte: "Ich mag dein Essen nicht und dein Gesicht auch nicht." Darauf er: "Nimm es mit in deine Zelle." Ich sagte: "Ich will dein Essen nicht." Ich habe weitere 15 Tage nicht gegessen, bis ein Nachbar sagte: "Allein kann man keinen Hungerstreik durchziehen."

Ende 2002 gab es ein neues Camp auf Guantánamo. Camp Delta. Wie war das?

Sie sagten uns, wegen der Menschenrechte würden wir in bessere Zellen verlegt. Aber da war es noch schlimmer. Camp Delta bestand aus Containerblöcken, jeder Block hatte 48 Zellen, Maschendrahtkäfige mit Bett, Toilette, Waschbecken auf Kniehöhe. Wir hatten nun noch weniger Bewegungsfläche. Die Luft war stickig. In der Hitze stank es nach Farbe und nach 48 Leuten, die bei hoher Luftfeuchtigkeit auf engstem Raum hausen. Das Neonlicht war immer an, auch nachts, die Generatoren dröhnten.

Wie hielten Sie das aus?

Ein Wächter, der uns manchmal heimlich etwas zusteckte, sagte: "Ich weiß, daß Gott euch Geduld gibt." Ich fragte ihn, ob er Muslim sei. Er sagte: "Das weiß ich, ohne Muslim zu sein. Das sehe ich doch. Ich an eurer Stelle würde durchdrehen."

Wie war Ihr Tagesablauf?

Meist begann es mit einem Gebetsruf, den sie über die Lautsprecher im Lager abspielten - und den sie manchmal durch fast zeitgleiches Abspielen von Rockmusik oder der amerikanischen Hymne verunglimpften. Dann Frühstück durch die Essensklappe, das Tablett mußt du mit dem Rücken zur Zellentür annehmen, damit du die Wärter nicht angreifen kannst. Dann Schlafen, Verhöre, durch die Gitter mit deinen Zellennachbarn reden, den Koran lesen, beten.

Bekamen Sie auch andere Bücher?

Kaum. Einmal haben sie mir ein Buch über Picasso gegeben, aber das lese ich nicht. Zweimal die Woche kann man duschen, 15 Minuten lang. Wäsche haben wir meistens selbst gewaschen, dann haben wir uns die Schlafmatte um die Hüften gerollt, für die Privatheit. Wenn neue Wäsche kam, gaben sie den Großen manchmal Hosen mit Größe S. Mittags gab es etwas zu essen, abends zwischen sieben und acht noch mal. Und dann versuchte man zu schlafen, bei grellem Neonlicht, oder mußte wieder zum Verhör.

Wie oft wurden Sie verhört?

Im Durchschnitt vier mal die Woche, all die Jahre über. Immer das Gleiche: "Wie heißt du? Wie alt bist du? Woher kommst du?" Und dann legten sie dir Stapel von Fotos vor: "Kennst du den? Wer ist das?" Endlos. Wenn ich einen gekannt habe, habe ich was gesagt und auch, was ich über den wußte. Die Vernehmer waren Militärs oder CIA oder FBI, sie trugen Zivil. Es gab nur wenige Ausnahmen, einmal hatte ich drei Monate kein Verhör, einmal zwei Wochen. Im Herbst 2002 wurde ich plötzlich besonders oft befragt, bis zu dreimal täglich, sieben Tage die Woche. Ich dachte mir, daß jetzt irgendwas passieren wird.

Und was passierte?

Es kamen drei deutsche Vernehmer.

Die Bundesregierung hat inzwischen eingeräumt, daß Sie am 23. und 24. September 2002 von zwei Mitarbeitern des Bundesnachrichtendienstes und einem Vertreter des Bundesamtes für Verfassungsschutz "informell befragt" wurden. Wie lief das ab?

Ich hatte auf sie gewartet. Ich wollte nach Hause. Aber was hilft es, wenn da welche kommen und nur noch mehr Fragen stellen? Ich weiß nicht, wer sie waren, und sie sagten nicht "Hallo" oder "Wie geht's?" Sie sagten nur: "Wir sind aus Deutschland und möchten Ihnen ein paar Fragen stellen." Ich wurde dann an zwei Tagen verhört, insgesamt sicher mehr als zehn Stunden.

