4.12.2009

AKW Biblis B widerrechtlich am Netz

Stempel an 200 Rohrteilen fehlen

Das ARD-Magazin 'Kontraste' berichtete am gestrigen Donnerstag, daß im hessischen AKW Biblis, Block B, an etwa 200 Rohrteilen im äußerst sensiblen Notkühlsystem sogenannte Stempelfelder fehlen. Ein in dem TV-Beitrag interviewter Fachmann sagte aus, daß der Betrieb des AKW Biblis B unter den gegebenen Bedingungen dem Atomgesetz widerspreche.

Bei den fraglichen Stempelfeldern handelt es sich um obligatorische Sicherheits-Kennzeichnungen, die Aufschluß über die Materialqualität und die Belastbarkeit der Rohrteile geben. Diese Kennzeichnungen sind vorgeschrieben, damit es nicht zur Verwechsung mit weniger stabilen Rohrteilen kommen kann. Offen ist daher, ob die eingebauten Teile im Extremfall den Belastungen standhalten. Bei einer Befragung durch 'Kontraste' sagte der Leiter des AKW Biblis wörtlich, eine genaue Dokumentation der mit Spezialhämmern ins Metall eingeschlagenen Stempel sei beim Bau von Biblis in den 1970er Jahren "nicht zwingend erforderlich" gewesen. Dies entspricht nach 'Kontraste'-Recherchen nicht der Wahrheit.

Weder der neue Bundesatomminister Norbert Röttgen noch die hessische Atomaufsicht beantworteten entsprechende Anfragen der 'Kontraste'-Redaktion. Von der Kraftwerksleitung und dem Betreiber RWE war zunächst lediglich die Information zu erhalten, die Stempelfelder könnten im Laufe der Jahre im Zuge der wiederholten Sicherheits-Überprüfungen abgeschliffen worden sein. Erst nach Befragung von Fachleuten konnte 'Kontraste' aufdecken, daß sich anstatt der vorgeschriebenen Ziffern-Kombinationen an den entsprechenden Stellen der Rohrstücke lediglich einzelne Ziffern befinden, die über die Position der Teile Auskunft geben. Einer der befragten Fachleute, der selbst mit der Sicherheitsüberprüfung im AKW Biblis vertraut ist, schloß definitiv aus, daß Abschleifungen an Original-Rohrteilen - wie von RWE behauptet - für die fehlenden Stempelfelder ursächlich sein können.

Ein weiterer Fachmann, dem die 'Kontraste'-Redaktion ihre Recherche-Ergebnisse vorlegte, kommentierte sichtlich erschüttert: "Das ist ein dicker Hund." Er bestätigte, daß Biblis B unter diesen Umständen nicht hochgefahren werden darf und ein Betrieb des Reaktors dem Atomgesetz widerspreche. Eine dauerhafte Stempelung jedes einzelnen Teilstücks sei laut Atomgesetz zwingend für eine Betriebserlaubnis vorgeschrieben. Bei einem Verschwinden von Stempelfeldern hätte dies dokumentiert werden und die entsprechenden Rohrteile hätten einer neuerlichen Genehmigung unterzogen werden müssen.

Biblis B, das im April 1976 erstmals ans Netz ging, wurde nach einer über 9 Monate dauernden Revision am 12. November wieder hochgefahren. Die zuletzt vorgenommenen Arbeiten am Reaktor kosteten laut RWE 142 Millionen Euro. Repariert wurden nach Betreiber-Angaben unter anderem Rohrleitungen und elektrotechnische Komponenten. Der Beginn des Regelbetriebs verzögerte sich wegen "notwendiger Nachbesserungen" bis zum 30. November.

Der Reaktor war zuletzt im Oktober in die Schlagzeilen geraten, nachdem ein Regierungsgutachten publik geworden war. Demnach hatten ReaktorsicherheitsexpertInnen der Bundesregierung mindestens 53 schwerwiegende Sicherheitsmängel im AKW Biblis B aufgelistet. Gegen den Betrieb von Biblis B läuft derzeit eine Klage vor dem Hessischen Verwaltungsgerichtshof. Ein Trumpf der KlägerInnen: In einem internen Vermerk hatte die hessische Landesregierung selbst eingeräumt, daß Biblis B nicht dem Stand von Wissenschaft und Technik entspreche.

