25.08.10

Stuttgart 21
Abriß begonnen
Hilft nur noch Bauplatzbesetzung?

historischer Stuttgarter Hauptbahnhof Gegen 14 Uhr begann ein Bagger unter Polizeischutz mit Abrißarbeiten am historischen Stuttgarter Hauptbahnhof. Eine vorbereitete Telefonkette funktionierte zwar gut, doch die zu Tausenden eintreffen GegnerInnen des Mega-Projekts konnten die Arbeiten nicht verhindern. Das Projekt umfaßt nicht nur eine Verlegung des Bahnhofs unter die Erde, sondern einen Umbau des gesamten Schienenknotens um Stuttgart.

Eine Seitenmauer des Nordflügels ist bereits abgerissen. Der Bauzaun wurde von der Polizei abgesichert. Ein Veteran der Platzbesetzung im badischen Wyhl, wo 1975 der Bau eines Atomkraftwerks verhindert werden konnte, riet den StuttgarterInnen angesichts der Halsstarrigkeit der Oberen zu einer Bauplatzbesetzung: "Auch der damalige Ministerpräsident Filbinger war für Argumente unempfänglich!" DemonstrantInnen veranstalteten eine Sitzblockade vor dem Bauzaun - einige wurden später weggetragen, blockierten Straßen der Innenstadt und die Ausfahrt eines Schnellzugs nach Paris. Am Abend kletterten mehrere AktivistInnen auf das Dach des Nordflügels und entrollten ein Transparent gegen den Stuttgarter Bürgermeister: "Brandstifter Schuster - raus aus dem Rathaus". Sie wurden mit dem seit Wochen bekannten Ruf "Oben bleiben!" von der Menge, die rund 12.000 Menschen zählte, gefeiert. Später verhandelte die Polizei mit den DachbesetzerInnen. Auch als die Nacht hereinbrach, blieben sie auf dem Gebäude - die Behörden ließen sie vorerst gewähren.

Gegen das nach Schätzungen von unabhängigen Sachverständigen bis zu 11 Milliarden Euro teuere Prestige-Projekt haben in den vergangenen Wochen Menschen aus allen Bevölkerungsschichten bei Demonstrationen mit bis zu 30.000 Menschen protestiert. Die für den Bau von "Stuttgart 21" verplanten Gelder werden laut einer von der 'Süddeutschen Zeitung' in ihrer Freitagsausgabe aufgedeckten Geheimstudie den nötigen Ausbau im gesamten deutschen Schienennetzes für Jahre blockieren. Aus einer Aufstellung des gehe hervor, daß schon mit den laufenden Projekten das Geld, das vom Ministerium in den kommenden Jahren zur Verfügung gestellt wird, komplett verplant sei. Wichtige Strecken-Projekte wie etwa die von Karlsruhe nach Basel, der Lückenschluß von Frankfurt nach Mannheim, der Rhein-Ruhr-Express in Nordrhein-Westfalen und der Ausbau zum bayerischen Chemiedreieck von München nach Mühldorf können daher in den kommenden zehn Jahren nicht angegangen werden oder müssen zwischenzeitlich auf Eis gelegt werden. Aus einer anderen Studie geht hervor, daß "Stuttgart 21" nicht etwa wie versprochen ein Nadelöhr beseitigt, sondern im Gegenteil neue schafft und insbesondere den Ausbau des Güterschienenverkehrs behindert.

