12.06.2008

Kommentar

Klauen ist Schenken

Hessischer Staatsgerichtshof:
Studium für 500 Euro pro Semester ist kostenfrei

Wer immer noch meinte, Gesetze seien mehr als ein schriftlich fixierter Ausdruck zeitweiliger Machtverhältnisse, sieht sich vom Hessischer Staatsgerichtshof eines Besseren belehrt. Nicht einmal ein Verfassungstext muß umgeschrieben werden - es genügt, wenn willfährige Juristen ihn neu interpretieren. Und da spielt es auch keine Rolle, wenn die Interpretation das Gegenteil des bisherigen Wortsinns ergibt.

"In allen öffentlichen Grund-, Mittel-, höheren und Hochschulen ist der Unterricht unentgeltlich", heißt es in Artikel 59 der hessischen Verfassung. "Unentgeltlich" galt bislang als Synonym für "kostenfrei". In Zukunft müssen wir aufpassen, wenn uns in einer Einkaufspassage eine CD als "unentgeltlich" angeboten wird - hinterher müssen wir 500 Euro dafür bezahlen...

Gegen die von der hessischen Landesregierung unter Roland Koch eingeführte Studiengebühr hatten 70.000 hessischen BürgerInnen eine gemeinsame Klage eingereicht. Doch sechs der elf RichterInnen des Hessischer Staatsgerichtshofs erklärten im Namen des Volkes, die Studiengebühr sei mit der hessischen Verfassung vereinbar.

Hessische StudentInnen reagierten nach der Urteilsverkündung empört. Der Gerichtshof habe bewiesen, daß er "weniger an die hessische Verfassung als an die Gefälligkeiten gegenüber denen, die ihn wählen, gebunden ist", erklärt der AStA der Fachhochschule Gießen-Friedberg. Und das Aktionsbündnis gegen Studiengebühren (ABS) meint, der Wiesbadener Staatsgerichtshof sei "nur ein verlängerter Arm der jeweiligen Landtagsmehrheit", Meist gelingt es der Linken jedoch nicht, entsprechend willfährige Juristen auf die entscheidenden Sessel zu hieven.

Verfassungsrichterin Karin Wolski erklärte am Mittwoch in der Urteilsbegründung, Artikel 59 garantiere keineswegs ein gebührenfreies Studium. Durch das in Hessen voraussetzungslos gewährte Studiendarlehen sei sichergestellt, daß niemand vom Studium ausgeschlossen werde. Damit könnten auch die studieren, die "völlig mittellos" seien. Die fünf vom Urteil abweichenden Richter erklärten dagegen in ihrem Minderheitsvotum, der Entscheid verkehre den Gehalt von Artikel 59 in sein Gegenteil. Es sei "widersinnig", so Gerichtspräsident Klaus Lange, Kreditschulden als Verbesserung der wirtschaftlichen Lage von StudentInnen zu werten. Der Wortlaut der Verfassung besage, daß das Studium nichts kosten darf und nicht: "Du kannst es später bezahlen". Mit der gefällten Entscheidung habe das Gericht die "Grenzen der zulässigen Normauslegung überschritten", so Lange.

Die "rot-rot-grüne" Mehrheit im hessischen Landtag1 hatte kürzlich versucht, den geschäftsführend weiterhin amtierenden Ministerpräsidenten Koch mit einem Gesetz zur Rücknahme der Studiengebühren zu zwingen, war dabei jedoch wegen formaler Mängel kläglich gescheitert. Mit diesem Gesetz besteht jedoch keine Aussicht, bereits entrichtete Gebühren zurückzuerhalten. Bei einem positiven Entscheid des Hessischen Staatsgerichtshofs, der mit fünf zu sechs Stimmen nun denkbar knapp votierte, wäre die hessische Landesregierung jedoch zur Rückerstattung die bereits bezahlen Studiengebühren gezwungen gewesen.

Kaum zu übersehen ist darüber hinaus, daß "Rot-Rot-Grün" mit dem Manöver, die Studiengebühren in Hessen abzuschaffen, nichts anderes als vorgezogenen Wahlkampf für die Bundestagswahl 2009 betreibt. Käme "Rot-Rot-Grün" jedoch im Bund an die Regierung, wäre das Resultat mit Sicherheit dasselbe wie zwischen 1998 und 2005: Kriege, Sozialabbau und Umweltzerstörung.

 

REGENBOGEN NACHRICHTEN

 

Anmerkungen

1 Siehe hierzu:

      Zwei Wahlsiege in Hessen und Niedersachsen (28.01.08)

Siehe auch unsere Artikel:

      Zehntausende streiken in Frankreich
      SchülerInnen, LehrerInnen und BeamtInnen gegen Sarkozy
      (16.05.08)

      Über 10.000 StudentInnen protestierten in Dresden
      gegen sächsisches Hochschulgesetz (14.12.07)

      Studiengebühren legalisiert
      Soziale Hürde vor den Uni-Pforten erhöht (20.06.07)

      Soziale Auslese an der Uni-Pforte
      Unterschichten-Kinder mit geringen Bildungs-Chancen (19.06.07)

      Studiengebühren und BAFöG-Blockade (20.11.06)

      Freiburger Frühling (16.05.05)

      Verfassungsgericht öffnet Tür für Studiengebühren
      Weiterer Akt im Spiel mit verteilten Rollen? (26.01.05)

      Wiederaufflammende Proteste in Ba-Wü (21.06.04)

      Gegen Bildungs- und Sozialabbau
      StudentInnen-Protest weitet sich aus (12.12.03)

 

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