Am 16. Dezember 1987 war es im AKW Biblis A zu einem schweren Unfall gekommen, der vom Betreiber RWE neun Monate geheimgehalten wurde. Ein offenstehendes Ventil hätte beinahe eine Kernschmelze ausgelöst, da eine unvorhergesehen Verbindung zwischen Hoch- und Niederdrucksystem zustande gekommen war. Dadurch bestand die Gefahr, daß eine vom Nachkühlsystem abzweigende Prüfleitung aufgrund des hohen Drucks aufplatzt und das den Reaktor vor Überhitzung schützende Kühlwasser in größeren Mengen entweicht. Der damalige hessische Umweltminister Karlheinz Weimar erklärte später in einer Regierungserklärung, der Störfall hätte mit "höherer Wahrscheinlichkeit" zur Katastrophe führen können. Doch die Atom-Aufseher benötigten ganze neun Monate, "bis sie wenigstens intern zugaben, daß die dichtbesiedelte Rhein-Main-Region gerade nochmal davongekommen war." (Der Spiegel, Hamburg, Nr. 51, S. 27,28, 19.12.1988)

1995 waren bei einem Leck in Biblis B infolge eines nahezu vollständig abgerissenen Rohres stündlich rund vier Tonnen radioaktiver Wasserdampf ausgetreten. Das betreffende Rohr hatte nicht die Festigkeitswerte aufgewiesen, die vorgeschrieben waren. Die von RWE vorgelegten Prüfzeugnisse hatten aber die geforderte Qualität bescheinigt. Das Rohr bestand aus dem gleichen Stahl, aus dem auch die nun gefundenen Rohteile bestehen, an denen die Stempelfelder fehlen.

Am 14. Dezember 2001 hatte im AKW Brunsbüttel eine Wasserstoff-Explosion eine Rohrleitung im Sicherheitsdruckbehälter des Reaktors auf eine Länge von zwei Metern völlig zerfetzt. Der "Störfall" wurde erst im Februar 2002 bekannt. Das Kontroll-Personal hatte zunächst als harmlosteste mögliche Ursache eine schadhafte Dichtung angenommen. Die erst drei Monate später (nach winterlichen Spitzenlasten im Stromgeschäft) informierte Bundesaufsicht ordnete die sofortige Abschaltung an.

Eine Katastrophe im AKW Biblis würde unter den 3,4 Millionen Menschen der Großregion Rhein-Main über eine Million Krebskranke verursachen, ein Gebiet von der Größe der Schweiz für Jahrzehnte unbewohnbar machen und als Untergrenze mindestens 500 Milliarden Euro kosten.

 

REGENBOGEN NACHRICHTEN

 

Anmerkungen

Siehe auch unsere Artikel zum Thema:

      AKW Biblis Block B wird erneut hochgefahren
      Weiter äußerst gefährlich (13.11.09)

      Blackout in Brasilien
      "Das sicherste Stromnetz der Welt" und die Atombombe (11.11.09)

      August 2009: "Panne" im AKW Beznau
      Zwei Angestellte verstrahlt - bis heute verharmlost (9.11.09)

      Anti-AKW-Demo in Italien
      "Es bleibt beim Atom-Ausstieg!" (4.11.09)

      Streit um die neue Atomkraftwerks-Linie EPR
      Sicherheitsbehörden kritisieren elektronisches Steuerungs-System
      (3.11.09)

      AKW Fessenheim undicht
      13.000 Liter Diesel-Öl versickerten im Boden (29.10.09)

      Atommüll-Lager Morsleben
      Chance zur Stilllegung per Öffentlichkeitsbeteiligung (23.10.09)

      Unverantwortlicher Umgang
      mit dem hochgiftigen Bombenstoff Plutonium (15.10.09)

      Regierungsgutachter: AKW Biblis B
      mit schwerwiegenden Sicherheitsmängeln (11.10.09)

      "Versuchs-Endlager" Asse II:
      Decke eingestürzt (9.10.09)