Laut einem 'stern'-Bericht geht aus einem geologischen Gutachten von 2003 des Ingenieurbüros Smoltczyk & Partner hervor, daß der Untergrund in Stuttgarts Mitte voller Hohlräume ist. Der Tübinger Geologe Jakob Sierich hat für das Magazin das Gutachten analysiert und kam zum Ergebnis: "Bei 'Stuttgart 21' geht es nicht um mögliche Risse in Häusern, es geht um mögliche Krater, in denen Häuser verschwinden können. Es geht um Menschenleben." Der Architekt Frei Otto, der ursprünglich am Entwurf für den unterirdischen Bahnhof beteiligt war und erst vor einem Jahr aus der Projektgruppe ausgestiegen ist, erklärte gegenüber dem 'stern', er befürchte, daß der Bahnhof überschwemmt werden oder "wie ein U-Boot aus dem Meer" aufsteigen könnte. Denn die Erde unter Stuttgart sei voller Wasser und Quellen sowie Gipsschichten mit hohem Anhydrid-Anteil. Anhydrid quillt stark auf, sobald es mit Wasser in Berührung gerät. Im Untergrund von Staufen sorgt eine Anhydrid-Schicht nach Erdwärme-Bohrungen seit Jahren für zunehmende Gebäudeschäden. Auch ein Unglück wie beim Kölner Stadtarchivs, das in Folge von U-Bahn-Arbeiten vollständig in einen Krater hinabgerissen wurde, ist angesichts des schwierigen Stuttgarter Untergrunds nicht auszuschließen. "Mit dem Wissen von heute kann ich dieses Projekt nicht mehr verantworten," sagte Frei Otto gegenüber dem 'stern'.

Die Projekt-Betreiber wiesen die Vorwürfe des Architekten als "Panikmache" zurück. "Die Äußerungen von Frei Otto sind fachlich nicht fundiert und entbehren einer soliden Grundlage," sagte Wolfgang Drexler, "S"PD-Politiker und "Stuttgart-21"-Sprecher. In Stuttgart seien schon in denselben geologischen Schichten Tunnel gebaut worden, und es sei nichts passiert. Drexler appellierte an die DemonstrantInnen, die Arbeiten nicht zu erschweren. Das Gemäuer soll nun stufenweise bis auf das Niveau der Kellerdecke "zurückgebaut" werden. Stuttgarts Oberbürgermeister Schuster erklärte, er gehe davon aus, daß sich die DemonstrantInnen auch künftig an "die demokratischen Spielregeln halten".

 

REGENBOGEN NACHRICHTEN

 

Anmerkungen

Siehe auch unsere Artikel:

      30.000 protestieren:
      "Stoppt Stuttgart 21" (21.08.10)

      Millionen-Schmiergeld für Stuttgart 21?
      'spiegel' berichtet über heimlichen Deal (16.08.10)

      21.000 bei Menschenkette
      gegen Stuttgart 21 (14.08.10)

      Studie des Umweltbundesamtes
      Stuttgart 21 provoziert Nadelöhr (12.08.10)

      Immer mehr Menschen protestieren
      16.000 gegen Stuttgart 21 (7.08.10)

      Wachsender Protest gegen "Stuttgart 21"
      Tausende legen Verkehr lahm (2.08.10)

      Protestival der Parkschützer
      Zehntausende gegen "Stuttgart 21" (10.07.10)

      'stern' veröffentlicht geheime Studie
      zu "Stuttgart 21" / Steilvorlage für GegnerInnen (8.07.10)

      Europäische Nachbarn bauen Eisenbahn aus
      In Deutschland wird das Schienennetz abgebaut (29.04.10)

      Verkehrssicherheit
      Bahn weit vor Konkurrenten (30.03.10)

      'Robin-Wood'-Aktion gegen "Stuttgart 21"
      "Stuttgart verscherzt es sich - Zug um Zug" (2.02.10)

      Investitionen in Schienenverkehr:
      BRD ist ganz hinten in der EU (21.01.10)

      Bahn-Privatisierung abgesetzt
      Weltwirtschaftskrise rettet Deutsche Bahn (4.03.09)

      Aus für Transrapid
      Erfolg für Umwelt und Klima (27.03.08)

      38.000 Unterschriften
      gegen Transrapid München (21.12.07)

      Stuttgart 21
      Unerwartet starke Beteiligung am Bürgerbegehren (14.11.07)

 

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