Können Sie die Situation beschreiben?

Befrager aus dem Ausland verhörten Gefangene in einem kleinen Container. Militärpolizisten brachten mich von meinem Käfig in Camp Delta 2, Block Mike, in den Verhörraum. Sie ketteten meine Fußfessel an einen Eisenring am Boden an, die Handfesseln wurden später geöffnet. Als ich reinkam, saß einer der Deutschen am Tisch, die beiden anderen kamen später. Sie stellten einen Kassettenrecorder hin. In dem Raum gab es eine Klimaanlage, Tisch und Stühle und zwei Kameras - eine versteckt in einer Wanduhr neben der Ziffer Drei. Die Uhr war mal runtergefallen, und da ragte die Kamera aus der Wand. Im Nebenraum sind mehrere Monitore, die habe ich mal durch eine offene Tür vom Gang aus gesehen. Dort sehen wohl FBI, CIA oder sonstwer den Verhören zu.

Was wollten die Deutschen wissen?

Sie sagten, wenn ich ihre Fragen richtig beantwortete, könnte das meine Entlassung beschleunigen. Das sagten die US-Befrager auch immer. Die Deutschen aber waren viel professioneller. Sie wußten alles über mich, wußten, von welchem Konto ich wieviel abgehoben hatte, wie mein Flugticket bezahlt wurde, welche Tablighi ich in Bremen und in Pakistan getroffen hatte. Sie fragten auch viel über meinen Freund Selçuk.

Der Mann, der eigentlich mit Ihnen nach Pakistan reisen wollte?

Genau.

Die Deutschen ließen ihn 2001 nicht ausreisen, weil er eine Geldstrafe nicht bezahlt hatte. Sein Bruder sagte der Polizei dann am Telefon, so geht aus vertraulichen Protokollen hervor, Selçuk "folgt einem Freund nach Afghanistan, um dort zu kämpfen. Er wurde in einer Moschee heißgemacht."

Die deutschen Befrager haben mir das Zitat auch vorgelesen. Selçuk wollte mit mir nach Pakistan kommen und auch Koranschüler werden. Seine Familie hatte offensichtlich Angst nach den Anschlägen vom 11. September und sagte der Polizei: Laßt ihn nicht reisen. Selçuks Bruder besuchte mich neulich in Bremen, und ich hätte jedes Recht, ihm ins Gesicht zu spucken für diesen Satz damals. Aber ich habe das nicht getan.

Verstehen Sie, warum man Sie für einen islamistischen Terroristen halten konnte?

Für mich war und ist Pakistan Pakistan und Afghanistan Afghanistan. Nur weil in Afghanistan Krieg ist, heißt es ja nicht, man darf nicht nach China reisen - das grenzt doch auch an Afghanistan.

Kontakte zu Taliban oder al Qaida haben Sie gegenüber Amerikanern und Deutschen "energisch" und "glaubwürdig" bestritten, heißt es in deutschen Regierungsunterlagen.

Ich wurde zum "Bremer Taliban" gemacht, habe ich jetzt erfahren. Dabei wußte ich vor dem 11. September überhaupt nicht, was Taliban sind. Ich wollte den Koran studieren, bevor ich meine Frau nach Deutschland holte. Alles andere ist Unsinn.

Fragten die Deutschen Sie in Guantánamo auch, wie Sie dort behandelt wurden?

Ich hatte damals Schmerzen im Ellenbogen und habe die Stelle immer wieder massiert, und einer fragte, weshalb ich das mache. Ich erzählte, wie der Eingreiftrupp im Lager mich verprügelt und mir den Arm verdreht hatte. Im Laufe des Gesprächs habe ich ihnen auch von meinen Folterungen in Kandahar erzählt, von den Schlägen und der Isolationshaft in Guantánamo und auch von der Sache mit den Frauen. Aber das interessierte die nicht.

Wollten die deutschen Geheimdienste Sie als Informanten anwerben, für den Fall Ihrer Entlassung?

Ja. Und natürlich habe ich zugesagt. Zu Hause hätte ich mir an die Stirn getippt.

