Die "Speckjahre" der frühen BRD werden in diesem System nie wiederkommen, denn
das kapitalistische Deutschland kann die Massenarbeitslosigkeit so wenig
loswerden, wie die Schildkröte ihren Panzer. Während die Regierenden aller
Parteien, durch die Tatsachen getrieben, längst heimlich die Grenzen des Systems
zu Kenntnis genommen haben und von Vollbeschäftigung niemand mehr redet, wollen
große Teile der Linken es partout nicht glauben. Der Reformismus und sein
wirtschaftspolitischer Zwilling, der Keynesianismus, existieren weiter wie
Untote.
Georg Fülberth hat einmal geschrieben, daß der Keynesianismus "ohnehin zu allen
Zeiten nur ein Gespenst gewesen ist". Aber er fügte hinzu, "Gespenster haben
bekanntlich die Doppeleigenschaft, daß sie zugleich tot und unsterblich sind".
Dabei hat der Keynesianismus den Praxistest nie bestanden. Selbst der berühmte
New Deal führte keineswegs zur Vollbeschäftigung. Das klappte erst, als
Roosevelt die USA auf den Eintritt in den Zweiten Weltkrieg vorbereitete. Das
Wirtschaftswunder der 50er und 60er beruhte auf drei Faktoren, die positiv
ineinander griffen: die Überwindung der Folgen des Krieges, zugleich das
Aufholen des zwischen zwei Weltkriegen entstandenen Rückstands und schließlich
die Einbeziehung der BRD in das Wettrüsten. Dieser einmalige, große Boom schürte
schier unausrottbare Illusionen in den Sozialstaat.
Die Grundvoraussetzung keynesianischer Programme ist der vom Ausland
abgeschirmte Staat, dem staatliche Geldspritzen den Aufschwung beibringen, um
Nachfrage und dadurch Produktionssteigerung zu erzeugen. Aber die nationale
Ökonomie hat sich längst in eine Weltökonomie aufgelöst, in der es keine
deutsche, französische, japanische oder US-Produkte mehr gibt, allenfalls noch
chinesische. Die Produktion ist eine internationale geworden, die nicht mehr
durch Handel zwischen eigenständigen Produktionsgebieten, sprich Staaten,
sondern durch Produktionsketten gekennzeichnet wird. Eine solche globale
Produktionskette kann nicht durch den Eingriff eines einzelnen Landes zur
Konjunktur hochstimuliert werden.
Zudem: Eine zusätzliche Staatsverschuldung, um mit diesem Geld den Massenkonsum
anzublasen, ist bei der bereits drückenden Schuldenlast nicht realistisch. Sie
wäre auch kaum mehr als eine versteckte Bankensubventionierung.
Als Marxist habe ich einen weiteren, grundsätzlichen Einwand gegen solche
Reformprogramme, wie z.B. den "öffentlichen Beschäftigungssektor" der PDS.
Marx unterschied im Kapital zwischen zwei Abteilungen der Reproduktion. Die
Abteilung I stellt Produktionsmittel, die Abteilung II im weitesten Sinne
"Lebensmittel" (alle Produkte des Lebens der Arbeitenden) her. Aus dem Schema
der erweiterten Reproduktion geht dann mit Deutlichkeit hervor, daß die
Akkumulation in der Abteilung II vollkommen abhängig und beherrscht ist von der
Akkumulation in Abteilung I. Folgt mensch diesem Schema, und ich mache das, dann
kann durch ein staatliches Eingreifen in die Abteilung II ("öffentlicher
Beschäftigungssektor" ...) kein längerfristiges Anspringen der Konjunktur
erreicht werden. Vermutlich ist das auch der Grund, weshalb der
Kriegskeynesianismus die einzige Form des Keynesianismus ist, die je
funktioniert hat, denn sie wendet sich direkt an die Abteilung I der
Reproduktion.
