2.03.2010

Bundesverfassungsgericht:
Vorratsdatenspeicherung
war verfassungswidrig

Schlupfloch für Sammelwut bleibt offen

Justizia - vertrauenswürdig? Die bisherige Praxis der Vorratsdatenspeicherung, gegen die über 30.000 BürgerInnen geklagt hatten, wurde in einem heute veröffentlichten Urteil des Bundesverfassungsgerichts als verfassungswidrig verworfen. Telefon- und Internet-Daten dürfen in Deutschland nun vorerst nicht mehr massenhaft für sechs Monate auf Abruf gespeichert werden. Doch die Karlsruher RichterInnen ließen ein Schlupfloch, so daß die staatliche Sammelwut verfassungskonform geregelt werden könnte.

Für Brigitte Zypries, die im Jahr 2008 für das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung verantwortliche "S"PD-Justiz-Ministerin, ist dieses Urteil vernichtend - ebenso wie für Bundespräsident Horst Köhler, der wie kaum ein anderer Bundespräsident der BRD zuvor verfassungswidrige Gesetze in solch großer Zahl unterzeichnet hat. Hunderte Millionen Euro fordert die Telekommunikationswirtschaft für die bereits erfolgten Speicherungen zurück. Hierfür wird Frau Zypries mit Sicherheit nicht einstehen müssen.

Über 30.000 BürgerInnen waren mit der größten Massenklage in der Geschichte der BRD gegen das Bundesgesetz nach Karlsruhe gezogen und bekamen nun weitgehend Recht. Bei der praktizierten Vorratsdatenspeicherung handele es sich "um einen besonders schweren Eingriff mit einer Streubreite, wie sie die Rechtsordnung bisher nicht kennt", sagte Gerichtspräsident Hans-Jürgen Papier bei der Urteilsverkündung. Aufgrund der Daten seien "tiefe Einblicke in das soziale Umfeld" möglich. Mit den ohne Verdacht erfaßten Handy- und Internetdaten lasse sich "ein aussagekräftiges Persönlichkeits- und Bewegungsprofil praktisch jeden Bürgers" erstellen, kritisierte der scheidende Gerichtspräsident Hans-Jürgen Papier im letzten Verfahren seiner Amtszeit.

Durch die Auswertung der umfassend gespeicherten Kommunikations-Daten kann sehr schnell festgestellt werden, wer in einer Anti-Atomkraft- oder einer Frieden-Gruppe, wer in einer Gruppe von protestierenden Milchbauern, von demonstrierenden Neonazis oder Antifaschisten welche Rolle spielt, wer Vordenker, Logistiker, Organisator oder Mitläufer ist. Auch die hierarchischen Strukturen in einer politischen Partei können genauestens analysiert werden. Es kann sehr schnell herausgefunden werden, wer welchem Journalisten wann und wo welche Informationen gegeben hat. Eine Totalerfassung aller Daten ist daher für die Meinungs-, für die Kommunikations- und für die Pressefreiheit höchst gefährlich. Sie bedroht sämtliche Berufsgeheimnisse. Vor allem die ExpertInnen des Chaos Computer Clubs haben dies dem Gericht sachverständig geschildert.

Die Speicherung von Telefon- und Internetdaten für sechs Monate, die Anfang 2008 in Kraft trat, war Ende 2007 von der damaligen "schwarz-roten" Koalition beschlossen worden, um angeblich Ermittlungen gegen Terrorverdächtige und SchwerverbrecherInnen zu erleichtern. Grundlage hierfür war EU-Richtlinie 2006/24/EG vom März 2006. Laut dieser Richtlinie müssen die Telefon- und Internetverbindungs-Daten systematisch gespeichert werden.

Seit Anfang 2008 wurden die Telefon- und Internetverbindungs-Daten in Deutschland ab Erstellungsdatum sechs Monate lang gespeichert. Auch die Standortdaten von Mobiltelefonen gehörten hierzu. Seit Anfang 2009 wird zudem gespeichert, wer sich wann ins Internet eingeloggt hat und wer mit wem eMail-Verkehr hatte. Die Polizei konnte auf diese Daten "im Verdachtsfall" zugreifen. Inhalte von Gesprächen und eMails wurden nicht gespeichert, werden allerdings nach wie vor von Geheimdiensten (Stichwort: Echelon) systematisch gescannt. Das Bundesverfassungsgericht beschränkte im März 2008 aufgrund der Massenklage per Eilbeschluß den Zugriff der Polizei auf die Vorratsdaten. Nur bei "erheblichen Straftaten" darf die Polizei derzeit die Daten für Ermittlungen nutzen.