Die Deutschen zogen damals das Fazit, daß Sie aufgrund ihrer "ausgeprägten Naivität/Unreife" in die Situation "hineingeschlittert" und einfach "zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort" waren. So steht es in einem geheimen Protokoll über ihre Vernehmung auf Guantánamo.

Naiv, unerfahren? Ich bin nicht mehr 19, sondern 24, und vielleicht würde ich heute nicht mehr nach Pakistan reisen, wenn es einen Krieg im Nachbarland gibt. Aber den Fehler haben die Pakistaner und die Amerikaner gemacht. Sie haben eine Straftat begangen und mich entführt. Ich habe keine Gesetze gebrochen. Ich bin unschuldig.

Die Amerikaner sagten den Deutschen damals, Sie kämen eventuell noch im November 2002 frei.

Ist das wahr? Das haben die wirklich gesagt?

Es geht aus Protokollen der Bundesregierung hervor. Dann überlegte man, ob Sie als Informant in der Islamistenszene zu gebrauchen wären. Ergebnis: eher nicht. Und als die US-Regierung anfragte, ob sie Murat Kurnaz in die Türkei oder nach Deutschland abschieben sollte, plädierte der damalige Chef des Bundesnachrichtendienstes August Hanning für eine Einreisesperre nach Deutschland.

Einreisesperre? Warum?

Sie stellte sicher, daß Sie nach Ihrer Freilassung nicht nach Deutschland zurückkonnten. Die Verantwortlichen im Bundeskanzleramt (der heutige Außenminister Frank-Walter Steinmeier war zu jener Zeit Chef des Bundeskanzleramts, NR) stimmten diesem Vorschlag zu.

Was sind das nur für Leute, die das entschieden haben? Obwohl die deutsche Regierung wußte, daß ich nie gegen Gesetze verstoßen hatte, obwohl sie keine Beweise gegen mich hatten, obwohl sie wußten, daß ich gefoltert wurde, haben die mich noch mehr als drei Jahre in Guantánamo sitzen lassen. Und jetzt, wo ich schon über einen Monat wieder in Deutschland bin, habe ich immer noch keine Krankenversicherungskarte. Mir fehlen die Papiere, vom Arbeitsamt habe ich noch keinen Bescheid. Ich habe sowieso bereut, denen bei den Verhören geantwortet zu haben. Den gleichen Fehler habe ich dann beim zweiten Besuch der Deutschen noch mal gemacht.

Bei welchem zweiten Besuch? Waren die Deutschen noch einmal in Guantánamo?

Ja, es war aber nur einer. Er war schon beim ersten Mal dabei, kam diesmal aber nur mit einem amerikanischen Vertreter.

Wann war das?

Der brachte mir eine neue Motorradzeitschrift mit, die war von April 2004.

Wie verlief diese Befragung?

Als ich in den Verhörraum kam, wurde ich nicht begrüßt. Der Deutsche hatte die Füße auf den Tisch gelegt, öffnete sein Laptop und flüsterte mit dem Amerikaner. Etwa zwei Stunden ging das so. Dann sagte der Deutsche: "Herr Kurnaz, seit meinem letzten Besuch ist ja viel Zeit vergangen." Er sagte, ich hätte es vermasselt. "Sie haben die Zeit nicht genutzt, Ihre Unschuld zu beweisen. Heute ist die Zeit vorüber. Sie haben morgen noch eine letzte Chance. Aber ich habe nur wenig Zeit. Überlegen Sie sich gut, was Sie sagen."

Wie haben Sie reagiert?

Ich wurde von den Militärpolizisten zu meiner Zelle eskortiert. Denen hatte ich alles erzählt, die wußten, daß ich unschuldig bin, ich mußte gar nichts beweisen. Am nächsten Tag zeigte mir der Mann Spionagefotos von meinem Freund Selçuk.

Sie meinen Observationsfotos?

Ja, heimlich aufgenommen in einer Moschee oder wenn er mit Leuten auf der Straße stand. Der Vernehmer wollte wissen, wie ich über ihn denke. Dann fragte er mich, was ich tun würde, wenn ich nach Deutschland zurückkäme. Ob ich meinen Bart abrasieren, ob ich neue Freunde haben würde. Ich sagte, daß ich das noch nicht weiß. Ich beschwerte mich über die Zustände in Guantánamo. Er sagte: "Sie sind doch auf einer karibischen Insel. Sie müssen sich einfach entspannen."

