15.09.2008

Armut im Alter

Beginnen wir beim Thema Armut einmal dort, wo es Viele bislang kaum vermuten: beim deutschen "Mittelstand". Die Mittelschichten in Deutschland werden - wie eine profunde Studie des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung im März dieses Jahres offenlegte - mehr und mehr aufgerieben.

Immer mehr Menschen in Deutschland steigen sozial ab. Die Mittelschichten wurden seit 2002 um acht Prozent verkleinert. Auch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) stellt in einer kurz zuvor veröffentlichten Studie fest, daß die Mittelschichten schrumpfen. Zu den Mittelschichten werden in der Soziologie jene Personen gezählt, die in Haushalten mit 70 bis 150 Prozent des Durchschnittseinkommens leben. Über einen langen Zeitraum in der Geschichte der Bundesrepublik stellten die Mittelschichten stabil 62 Prozent der Bevölkerung. Es war - vereinfacht formuliert - jener Teil des früheren Proletariats, der sich für Automobil und Eigenheim in die "bürgerliche Existenz" locken ließ und so den sozialen Kitt zum Erhalt des Kapitalismus bildete.

Bis 2006 sank der Anteil der Mittelschichten an der Gesamtbevölkerung von 62 auf 54 Prozent - eine Umschichtung um rund 6,4 Millionen Menschen, die sich als Teil der Unterschichten wiederfinden. Seit dem Jahr 2000 stieg der Anteil der Unterschichten um gut 7 Prozent - 2006 machten sie mit rund 20 Millionen bereits ein Viertel der Gesamtbevölkerung aus.

Noch vor wenigen Jahren wurden Selbständige Pauschal zu den Mittel- oder gar zur Oberschicht gezählt. Mit der Einführung der Ich-AGs im Zuge der Hartz-Gesetze wurde dies zwar obsolet. Es drang jedoch nie wirklich in die öffentliche Diskussion, daß damit ebenfalls massive Verschiebungen im hergebrachten gesellschaftlichen Gefüge verbunden waren.

Von Seiten der sogenannten Solo-Selbständigen ist es geradezu ein Tabu, über die eigene Altersversorgung zu sprechen. Ein einziges Herumgedruckse und Rotwerden, denn: Um für das Alter vorzusorgen, dafür reicht das Geld meist nicht. Je geringer das Einkommen ausfällt, desto unzureichender sorgen Solo-Selbstständige für die Zeit nach der Beruftstätigkeit vor.

Eine Aussicht, die nur durch Ignorieren, Verdrängen und das Hoffen auf ein Wunder überhaupt erträglich wird. Wie realistisch die Angst vor der Armut im Alter ist, hat die Gothaer Versicherung kürzlich mit Zahlen unterfüttert. Mehr als zwei Drittel der Selbständigen ohne Angestellte mit überschaubarem Einkommen befürchten, im Alter auf die soziale Grundsicherung von derzeit 351 Euro im Monat angewiesen zu sein. Am ausgeprägtesten ist diese Furcht bei den Selbstständigen, bei denen die Methode "Aus den Augen, aus dem Sinn" nicht mehr funktioniert: in der Altersschicht zwischen 50 und 59 Jahren.

Die Zahl der Solo-Selbständigen wuchs in den vergangenen Jahren stetig. Mehr als 2,3 Millionen gibt es bereits in Deutschland. Und es werden täglich mehr. "Das Problem ist den Menschen bewusst, die Angst vor Altersarmut ist groß", sagt Klemens Surmann von der Gothaer Lebensversicherung.

Dennoch lehnen zwei Drittel der Befragten eine staatliche Pflichtversicherung ab. Käme solch ein Zwang, haben die Selbständigen nur einen Wunsch: nicht in die gesetzliche Rentenversicherung aufgenommen zu werden. Wenn sie schon Altersvorsorge betreiben, wollen sie im Alter auch etwas davon haben.

Doch nicht allein, daß viele Selbständige aus Mißtrauen kein Geld in Rentenversicherungen einbezahlen - es fehlt ihnen oft schlicht und einfach das Geld. Gerade wenn es schon schwierig ist, nicht in die roten Zahlen abzutauchen.