Die vom Gesetzgeber für die Vorratsdatenspeicherung zwangsverpflichteten Telekommunikations-Unternehmen müssen die gesammelten Daten nun vernichten. Die Deutsche Telekom leitete dies umgehend in die Wege: "Wir haben den Prozeß für die Löschung der Daten gestartet. Rund 19 Terabyte Daten zu löschen, wird allerdings ein wenig dauern." Die Unternehmen verlangen von der Regierung Kostenerstattung. Branchenverbände argumentieren, daß die ohnehin schon hohen Kosten bei einem neuen Gesetz durch aufwendigere Speichervorschriften nochmals erheblich steigen. "Wir hatten nach altem Gesetz mit Kosten von über 300 Millionen Euro allein für Anschaffungen der nötigen Speichertechnik gerechnet", teilte der Verband der Internetwirtschaft eco mit, der für rund 500 Unternehmen spricht. "Nunmehr gehen wir davon aus, daß die Kosten für die neue Vorratsdatenspeicherung wahrscheinlich erheblich steigen."

Die Karlsruher RichterInnen erteilten einer Vorratsdatenspeicherung nämlich keine generelle Absage und ließen so ein Schlupfloch für eine verfassungskonforme Regelung offen. Eine Schwachstelle des heutigen Urteils wird von KritikerInnen auch darin gesehen, daß die Zuordnung von IP-Adressen zu privaten Internet-NutzerInnen weiterhin bei jedem noch so geringen Delikt sogar ohne Richtervorbehalt möglich bleibt. Die EU-Richtlinie wird ebenfalls nicht in Frage gestellt. Offenbar wollten sie so eine direkte Konfrontation mit dem Europäischen Gerichtshof vermeiden. Um die Strafverfolgung effektiver zu gestalten, könne ein Eingriff in das Telekommunikationsgeheimnis grundsätzlich angebracht sein, erklärte das Bundesverfassungsgericht sibyllinisch. Eine verfassungskonforme Umsetzung der EU-Richtlinie 2006/24/EG sei durchaus möglich. Ein neues Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung ist also nicht ausgeschlossen.

Für eine mögliche Neufassung des Gesetzes machte das Bundesverfassungsgericht aber klare Vorgaben: So muß die Sicherheit der Daten in den Speichern der Unternehmen durch eine entsprechende Aufsicht gewährleistet sein. Die Daten werden von den einzelnen Telekommunikationsunternehmen gesammelt, so daß der Staat nicht so einfach selbst in Besitz des gesamten Datenpools gelangen kann. Den Firmen müsse für den Fall des Mißbrauchs mit wirkungsvollen Sanktionen gedroht werden. Des weiteren müssen die Betroffenen erfahren, falls ihre Daten an Behörden übermittelt werden. Dies alles ist so fein gesponnen, daß es sich möglicherweise als praktisch nicht umsetzbar erweisen könnte.

Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die sich selbst an der Massenklage gegen das Gesetz beteiligt hatte, sprach von einem "herausragend guten Tag" für Grundrechte und Datenschutz. "Diese Entscheidung wird auch auf Europa ausstrahlen." Für weitere anlaßlose Datensammlungen auf EU-Ebene sei der Spielraum geringer. Dies betreffe auch die Speicherung der Daten von FlugpassagierInnen.

Bitkom-Präsident August-Wilhelm-Scheer lobte das Urteil: "Wir dürfen das Vertrauen der Nutzer in den Schutz ihrer Privatsphäre nicht gefährden", sagte er auf der Computermesse Cebit in Hannover. Der Urteilsspruch trage den Sorgen vieler Internet- und Telefonkunden Rechnung. "Wer für mehr Freiheit in China oder Iran eintritt, büßt an Glaubwürdigkeit ein, wenn er bei uns die Freiheit im Internet einschränkt," fügte Scheer hinzu.

Der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung fordert nun von der Bundesregierung, daß sie sich auf EU-Ebene dafür einsetzt, daß Richtlinie 2006/24/EG, die laut einer EU-Kommissarin ohnehin überprüft werden muß, aufgehoben wird. Er kündigte zugleich an, sich jetzt umso stärker auf europäischer Ebene mit anderen Organisationen zusammenschließen, um diese Überprüfung kritisch zu begleiten. Bisher hatten immerhin sechs EU-Staaten noch gar keine nationalen Gesetze erlassen, um die Richtlinie 2006/24/EG umzusetzen.

 

REGENBOGEN NACHRICHTEN

 

Anmerkungen

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      Ex-Bundesverfassungsrichter Hoffmann-Riem
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