Wie waren Ihre Haftbedingungen zu der Zeit?

Typisch all inclusive. Kurz nach dem ersten Besuch der Deutschen hatte es neue Vorschriften gegeben. Fast sieben Wochen wurde ich alle zwei Stunden verlegt. Die machten das, damit du nicht schlafen kannst.

Die Wärter nannten das "Operation Sandmännchen", erzählte ein Ex-Militärgeistlicher.

Sobald sie sahen, daß du einschliefst, rüttelten sie an den Zellentüren. Hinzu kamen über 50 Stunden lange Vernehmungen. Ich habe in der Zeit auch kaum gegessen, nahm bis auf 60 Kilo ab.

Wie übersteht man das?

Man ist nah an der Ohnmacht, bewegt sich wie im Traum. Mehr kann ich nicht sagen, da fehlt auch die Erinnerung.

Dachten Sie an Selbstmord?

Das entspricht nicht unserem Glauben.

Nach Angaben des Pentagons gab es zu der Zeit aber mehrere Suizidversuche. Ein junger Saudi wurde an einem Laken hängend aufgefunden. Er lag dreieinhalb Monate im Koma und hat einen Hirnschaden davongetragen.

Ja, aber das ist die Version der Amerikaner. Zwei Tage vorher war der Mann mein Zellennachbar gewesen. Da gab es wieder einen Koran-Vorfall, alle regten sich auf, Mashaal kam in eine Isolationszelle. Da kann man kein Laken am Deckenventilator festmachen, der steckt in einem Schacht, hinter einem Gitter, und darauf ist noch ein Gitter geschweißt, mit extra kleinen Löchern. Nachbarn aus seinem Block erzählten mir, daß die Eingreiftruppe in seiner Zelle war. Sie hörten heftige Kampfgeräusche vor seinem angeblichen Selbstmordversuch.

Ende 2002 übernahm General Miller das Kommando in Guantánamo und verschärfte die Haftbedingungen. Kannten Sie ihn?

Niemand kennt General Miller auf Kuba, aber jeder kennt "Mister Toilet". Er kam ab und zu durch die Blocks. 2003 ließ er sich mit einem anderen General in Camp Delta 2, Isolationsblock Oscar, sehen. Die Häftlinge hatten dort Nummer 2 vorbereitet, so nannten wir das.

Fäkalien?

Braunes Naturshampoo. Als der General vor der Zelle stand, traf ihn ein arabischer Gefangener durch die Essensklappe ins Gesicht. Und als Miller flüchtete, ging die Dusche den Gang lang weiter.

Im Oktober 2004, nach knapp drei Jahren in US-Gewahrsam, sahen Sie erstmals einen Anwalt, den Amerikaner Baher Azmy.

Ich zweifelte, ob er auf meiner Seite stand. Er sagte: "Alles, was ich aufschreibe, muß ich den Amerikanern vorlegen." Aber er hatte einen Zettel von meiner Mutter mitgebracht: "Mein lieber Sohn, das ist ein Anwalt, dem kannst du trauen." Er zeigte mir Fotos von meiner Familie. Darauf sollten meine Brüder sein. Den kleinen hielt ich für meinen großen Bruder, beim großen dachte ich, er sei ein Onkel.

Wie hörten Sie, daß Sie entlassen werden?

Als ich das erste Mal nach fast fünf Jahren ein Telefon benutzen durfte. Ein Militärpolizist sagte: "Häftling 061, du bekommst einen Anruf." Ich wurde zu einem Telefon eskortiert. Mein Anwalt sagte mir, daß ich bald frei käme.

Was dachten Sie in dem Moment?

Ich hatte so was schon oft gehört, ich glaubte es nicht. Er sagte aber, es sei offiziell. Ich sagte nur "Inschallah". Tatsächlich war ich wenige Tage zuvor in Camp Delta 4 verlegt worden. Da lebt man in Gruppen zusammen, es gibt besseres Essen. Die Gefangenen tragen weiße Kleidung. Wenn die Militärpolizisten also weiße Sachen bringen, verabschieden einen die Häftlinge: So, du gehst jetzt in Camp 4 und dann nach Hause.