Sich mit den gesellschaftlichen Grenzen des Kapitalismus zu beschäftigen, ist
seltsamerweise bei Marxist/inn/en ein Tabuthema. Zum Beispiel war Rosa
Luxemburgs "Die Akkumulation des Kapitals" schon immer und ist bis heute ein
ungeliebtes Buch. Ein dicker, theoretischer Wälzer, der studiert sein will und
dessen Schlußfolgerungen allgemein als falsch gelten. Schon die alte SPD verbot
dieses Werk quasi, indem es per PV-Beschluß keine positiven Besprechungen in
SPD-Zeitungen geben durfte. Ein für damalige Zeiten unglaublicher, skandalöser
Vorgang und der erste Fall in der SPD-Geschichte. Auch in der III.
Internationale und den realsozialistischen Länder galt der Band als "pfui",
fehlerhaft und desorientierend. So wurde etwa erklärt, Rosa Luxemburg habe
darin eine Zusammenbruchstheorie des Kapitalismus verfaßt, obwohl sie dort in
Wirklichkeit fast das Gegenteil schreibt. Ihre Grundthese ist, daß der
Kapitalismus dann, wenn er quasi zum Weltsystem wird und die
vorkapitalistischen Strukturen und Schichten weitgehend "aufgefressen" hat, er
seine schöpferischen Tendenzen immer mehr einbüßen muß und seine Fähigkeit zur
erweiterten Reproduktion, zur Ausdehnung der Produktion, immer mehr zurückgehen
wird. Kurz: Der Kapitalismus entwickelt sich so gegen eine Grenze, die er weder
erreichen noch überwinden kann.
Mensch könnte dies auf die Geschichte des deutschen Kapitalismus anwenden: In
der Weimarer Krisenzeit waren immerhin noch 23 Prozent der Beschäftigten in
Landwirtschaft und Fischerei tätig und über 34 Prozent Selbstständige, während heute
noch 2,7 Prozent in Landwirtschaft und Fischerei arbeiten und die Zahl der
Selbstständigen gerade mal 11,3 Prozent beträgt. Kurz, die vorkapitalistischen
Schichten - soweit dies aus der Statistik ersichtlich ist - existieren in
Deutschland praktisch nicht mehr. Ein Ausdehnen des Kapitalismus in diese
Bereiche, wie zur Weimarer Zeit noch möglich, kann heute im Inland nicht mehr
stattfinden. Zeitweise wurde das dadurch aufgefangen, daß die Wertmasse der
realsozialistischen DDR wie die vorkapitalistischer Bereiche behandelt und
verfeuert wurde. Das scheint zu Ende zu sein. Der ökonomische Perspektiven des
Kapitalismus in Deutschland werden finsterer. Weltweit ist die Lage des
Exportweltmeisters besser, aber auch nicht großartig. Deshalb der Drang den
Weltmarkt über alle noch vorhandenen Grenzen auszudehnen.
An diesen kapitalistischen Rahmenbedingungen kommt kein Reformprogramm vorbei,
mag es noch so einfallsreich ausgeklügelt sein. Aber diese Bedingungen
anzuerkennen und in der Tagespolitik zu berücksichtigen, bedeutet nicht, auf das
Sachzwanggerede der Obrigkeit hereinzufallen. Es gibt Tagesforderungen jenseits
des Reformismus. Das Dilemma der Linken ist doch gerade, in Kleinarbeit und dem
täglichen "Froschmäuse kriegen" hängenzubleiben, im Reformsumpf abzusacken,
völlig die Initiative zu verlieren und unkenntlich zu werden. Eine
Reformbewegung entwickelt sich nicht weiter, indem mensch sich ihr gleich macht.
Etliche Genoss/inn/en denken scheinbar pragmatisch und meinen: ob
Reformforderungen richtig und gesellschaftlich möglich sind, ist mir nicht
wichtig. Wir sind weit von einer Realisierung entfernt und damit ist diese Frage
theoretisch. Diese Einstellung ist nicht nur unehrlich, nein, sie ist
gefährlich, denn da keynesianische Forderungen des abgeschlossenen
Nationalstaats bedürfen, machen sie umgekehrt empfänglich für nationalistisches
Denken.