      EU: Siemens an Kartell beteiligt
      Straffreiheit wegen Kooperation (7.10.09)

      BUND fordert Bau-Stop am AKW Mochovce
      Slowakei baut Uralt-Reaktoren sowjetischer Bauart (6.10.09)

      Demo gegen Atomkraft mit 10.000 TeilnehmerInnen in Colmar
      Massive Behinderungen durch Polizei (4.10.09)

      "Versuchs-Endlager" Asse II:
      Rückholung des Atommülls laut Bundesamt möglich (2.10.09)

      Endlagerpläne in Schweden hinfällig
      Auch Kupfer hält nicht dicht (30.09.09)

      Verstärkter Laugeneinbruch
      im "Versuchs-Endlager" Asse II (18.09.09)

      Karlsruhe: "Atomsuppe" wird verglast
      Verbleib nach wie vor ungeklärt (17.09.09)

      Gorleben: Regierung Kohl setzte 1983
      Gutachter unter Druck (9.09.09)

      Drei Generationen Anti-AKW-Bewegung
      55.000 in Berlin: "Mal richtig abschalten!" (6.09.09)

      Ende des finnischen AKW-Neubaus Olkiluoto?
      Areva droht mit Baustop (1.09.09)

      Skandal-Serie Asse II: Noch mehr Plutonium
      im "Versuchs-Endlager" (29.08.09)

      Sargnagel für Endlager Gorleben
      Verträge laufen 2015 aus (22.08.09)

      AKW Krümmel:
      Trauernicht drückte im Juni beide Augen zu (17.08.09)

      Welcher Geist spukt durch die 'Zeit'?
      'Zeit'-Herausgeber Josef Joffe produziert geistlose Atomkraft-PR
      (11.08.09)

      AKW Krümmel sorgt für Zulauf bei Öko-Strom
      Dem Vattenfall-Konzern laufen die KundInnen weg (31.07.09)

      6 Atomkraftwerke vom Netz
      Gehen nun in Deutschland die Lichter aus? (24.07.09)

      Skandal-Serie Asse II:
      Hochradioaktiver Müll im "Versuchs-Endlager"?
      MONITOR veröffentlicht Siemens-Unterlagen (24.07.09)

      Drohen längere Laufzeiten
      der Atomkraftwerke nach der Bundestagswahl? (18.07.09)

      Karlsruher "Atomsuppe"
      Verglasung weiter verzögert (17.07.09)

      Skandal-Serie Asse II:
      Erneuter Fund radioaktiver Lauge (15.07.09)

      Hiroshima, Nagasaki und die Atomkraft
      Vortrag von Prof. Dr. Inge Schmitz-Feuerhake (8.07.09)

      AKW Krümmel: Brennelement defekt
      Zusammenhang mit Reaktor-Tuning (6.07.09)

      AKW Krümmel: "Blackbox" war abgeschaltet
      Die Atom-Mafia interessiert sich nicht für behördliche Auflagen
      (5.07.09)

      AKW Krümmel: Zweiter Startversuch gescheitert
      (4.07.09)

      AKW-Laufzeitverlängerung in Spanien
      "Sozialistischer" Regierungs-Chef Zapatero
      bricht Wahl-Versprechen (3.07.09)

      AKW Krümmel vom Netz
      Methode "try and error" (1.07.09)

      Der Rhein wird aufgeheizt
      AKW Fessenheim mit maßgeblichem Beitrag (30.06.09)

      Skandal-Serie Asse II:
      Nun auch noch Sprengstoff (26.06.09)

      AKW Krümmel heute wieder am Netz
      Trauernicht und Gabriel schweigsam (24.06.09)

      Terrorziel Atomkraftwerk
      TV-Magazin 'Frontal21' veröffentlicht Geheimbericht (17.06.09)

      Asse II: Strom-Konzerne drückten
      die Sicherheits-Standards (3.06.09)

      Patt bei Atomenergie in der Schweiz
      Hauptstadt Bern will auf erneuerbarre Energien umsteigen
      (29.05.09)

      Illegaler Ausbau unter Gorleben
      1,5 Milliarden Euro bereits für Ausbau als "Endlager" investiert
      (28.05.09)