War damit das Schlimmste vorbei?

Drei Tage vor der Entlassung, mußte ich zum Verhör. Da waren viele hochrangige Militärs. Die hatten viele Papiere. Ich sollte noch was unterschreiben, nur zur Sicherheit, so wie alle anderen auch unterschrieben hätten. "Was denn?", fragte ich. "Daß du nicht mehr mit den Taliban und al Qaida kämpfst." Ich sagte: "Das habe ich nie gemacht!" Darauf sie: "Nur wegen einer Unterschrift wirst du doch nicht weitere fünf Jahre hier absitzen wollen." Ich habe das nicht unterschrieben. Sie sagten, okay, dann bleibst du eben hier.

Hatten Sie keine Angst, zu viel zu riskieren?

Ein Gefangener aus Uganda hatte mir zwei Tage vor seiner Entlassung erzählt, daß er nicht unterschrieben hatte. Er durfte trotzdem gehen. Und sie kamen dann tatsächlich nachts, warfen eine Jeans und eine Jacke auf den Boden und sagten: "Anziehen!" Alles dauerte ziemlich lange, der Weg zum Flugzeug, und noch mal wurde ich durchsucht. Auch der Rest kam mir bekannt vor, Hände und Füße waren an einem Ledergurt am Bauch angekettet. Ich wurde auf einem Plastiksitz festgeschnallt, trug eine geschwärzte Brille und Kopfhörer. Später habe ich gehört, daß ich mit 15 Militärs der einzige Passagier war.

Sie landeten am 24. August abends auf dem US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein.

Da warteten zwei deutsche Polizisten und ein Fahrer. Fesseln, Brille, Ohrschutz wurden mir abgenommen. Die Deutschen sagten: "Hallo, Herr Kurnaz! Wir möchten Sie zu Ihrer Familie bringen." Mein Vater war ganz dünn und hatte weiße Haare. Ich umarmte meine Mutter. Sie weinte, ich habe sie umarmt, bis sie aufhörte.

Haben Sie auch geweint?

Alle weinten. Ich nicht. Ich weiß nicht, ob ich noch weinen kann. Vielleicht habe ich auf Kuba verlernt zu weinen.

Wie geht es jetzt weiter in Ihrem Leben?

Ich bin seit über einem Monat zurück in Bremen. Vielleicht schaue ich mir jetzt Deutschland an. Ich möchte Natur sehen. Dann muß ich mir überlegen, wie ich Geld verdienen kann, vielleicht im Schiffsbau, das habe ich ja gelernt. Später möchte ich Bauer werden. Wie mein Onkel, der hat einen großen Hof, immer frische Luft, frisches Obst und Gemüse. Ich will auch heiraten. Während der Rückfahrt auf der Autobahn sagte ich meinem Vater, daß es Zeit sei, meine Frau aus der Türkei nach Bremen zu holen. Er sagte: "Sie wird nicht kommen. Sie hat sich scheiden lassen. Aber sie hat einen guten Charakter gezeigt. Sie wartete mehr als drei Jahre auf dich. Wenn sie gewußt hätte, daß du irgendwann freikommst, dann hätte sie auch zehn Jahre auf dich gewartet."

Sie wirken so gefaßt, als ob Sie das alles nicht berühren könnte?

Auf der Fahrt nach Bremen hielten wir auf einem Parkplatz. Ich stieg aus, um Luft zu schnappen. Und schaute nach oben. Da merkte ich, das war seit fünf Jahren mein erster Blick in den Himmel, bei dem ich Sterne sehen konnte. Da wurde mir klar, was man mir genommen hat.

 

Interviewer: Peter Meroth und Uli Rauss

 

Anmerkungen von NETZWERK REGENBOGEN

Siehe auch unsere Artikel:

      Schwede spricht über Folter auf Guantánamo (15.07.04)

      Jura-Professor kritisiert US-Regierung wegen Guantánamo
      (15.04.04)

      Britischer Lordrichter kritisiert US-Regierung
      wegen Guantánamo (28.11.03)

 

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