Zudem: Ziel keynesianischer Programme ist der Aufschwung, darin sind sie sich
mit den anderen bürgerlichen Wirtschaftsprogrammen einig; nur die Strategie wie
das zu erreichen wäre, ist entgegengesetzt. Mögen wir auch diese Strategie
einnehmend finden, da sie einträglicher für die arbeitende Klasse ist, so bleibt
doch die Frage: Teilen wir das Ziel? Wollen wir den Aufschwung? Oder wollen wir
nicht eher Reformen, die in die Gesellschaftsstruktur eingreifen?
Wie aber kommen wir der Realisierung dieser Forderungen näher? Wie kommen wir zu
einer Bewegung? Sind die Montagsdemos der Anfang einer solchen, oder nur ein
Ansatzpunkt, oder selbst das nicht?
Ein 'Jungle-World'-Autor tadelt die Montagsdemonstranten, die nicht das richtige
politische Bewußtsein haben. Hätten wir es ihnen beibringen müssen?
Wir sind hier bei einer Grundfrage: Haben wir zunächst den Menschen das richtige
Bewußtsein beizubringen und dann werden sie aktiv, oder ist es vielleicht genau
entgegengesetzt? Der "gesunde Menschenverstand" und private Erfahrung scheinen
die Frage schlagend zu beantworten. Wir haben doch alle erst dazulernen, Grenzen
überspringen müssen, bevor wir politisch aktiv wurden. Aber ist es nicht doch
umgedreht, kommt nicht doch erst die Aktion und dann das Bewußtsein?
Wenn das gesellschaftliche Sein das Bewußtsein bestimmt, und der Mensch indem er
auf die Natur einwirkt, kurz arbeitet, durch die Natur verändert wird und sich
entwickelt, dann gilt das auch für die Gesellschaft. Indem Menschenmengen
Aktivität entwickeln, in die Aktion gerissen werden, bringen sie ein politisches
Bewußtsein hervor. Für die junge Studentenbewegung nach `68 gehörte dies zur
Grunderkenntnis.
Die Montagsdemos werden aber nicht dadurch politisches Bewußtsein entstehen
lassen, daß sie mit Agitation berieselt und Flugblättern überschüttet werden.
Nichts gegen Infos, aber Denken kommt selten aus "nachbeten". Nur aus der
Eigenbewegung könnte dies kommen. Indem etwa Aktionsformen der Arbeiterbewegung,
wie Streiks, Besetzungen, usw. benutzt werden, kann die Bewegung an die
Tradition der Linken herangeführt werden. Dominieren bürgerliche Formen, wie der
Bezug auf Leipzig 1989, wird dies wahrscheinlich weniger der Fall sein.
Dabei könnte der Zusammenschluß von traditioneller Arbeiterbewegung mit
aufmüpfigen Erwerbslosen und Niedriglohnbeschäftigten ein bedeutsames Potential
entstehen lassen.
Ich weiß, geschichtliche Vergleiche hinken immer, doch im alten Rom entstand
nach den großen, niedergeschlagenen Sklavenaufständen noch einmal eine die
Gesellschaft erschütternde Bewegung. Der Zusammenschluß von verarmten römischen
Bürgern mit Sklaven in einer neuen gemeinsamen Religion war der Auslöser. Stimmt
die Analogie und entwickelt sie Kraft?
Herbert Steeg
Anmerkungen:
Siehe auch unsere Artikel
'Auferstehung der deutschen Sozialdemokratie?' (5.07.04)
'Löst Spanien den europäischen Wirtschafts-Crash aus?' (3.07.04)
'TINA!? Und wie es dazu kommt' (5.02.04)
und die Diskussionsbeiträge
'Reformieren statt Deformieren
- Die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme' (21.05.03)
'Demokratisierung statt Reformierung' (11.08.03)
'ÖSR durch Druck von unten' (20.08.03)