      "Panne" in brasilianischem AKW
      6 MitarbeiterInnen verstrahlt (27.05.09)

      Asse II: Mehr radioaktiver Müll als vermutet
      Greenpeace findet Hinweise auf zu niedrige Angaben
      in den Inventar-Listen (7.05.09)

      Erdbeben der Stärke 4,5 bei Steinen
      AKW Fessenheim nach wie vor unsicher (5.05.09)

      Asse II: Einsturzgefahr in Kammer 7 akut
      (29.04.09)

      Uran-Transport von "Eichhörnchen" gestoppt
      Bedeutung der UAA Gronau ins Blickfeld gerückt (29.04.09)

      Asse II diente auch der Bundeswehr als Atomklo
      Endlager-Skandal nimmt immer neue Dimensionen an (24.04.09)

      EURATOM,
      Milliarden-Subventionen und die Bombe (22.04.09)

      Asse II: Auch Fässer mit Pestiziden,
      Arsen und Blei im "Versuchs-Endlager" Asse II (15.04.09)

      Nach dem Wahljahr 2009:
      Im Jahr 2010 drei CASTOR-Transporte? (15.04.09)

      IAEA: AKW Fessenheim
      entspricht nicht internationalen Standards (8.04.09)

      Greenpeace in Frankreich bespitzelt
      Kam der Auftrag von EdF? (1.04.09)

      28. März 1979
      Der Atom-Unfall von Harrisburg (28.03.09)

      US-Regierung gibt atomare Endlager-Pläne auf
      Yucca Mountain ungeeignet (9.03.09)

      AKW Fessenheim undicht
      Reaktor seit Samstag abgeschaltet (6.03.09)

      "Black Box" für Atomkraftwerke?
      Audioüberwachung für AKW Krümmel angeordnet (25.02.09)

      Ankündigung:
      Karlsruher "Atomsuppe" soll ab Juli verglast werden (25.02.09)

      Versuchslager Asse II
      Wer hat den radioaktiven Müll produziert? (23.02.09)

      Nachtrag zum Gorleben-CASTOR:
      Amt mußte Strahlenmeßgeräte leihen (17.02.09)

      Das Atomkraftwerks-Projekt THTR
      ist auch in Südafrika gescheitert
      Wie in Deutschland: ein Milliardengrab (14.02.09)

      AKW Krümmel und AKW Brunsbüttel seit 20 Monaten außer Betrieb
      Was steckt dahinter? (13.02.09)

      Radioaktiv kontaminierter Stahl
      und eine "rot-grüne" Erblast (10.02.09)

      Lauge aus Atommüll-Lager Asse erneut nach 'Mariaglück'
      Dringend nötige Rückholung weiter verzögert (7.02.09)

      Schwedische Regierung wünscht neue Atomkraftwerke
      Kommt nun doch die "Renaissance der Atomenergie"? (5.02.09)

      Weltwirtschaftskrise trifft Energie-Konzerne
      Keine Investitionen für AKW-Neubauten (4.02.09)

      Kein Atommüll-Zwischenlager in Hanau
      Kommunales Verbot von Gericht bestätigt (3.02.09)

      Siemens steigt bei Areva aus
      Ist das Atomkraftwerk-Modell EPR am Ende? (27.01.09)

      Bulgarisches AKW Kosloduj
      soll wieder ans Netz (23.01.09)

      Slowakei verzichtet auf Wiederinbetriebnahme
      des AKW Bohunice (22.01.09)

      AKW Biblis B mit Leckage
      Seit 10. Januar tritt vermehrt Radioaktivität aus (16.01.09)

      Einsturzgefahr im Atommüll-Lager Asse
      Seit Dezember nicht veröffentlicht (15.01.09)

      Stillgelegtes slowakisches AKW Bohunice
      soll wieder in Betrieb genommen werden
      Gas-Streit dient als Vorwand (11.01.09)

      Renaissance der Atomenergie?
      Wo in aller Welt? (7.01.09)

      Atom-Ausstieg selber machen!

      Der deutsche "Atom-Ausstieg"
      Folge 2 der Info-Serie Atomenergie

 

neuronales Netzwerk