Viele kleine Selbständige besitzen genügend ökonomischen Sachverstand, um die Zukunft der Renten realistisch - also schwarz - einzuschätzen. In Deutschland liegt die durchschnittliche Lebenserwartung von Arbeiterinnen heute bei 70 Jahren, von Arbeitern bei 68,5 Jahren. Bei einem Renteneintrittsalter von 67 Jahre bleiben dann gerade noch eineinhalb oder drei Jahre, in denen sie überhaupt Rente beziehen können. Bei Zugrundelegen der Durchschnittsrente von 831 Euro zeigt folgende Berechnung den wahren Charakter des deutschen Rentensystems: Selbst bei einer optimistischen Annahme von vier Jahren Rentenbezug werden also 4 mal 12 mal 831 Euro ausbezahlt. Das sind 39.888 Euro. Dem stehen einbezahlte Rentenbeiträge von - ohne Zinsen - durchschnittlich rund 100.000 Euro gegenüber. Ein Minus von rund 60.000 Euro.

Statt in eine Rentenversicherung einzubezahlen, ist es also immer noch weniger riskant, eventuell vorhandene Überschüsse der Einnahmen, die nicht von den steigenden Lebensmittel- und Energiepreisen aufgefressen werden, auf einem Sparguthaben anzulegen. Obwohl auch dies nach dem aktuellen Zusammenbruch der US-amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers und den damit unvermeidlichen Auswirkungen aufs globale Banken- und Wirtschaftssystem niemand mehr uneingeschränkt empfehlen kann.

Besonders stark von Altersarmut sind bereits heute viele Menschen in den östlichen Bundesländern betroffen. Mecklenburg-Vorpommerns Sozialminister Erwin Sellering geht davon aus, dass die Fälle von Alterarmut in seinem Land in den kommenden Jahren massiv zunehmen werden. Der Grund: die hohe Zahl von Langzeitarbeitslosen. Nach der Wende konnten viele Arbeitnehmer, die für DDR-Verhältnisse gut ausgebildet waren und ordentlich verdient hatten, nicht in den bundesdeutschen Arbeitsmarkt integriert werden. Oder sie fanden nur einen schlecht bezahlten Job.

Dementsprechend gering, so Sellering, fällt ihre Rente aus. Erschwerend komme hinzu, daß sich die Zeiten der Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland kaum auf die Rentenansprüche auswirkten: "Wenn sie ein Jahr arbeitslos waren, dann schlägt das hinterher bei der Rente mit 2,19 Euro zu Buche. Das ist beschämend. Da ist ja noch nicht einmal die Verwaltungsgebühren wert, um das zu erfassen," sagt Sellering ganz offen.

Nicht nur mit Blick auf die Klimakatastrophe zeigt sich immer deutlicher, daß ein Prinzip wie Nachhaltigkeit mit dem kapitalistischen Zwang zu wachsendem Profit nicht in Einklang zu bringen ist. Der Kapitalismus ist seit seinem Beginn vor gut zweihundert Jahren auf Raubbau angelegt. Daher ist sein Zusammenbruch unvermeidlich. Eine Weltwirtschaftskrise birgt mit dem Zusammenbruch ganzer Industrien, Hungersnöten und einer für die Menschen in den Industrieländern kaum vorstellbaren Armut riesige Gefahren. Nicht zuletzt wächst die Kriegsgefahr. Einige Wenige können die Macht an sich reißen und neue Diktaturen erreichten, in denen erneut ein kapitalistisches oder dirigistisches Wirtschaftssystem etabliert wird. Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten wären dann bald verblassende Mythen einer goldenen Vergangenheit.

Eine Chance besteht aber darin, daß sich eine genügend große Zahl von Menschen rechtzeitig Gedanken darüber macht, wie ein neues demokratisches und soziales Wirtschaftsystem organisiert werden kann, das an die Stelle des kapitalistischen tritt.

 

REGENBOGEN NACHRICHTEN

 

Anmerkungen

Siehe auch unsere Artikel:

      Demo gegen aktuelle Renten-Absenkung in Braunschweig:
      "1,1 Prozent sind ein Witz" (30.04.08)

      Sozialabbau und Rentenklau
      mit 2 Prozent Minus im Jahr 2008 (17.03.08)

      Generalstreik in Griechenland
      Gegen Anhebung des Rentenalters (13.12.07)

      Sozialabbau und Rentenklau
      Erhöhung ist Absenkung (3.12.07)

      Sozialabbau und Rentenklau
      Zur aktuellen Diskussion um die Rente mit 67 (15.10.07)

 

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